Mit der gezielten Tötung eines Hamas-Führers und eines Hisbollah-Kommandanten ist die Lage in Nahost diese Woche weiter eskaliert. Droht ein Krieg zwischen Iran und Israel?
Rabinovici
Der Krieg zwischen Israel und dem Iran findet längst schon statt. Der Beschuss auf Israel durch die vom Iran unterstützte Hisbollah brach am 8. Oktober aus. Das ist für Israel verheerend, der Süden und der Norden des Landes sind Kriegsgebiet, Zigtausende Israelis wurden evakuiert. Das wird hier kaum wahrgenommen. Doch jetzt droht eine noch schlimmere Eskalation. Der Iran verübt keine gezielten Einzelschläge, sondern feuerte in einer Aprilnacht Hunderte Raketen auf Israel. Das Regime in Teheran wettert seit Jahrzehnten gegen die Existenz Israels. Immer wieder wird beschönigt, das sei ja nur Propaganda. Aber die jüdische Erfahrung besagt, dass mit Propaganda beginnt, was zur Vernichtung werden kann. Bei den beiden Anführern, die nun getötet wurden, traf es keine Unschuldigen. Ich trauere nicht um sie. Aber meine Sorgen sind jetzt bei den Geiseln in Gaza. Ich hoffe immer noch auf einen Deal und auf ein Ende der Kämpfe.
Die Hisbollah feuert zwar schon lange Raketen auf Israel, doch sollte sich der Iran nun direkt einbringen, ist das doch etwas anderes?
Rabinovici
Als ich recht früh in diesem Krieg darauf hinwies, dass dies auch der erste israelisch-iranische Krieg ist und in gewisser Weise ein iranisch-westlicher Konflikt, stieß ich auf völliges Unverständnis in meinem politischen Umfeld. Dabei war das seit dem Beschuss durch die Huthis aus dem Jemen und die Hisbollah, beides „Proxies“ (Stellvertreter, Anm.) des Iran, offenkundig. Nun ist eine weitere Eskalation durch die Islamisten zu befürchten. Das wäre schrecklich. Nicht nur für Israel, sondern auch für viele Unschuldige in Gaza, im Libanon, vielleicht sogar im Iran.
In den Verhandlungen zwischen der Hamas und Israel über einen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln spielte Hamas-Anführer Haniyeh eine Schlüsselrolle. Was bedeutet sein Tod für das Schicksal jener Israelis, die sich noch in der Gewalt der Hamas befinden?
Rabinovici
Das ist die Frage. Aber wenn die Hamas sich etwas vom Deal verspricht, ändern sich ihre Interessen nicht durch Haniyehs Tod. Er war einbezogen in die Vorbereitungen des 7. Oktober – deshalb wurde er zum Ziel. Aber die Erfahrung lehrt: Jeder getötete Terrorchef kann schnell ersetzt werden.
Könnte es umgekehrt durch diesen Erfolg Israels für die Regierung leichter werden, einem Deal zuzustimmen?
Rabinovici
Ja, aber in Israel zweifeln immer mehr Menschen an dem Willen der Regierung zu einem Deal. Viele hegen den Verdacht, es gehe Israels Premier Benjamin Netanyahu nur um seinen innenpolitischen Erfolg. Anfangs waren die Kriegsziele klar: die Geiseln befreien, die Hamas entmachten. Dafür braucht es militärische Stärke und ein politisches Angebot. Ohne Abstimmung mit gemäßigten Kräften im arabischen Raum kann keine Sicherheit für Israel und Gaza erreicht werden.
Was bedeuten die Militärschläge im Libanon und im Iran für Israels Premier Benjamin Netanjahu, der an Zustimmung verloren hat?
Rabinovici
Seine Beliebtheitswerte sind in den vergangenen Monaten wieder etwas gestiegen. Es ist klar, dass Israel nach dem 7. Oktober reagieren musste. Vor dem 7. Oktober spaltete der Coup d’Etat der Regierung gegen den Rechtsstaat die israelische und weltweite jüdische Gemeinschaft. Der 7. Oktober erinnerte viele Israelis unweigerlich an die jüdische Verfolgungsgeschichte. Israel, das immer stark und unverletzlich wirkte, sah sich plötzlich als jüdisches Opfer. Das war auch die Absicht dieser Dschihadisten. Die Hamas wollte die Bilder der Shoa und der Pogrome evozieren. Es ging nicht um die Besatzung. Es war eine genozidal antijüdische Botschaft an zwei Gruppen: an alle Juden und an alle Dschihadisten weltweit. Und beide Gruppen haben das sogleich verstanden.
Was hat das mit den Menschen in Israel und mit der Diaspora gemacht?
Rabinovici
Während Israel sich gleichsam jüdischer denn je erlebte, wurde die Diaspora israelischer denn je, denn wenn in Israel geschossen wird, trifft es jüdische Gemeinschaften überall: ob ein jüdischer Kindergarten in Kanada beschossen, ein Jude in Zürich niedergestochen oder ein Shoa-Mahnmal mit Hamas-Zeichen beschmiert wird. Es gibt eine globale Zunahme an Antisemitismus. Da ist auch die Leugnung der Verbrechen und der sexualisierten Untaten an jüdischen Menschen – auch in intellektuellen Kreisen. Innerisraelisch aber ist die Auseinandersetzung vor dem 7. Oktober mit jener danach teils verknüpft, weil den Rechtsextremen der moderne Staat Israel immer schon weniger wichtig war als das heilige Land Israel. Netanyahu zog die Hamas der palästinensischen Administration vor, weil er an einen Kompromiss im Sinne einer Zweistaatenlösung nicht glauben mag. Am Anfang war die Stimmung gegen Netanjahu stark, aber das Pendel schwingt allmählich zurück, und im Lauf des Krieges nimmt die Radikalisierung der Gesellschaft zu.
Ohne den Terrorangriff der Hamas wäre die Regierung wohl im Herbst aufgelöst worden. Braucht Netanjahu den Krieg, um politisch zu überleben?
Rabinovici
Sein Interesse an einem Deal wird von vielen Familien der Geiseln bezweifelt. Nicht wenige hegen den Verdacht, der Regierung gehe es nicht um die Geiseln, weil es sich mehrheitlich nicht um Leute der eigenen Wählerschaft handelt. Die Menschen auf dem Rave-Fest waren keine religiös-nationalen Siedler, und nicht wenige in den Kibbuzim an der Grenze zu Gaza sind Friedensaktivisten.
Anhänger Netanjahus beschimpfen und drohen befreiten Geiseln, die zu einem Deal mit der Hamas aufrufen; die Gewalt jüdischer Siedler im Westjordanland wird kaum geahndet; ein Teil der Regierung nimmt Kriegsverbrechen Israels in Kauf oder begrüßt sie sogar. Wie gespalten ist die Gesellschaft nach dem 7. Oktober?
Rabinovici
Unmittelbar danach herrschte Einigkeit, doch nun kommen Differenzen zum Vorschein. Es geht darum, was die Kriegsziele und die politischen Perspektiven sein sollen. Die Diffamierung der Familien der Geiseln durch rechtsextreme Minister und der Terror radikaler Siedler gegen Palästinenser im Westjordanland sind eine Bedrohung für den israelischen Staat, für die Demokratie und die Gesellschaft.
Die Normen scheinen zu erodieren. Ein Höhepunkt der Radikalisierung war die Stürmung zweier Militärbasen durch rechtsextreme Israelis Anfang der Woche. Wie kann dieses Land deradikalisiert werden?
Rabinovici
Das ist eine unerträgliche Radikalisierung, die nichts mehr mit den Pionieren des Staates zu tun hat. Gegründet wurde Israel von Leuten, die eine demokratische Gesellschaft im Sinn hatten. Dem zionistischen Vordenker Theodor Herzl ging es um eine liberale Gesellschaft und um eine Demokratie. Herzl träumte von einem Wien im Nahen Osten, aber ohne Karl Lueger (Antisemit und von 1897 bis 1910 Bürgermeister Wiens, Anm.). Das Israel, in dem ich geboren wurde, war bis vor wenigen Jahren eine erstaunlich heterogen pluralistische Gesellschaft. Da waren sozialistische Kibbuzniks, arabische Ärztinnen, urbane Bobos, Queers, neoliberale Start-up-Yuppies, rechtsextreme Siedler, Orthodoxe, islamistische Abgeordnete – all diese Gruppen machten das bunte Israel aus. Das ist seit dem Antritt dieser Regierung in Gefahr.
Sicherheitsminister Ben Gvir steht hinter den rechtsextremen Demonstranten, die die Militärbasen stürmten, es waren auch Regierungsvertreter und Abgeordnete dabei. Wie stabil ist die israelische Innenpolitik?
Rabinovici
Wir erleben weltweit eine Krise der Demokratie. In Israel kommen der Konflikt und der 7. Oktober dazu. Die Armeeführung, der Präsident, auch Netanjahu, haben gegen diese Rechtsextremen Stellung bezogen. Doch Entwarnung kann nicht gegeben werden. Rechtsstaat und Demokratie sind in Gefahr. Der Konflikt ist nicht nur ein äußerer. Es ist nicht möglich, eine Besatzung aufrechtzuerhalten, ohne dass die eigene Freiheit darunter leidet. Deshalb gibt es nur eine Lösung: den territorialen Kompromiss, die Anerkennung des Existenzrechts Israels, aber auch der Rechte der palästinensischen Nation. Gemeinsam mit den gemäßigten arabischen Kräften muss Stabilität erzielt werden. Wenn ich als Jugendlicher auf Gleichaltrige aus arabischen Staaten traf, erstarb das Gespräch sofort, sobald ich mein Geburtsland nannte. Allein das Wort „Israel“ brachten sie nicht über die Lippen. Das ist jetzt ganz anders. Auch die arabischen Staatsbürger in Israel fühlten nach dem 7. Oktober israelisch und waren solidarischer denn je. Das sind trotz all des Blutvergießens und Hasses doch Hoffnungsschimmer: für Frieden in der Region und für die Demokratie in Israel.
Ist eine Lösung mit Netanjahu denn möglich?
Rabinovici
Die Menschen in Israel, die mir nahe sind, sind überzeugt, dass er schon längst – gleich nach dem 7. Oktober – abtreten hätte sollen. Würde jetzt gewählt, Netanjahu und seine Regierung würden wohl abwählt werden.
Doron Rabinovici, 62,
ist ein österreichischer Schriftsteller und Historiker mit Wurzeln in Israel. Rabinovici studierte Geschichte in Wien. In seinen Romanen, Essays, Kurzgeschichten und Theaterstücken befasst er sich vor allem mit Erinnerung, Antisemitismus, Rechtsextremismus und Widerstand. Zuletzt erschien sein Roman „Die Einstellung“ (Suhrkamp Verlag). Rabinovicis Lesedrama „Der siebente Oktober“ wurde im Burgtheater aufgeführt.