Die Vjosa: Wie einer der letzen großen Wildflüsse Europas gerettet wurde
Es ist keine Übertreibung, zu sagen, dass in dem kleinen Dörfchen Brataj im Südwesten Albaniens nichts, aber auch gar nichts los ist. Doch das wird sich sehr bald ändern, davon ist Qemal Malaj, seit 20 Jahren der Bürgermeister, überzeugt. Er hat mitangesehen, wie die Jungen allesamt abwanderten, um anderswo Arbeit zu finden, sodass heute nur noch etwa hundert Familien da sind, die als Hirten und Landwirte arbeiten. „Wenn es den Nationalpark einmal gibt, werden sie zurückkommen“, ist Malaj überzeugt.
Vor rund zehn Jahren bahnte sich ein Ereignis an, das Brataj für immer verändern könnte – bloß konnte niemand vorhersagen, wie es ausgehen würde. Rund um das Dorf von Bürgermeister Malaj entbrannte ein Kampf, der weit über die Grenzen Albaniens Schlagzeilen machte. Im Zentrum des Konflikts stand der Fluss, der sich seit jeher unweit von Brataj der Adria entgegenschlängelt: die Vjosa. Die Wasserkraftindustrie wurde auf das ungenutzte Potenzial des Flusses aufmerksam. Albanien ist eines der ärmsten Länder in Europa, geplagt von Stromausfällen und fehlenden Auslandsinvestitionen. Was spricht dagegen, saubere Energie aus Flüssen zu gewinnen, einer Ressource, von der es im gebirgigen Land genug gibt? Zumal in Zeiten des Klimawandels?
Diese Fragen allein macht diese Geschichte noch nicht besonders. Proteste gegen umstrittene Wasserkraftwerke gibt auch anderorts in Europa – an der Save in Slowenien, an der Mur in Österreich oder am Triftgletscher in der Schweiz. Auf dem Balkan, wo Tausende Kraftwerke in Planung sind, haben aufgebrachte Dorfbewohner Unternehmer mit Steinen beworfen und tagelang Bäche besetzt, bis die Polizei aufmarschiert ist.
Was also macht einen von Verbauung bedrohten Fluss in Albanien so einzigartig? Die Vjosa ist einer der letzten großen Wildflüsse, die es auf dem europäischen Kontinent noch gibt. Sie wurde nie begradigt oder verbaut und blieb ein ungeheuer schönes Stück Natur, was ihr einen entsprechenden Beinamen einbrachte: die Königin der Flüsse.
Zehn Jahre tobte der Kampf zwischen Naturschützern und Projektbetreibern. Ersteren gelang es, den Fluss zum Politikum und zu einer globalen Marke zu machen. Sie waren so erfolgreich, dass sich der US-Schauspieler Leonardo DiCaprio zu dem Thema äußerte und das weltweit agierende Outdoor-Bekleidungsunternehmen Patagonia mit Sitz in Kalifornien auf die Kampagne aufsprang. Patagonia ließ sich von der Vjosa sogar zu einer neuen Farbe in ihrer Produktpalette inspirieren: Balkan Blue.
Am Ende knickte die sozialistische Regierung von Albaniens Premierminister Edi Rama tatsächlich ein. Aus der Vjosa soll der erste Wildfluss-Nationalpark in Europa werden, ein 500 Kilometer langes Adernetz an Bächen und Zuflüssen, deren Hauptstamm die Vjosa bildet.
Die Geschichte, wie es dazu kam, geht weit über die Grenzen Albaniens hinaus. Sie erzählt vom Erwachen der Zivilgesellschaft in einer jungen Demokratie, wo drei Jahrzehnte zuvor noch eine Diktatur herrschte. Und sie erzählt von einem Dilemma: Belassen wir unberührte Natur wie sie ist, oder nutzen wir sie zur Stromgewinnung? Zu guter Letzt erzählt die Geschichte der Vjosa auch etwas über den EU-Green-Deal von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Der sieht unter anderem vor, bis 2030 mindestens 25.000 Kilometer Flusslandschaft zu renaturieren. Anderorts in Europa gibt man Millionen dafür aus, die Flüsse wieder zu dem zu machen, was sie einmal waren: ungezähmt, artenreich und lebendig. In Albanien braucht es all das gar nicht.
Menschen aller Art haben sich dem Schutz um die Vjosa angeschlossen. Ryan Gellert, zum Beispiel, CEO von Patagonia, der in den Gesprächen mit der albanischen Regierung angeblich das Zünglein an der Waage gewesen sein soll; Friedrich Schiemer, ein pensionierter Ökologie-Professor aus Wien, nach dem an der Vjosa ein Forschungszentrum benannt wurde; Besjana Guri, eine der lautstärksten Aktivistinnen in Albanien; und schließlich Ulrich Eichelmann, ein deutscher Naturschützer, der eine Organisation namens „River Watch“ gegründet hat. Eichelmann spricht über Flüsse, als wären sie Menschen. Sie entspringen an der Quelle als Kind, sagt er, wild und ausgelassen und altern im Laufe ihres Verlaufes, indem sie gemächlich zu mäandern beginnen. All die Jahre hat Eichelmann eine radikale Idee in Albanien salonfähig gemacht, nämlich die Vorstellung, dass ein einziges Kraftwerk den Tod der Vjosa bedeuten würden.
Wie hat er das geschafft? Es ist Montagmorgen in Tirana, und Eichelmann hat sich zur Feier des Tages ein schwarzes Hemd angezogen. Palmen wachsen im Garten seines Hotels, ein kleiner Springbrunnen plätschert vor sich hin. Flüsse zu retten, ist Ulrich Eichelmanns Beruf, und das seit 40 Jahren schon. Der 60-Jährige hat in seinem Leben schon viele Gewässer gesehen: Den Rio Xingu in Brasilien, den Tigris im Grenzgebiet zwischen der Türkei und dem Irak, die Hainburger Au östlich von Wien. Keiner habe ihn so fasziniert wie die Vjosa. „Das, was heute in Tirana passiert, ist einzigartig“, sagt Eichelmann. Dann steht er auf und geht von seinem Hotel den dicht befahrenen Boulevard hinunter, über eine Brücke, unter der ein stinkendes, braunes Rinnsal eines Flusses hindurchfließt. Die Lana von Tirana ist der Schandfleck der Stadt, kein Fluss mehr, sondern ein brauner Abwasserkanal. Unweit davon liegt das sandsteinfarbene Büro von Premier Edi Rama, gegen den Eichelmann all die Jahre protestiert hat. Jetzt ist es umgekehrt: Rama will mit Eichelmann in einem Boot sitzen. Nicht wenige in Albanien glauben, dass das am Ende einen Haken haben wird.
Zum ersten Mal gesehen hat Eichelmann die Vjosa 2008 auf einem Foto. Vier Jahre später reist er selbst hin. „Damals war ich überrascht, dass es so etwas in dieser Dimension überhaupt noch gibt“, sagt er. Er hört von den über 40 Kraftwerken, die an der Vjosa und ihren Seitenarmen geplant sind und lernt Menschen kennen, die bereit waren, vor Gericht zu ziehen, um das zu verhindern.
Eine davon ist Besjana Guri, 34, eine studierte Sozialarbeiterin, die nahe der Grenze zum Kosovo aufgewachsen ist, in einer der abgelegensten Gebirgsregionen Albaniens. Mittlerweile verbringt sie die Hälfte des Jahres im Süden. „Ich habe mich in die Vjosa verliebt, und ich denke, dass sie ein großes Potenzial für mein Land birgt“, sagt sie.
Heute, an einem Sonntag, ist Guri in das Dorf von Qemal Malaj gekommen, begleitet von zwei Kameramännern, die ihr auf Schritt und Tritt folgen. Gerade steht sie auf einer osmanischen Steinbrücke aus dem 16. Jahrhundert und blickt auf das Wasser hinunter, eine Drohne schwirrt über ihren Kopf. Anhand der Vjosa lässt sich auch beobachten, wie Graswurzelbewegungen kommerzialisiert werden. Der Sponsor Patagonia hat viel Geld in seine Balkankampagne gesteckt. Seine Werbefilme über die bedrohten Flüsse gleichen einer aufwendig produzierten Netflix-Doku. Ein Dorf, das im Stausee eines Kraftwerkes untergegangen wäre, hat Patagonia mit Solarzellen ausgestattet. Das Potenzial dafür gibt es: Albanien zählt 300 Sonnentage im Jahr. „Es ist überhaupt nicht klug, dieses Potenzial nicht zu nutzen“, sagt Guri, „und sich vollends von der Wasserkraft abhängig zu machen.“
Albanien bezieht über 95 Prozent seines Stroms aus Wasserkraft, mehr als skandinavische Länder, die Spitzenreiter der erneuerbaren Energie. Es mag wie ein Paradoxon klingen, aber: Besonders nachhaltig ist das nicht. Davor zumindest warnen Experten. Einer davon ist Martin Pusch vom deutschen Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei. Pusch sagt: „Wenn es zu Klimaschwankungen kommt, ist die Wasserkraft nicht sonderlich verlässlich.“ Gerade im Mittelmeerraum, wo viele Klimaanlagen laufen, komme es aufgrund der Erderwärmung immer häufiger zu trockenen Sommern. „Es ist deswegen empfehlenswert, die Stromversorgung zu diversifizieren“, so Pusch, „denn gerade Photovoltaikanlagen produzieren dann am meisten, wenn die Sonne scheint.“
Vor diesem Hintergrund fragten sich in Albanien viele, warum die Regierung immer weiter neue Kraftwerke zulassen will, zumal die Vjosa als letzter Wildfluss Europas den Tourismus im Land ankurbeln könnte. „Wer möchte schon hierher reisen, um einen Stausee zu sehen?“, fragt Guri.
Das allein reichte aber nicht aus, die albanische Regierung zu überzeugen. Edi Rama witzelte, dass er sein Land ganz sicher nicht in einen Zoo verwandeln werde. Im Dezember 2016 zog Besjana Guri gegen eines der Kraftwerksprojekte vor Gericht. Ihrer Organisation „Eco Albania“ wurde wenige Monate später recht gegeben. Das Unternehmen, ein albanisch-türkisches Baukonsortium, legte Berufung ein. Doch noch während der Rechtsstreit tobte, vergab die Regierung von Edi Rama eine weitere Lizenz.
Die Lage wirkte aussichtslos, bis sich der österreichische Gewässerökologe Fritz Schiemer einschaltete, ein emeritierter Professor der Universität Wien. Wissenschafter wie er bezeichnen die Vjosa als Labor, an dem sich untersuchen lässt, was anderen Flüssen auf der Welt verloren gegangen ist. Schiemer reiste, unter anderem begleitet von Forschern der Universität für Bodenkultur in Wien (Boku), an die Vjosa, entdeckte neue Pflanzen und Tierarten und untersuchte die Sedimente, die von der Vjosa tonnenweise flussabwärts in Richtung Meer geschoben werden. Die Menge entspricht der Ladung von 250.000 LKWs pro Jahr. Es sind diese Millionen kleiner Steinchen, die die Regierung schlussendlich zum Umdenken brachten.
Im Mai 2019 veröffentlichte die Boku eine Studie, die sich mit einem Satz zusammenfassen lässt: In 20 Jahren könnten die Kraftwerke an der Vjosa nur noch etwa 40 Prozent ihrer anfänglichen Kapazität nutzen. Viel Geld müsste in das Ausbuddeln des Stausees investiert werden.
Langsam begann sich das Blatt für die Naturschützer zu drehen. Im September 2020 lehnte das Umweltministerium die Umweltverträglichkeitsprüfung eines Kraftwerk-Investors ab. Ein Novum in Albanien: In den Jahren zuvor hatte man bei Umweltauflagen nicht immer genau hingesehen. Staatsanwälte und Richter gelten als bestechlich.
Vergangenen Montag, im zweiten Stock der Oper von Tirana. Heute ist der Tag, auf den Menschen wie Ulrich Eichelmann und Besjana Guri jahrelang hingearbeitet haben. Aber nicht sie stehen auf der Bühne, sondern Ryan Gellert, der CEO von Patagonia. Der Mann, der jetzt für die Aktivisten spricht, führt einen Konzern, der zuletzt eine Milliarde Umsatz gemacht hat. Mit Rucksäcken, Schirmkappen und Softshelljacken. Jetzt steht er neben dem zwei Meter großen Edi Rama auf der Bühne, Kameras blitzen, die Botschafter aus europäischen Ländern sitzen in der ersten Reihe und klatschen.
„Wir haben zehn Jahre in einem Konflikt gelebt“, sagt Ulrich Eichelmann, „und auf einmal müssen wir kooperieren. Dazu gehört Vertrauen, und das muss sich erst entwickeln.“
Das Memorandum ist ein fragiler Sieg, denn es ist zunächst nur eine Absichtserklärung und kein Gesetz. Eine internationale Arbeitsgruppe, teilweise querfinanziert von Patagonia, soll jetzt ein Konzept für den Nationalpark erarbeiten. Besonders heikel dürfte die Frage der Zonierung des Schutzgebietes werden. Sie betrifft am Ende auch das Dorf von Qemal Malaj, dem Bürgermeister von Brataj, der so sehr auf den Nationalpark hofft. „Wir wollen, dass nicht nur die Vjosa, sondern auch ihre Zuflüsse geschützt werden“, sagt er.
Wird sein Dorf am Ende miteingebunden sein? Und wenn ja: Kann sich der Traum vom boomenden Tourismus erfüllen? In den Tälern um die Vjosa hat sich eine Art Goldgräberstimmung ausgebreitet, befeuert durch die Hoffnungen, die durch die Kampagne der Naturschützer geschürt wurde. Doch um nachhaltigen Tourismus für alle zu machen, braucht es am Ende mehr als nur einen frei fließenden Fluss: eine entsprechende Infrastruktur, geschulte Ranger und strenge Auflagen, um einen unkontrollierten Bauboom zu verhindern.
Ein neuer Konflikt braut sich zusammen. Am Mündungsdelta der Vjosa, unweit der Hafenstadt Vlora, will die albanische Regierung einen Flughafen bauen, mitten in ein Vogelhabitat mit Flamingos. Um mehr Touristen an die Vjosa zu bringen. Hinter der Geschichte: Die Busfahrt von Tirana an die Vjosa wurde von Patagonia organisiert.