Dokumentarfilm "Nawalny": Ein Bluff und seine Folgen
Die Schlüsselszene in der Doku "Nawalny" kommt für alle überraschend: Für Alexej Nawalny, der einen Giftanschlag durch den russischen Inlandsgeheimdienst FSB überlebt hatte; für dessen Ehefrau Julija; für Filmemacher David Roher, den Investigativjournalisten Christo Grozev und die enge Vertraute Nawalnys Marija Pewtschich. Sie alle sitzen Ende 2020 gemeinsam in einem Raum, als Nawalny nacheinander jene Männer anruft, die im Sommer zuvor versucht hatten, ihn zu töten. Die ersten paar legen auf. Doch dann ändert Nawalny seine Taktik und gibt sich als Assistent des Chefs des russischen Sicherheitsrats aus.
Der Bluff funktioniert. Der Chemiker Konstantin Kudrjawzew, der im Dienst des FSB steht, packt gegenüber seinem Opfer aus, ohne es zu ahnen. Nawalny gibt vor, einen Bericht darüber zu schreiben, was beim Anschlag im Sommer schiefgelaufen ist. Ganze 52 Minuten lang schildert Kudrjawzew, wie er und seine Kollegen vorgegangen sind. Wie sie eine tödliche Dosis des Nervenkampfstoffs Nowitschok auf der Unterhose Nawalnys platzierten. Wie sie danach die Spuren verwischten. Wie es sein kann, dass er dennoch überlebt hat. Kudrjawzew bestätigt sogar die Namen zweier FSB-Agenten, die laut Handydaten in der Nacht des Anschlags vor Ort gewesen sind. Der Anruf hat die Lügen Wladimir Putins, der stets behauptet hat, nichts damit zu tun zu haben, bloßgestellt.
"Das Telefonat war wie ein Lottogewinn", sagt Christo Grozev. "Ohne diesen Anruf wäre der Film zwar genauso relevant, aber er liefert den endgültigen Beweis, der in Russland viele Menschen überzeugt hat, die das alles zuvor nicht glauben wollten."
Es war Grozev vom Investigativnetzwerk "Bellingcat", der die Hintermänner des Attentats auf Nawalny ausgeforscht hat. Auf dem russischen Schwarzmarkt hat er Telefon - und Flugdaten gekauft und so acht FSB-Männer gefunden, die die Tat geplant und durchgeführt hatten. Anhand von Passagierlisten russischer Inlandsflüge konnte Grozev belegen, dass Nawalny seit Anfang 2017 von FSB-Agenten verfolgt wurde.
Man kann sich ausmalen, wie groß der Zorn im Kreml gewesen sein muss, als internationale Medien über den Telefonstreich berichteten. Nach dem Gespräch mit Kudrjawzew sind alle im Raum überzeugt: Dafür bringen sie ihn um. Das ist der makabre Aspekt des "Lottogewinns": Von Kudrjawzew fehlt seither jede Spur.
"Auf einem abstrakten Level sollte ich mich nicht schuldig fühlen", sagt Grozev, "doch auf der Gefühlsebene fühle ich mich sehr schuldig."
Grozev hat etliche Leute, die ihm-meist unbewusst, durch den Verkauf von Daten - bei der Recherche geholfen haben, bei der Flucht aus Russland unterstützt. Bei Kudrjawzew hat das nicht funktioniert. Er war bereits kurz nach dem Telefonat nicht mehr erreichbar.
"Nawalny" ist der richtige Film zum richtigen Zeitpunkt. Auch Grozev sieht Parallelen zwischen der Vergiftung Nawalnys und dem Angriff auf die Ukraine. "Putin ist ein Psychopath, der kein Nein akzeptiert", sagt er. "Er muss diesen Krieg verlieren. Er wird sonst nicht aufhören."
"Nawalny", Daniel Roher, USA 2022, 98 Minuten, OmU; Premiere am 3. Mai um 20 Uhr im Filmcasino