„Die Solidarität mit der Ukraine wird zurückgehen“
Christian Wehrschütz hat nicht ein, sondern vier Smartphones eingesteckt. Eines davon klingelt ausschließlich dann, wenn der ORF anruft. Seit dem 24. Februar, dem Beginn von Russlands Angriffskrieg, gehören die Live-Analysen des 60-Jährigen für viele zur Morgenroutine dazu. Das ganze Land kennt die Stimme und das Gesicht des Steirers, der fließend Russisch und Ukrainisch spricht.
Zu den Waffenlieferungen des Westens sagt der ORF Reporter: „Das, was der Westen in einer Woche liefert, verbraucht die Ukraine an einem Tag.“ Für Journalisten sei es zunehmend schwieriger, nachzuvollziehen, was sich in den von Russland eroberten Dörfern abspiele. „In vielen dieser Dörfer sind wirklich nur mehr die Alten geblieben. Sie sitzen im Luftschutzkeller oder in ihrem Keller im Haus und warten, bis das Schlimmste vorbei ist“, so Wehrschütz.
Was passiert mit den eroberten Gebieten? Der ehemalige US-Außenminister Kissinger schlug auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vor, die Ukraine solle territoriale Zugeständnisse an Russland machen, um den Krieg zu beenden. Präsident Wolodymyr Selenskyj zeigte sich empört und wies den Vorschlag vehement zurück. Wehrschütz sieht das pragmatischer. Für die Ukraine können es „keine Perspektive für einen ehrenvollen Frieden“ geben, meint er. Die ukrainische Führung habe ihre Bevölkerung bisher nicht darauf vorbereitet, dass es schmerzliche Kompromisse geben werde.
Wehrschütz selbst bezeichnet den Krieg als „den größten Konflikt seit der Kubakrise.“ Es gehe hier längst nicht mehr nur um das Territorium der Ukraine, sondern um einen geopolitischen Konflikt zwischen dem Westen und Russland. Dennoch befürchtet Wehrschütz, dass die Solidarität im Westen zurückgehen werde. Der Krieg koste Milliarden, und die Bereitschaft, ihn mitzufinanzieren, werde geringer. Dazu kommen steigende Lebensmittelpreise und erhöhte Gasrechnungen. Jetzt nütze Putin auch noch den Hunger als Waffe. Zwar seien die Getreidespeicher der Ukraine voll, aber Russland blockiere die Exportrouten, darunter die Häfen am Schwarzen Meer. Wehrschütz erzählt von ukrainischen Landwirten, die nicht wüssten, wie sie ihre Ernte außer Landes bringen sollen. In der Ukraine selbst drohe keine Hungersnot, wohl aber in anderen Teilen der Welt, darunter in afrikanischen Staaten. Das Druckmittel sollte aber nicht von den eigentlichen Kriegszielen ablenken. „Es geht darum, die Existenz der Ukraine als Staat zu sichern“, so Wehrschütz.