Nahost-Konflikt

Drei Generationen, verschleppt von Hamas

Ihre Vorfahren sind Holocaust Überlebende. Die Kinder und Enkel bauten sich ein Leben in Israel auf. Jetzt haben Hamas-Terroristen drei Generationen einer Familie in den Gazastreifen verschleppt.

Drucken

Schriftgröße

Es kam vor, dass sich Ziv Beker, 45, und sein bester Freund Tal Shoham, 38, tagelang nicht auf WhatsApp schrieben. Der Grund: Sie sahen einander jeden Tag mindestens einmal.

„Es gibt keinen Menschen auf der Welt, dem ich mehr vertraue, als ihm“, sagt Beker.

Die beiden waren Nachbarn, ihre Häuser liegen nur zweihundert Meter voneinander entfernt. Ihr Dorf zählt knappt einhundert Familien und liegt in Misgav, einer Region im Norden Israels, nahe der Grenze zum Libanon. Ihre Kinder gingen in denselben Kindergarten und Beker trainierte Fußball mit dem achtjährigen Sohn seines Freundes. Sie kickten im Zick-Zack zwischen roten Hütchen.

Die letzte Nachricht, die Ziv Beker von Tal Shoham auf WhatsApp erhalten hat, ist mit Anfang Oktober datiert. Beker fragte, ob Tal zum Abendessen vorbeischauen wolle. Der schickt als Antwort ein Foto, das seine kleine Tochter im Kinderwagen zeigt: „Sie ist eben eingeschlafen. Sorry, zu spät.“

Yahel, 3, wird als Geisel gehalten 

Mittlerweile haben die israelischen Behörden bestätigt, dass ein Alptraum wahr geworden ist. Yahel Shoham, das blondgelockte Mädchen im Kinderwagen, wird von der Hamas im Gazastreifen als Geisel gehalten. Sie ist drei Jahre alt. Nicht nur Yahel ist fort, sondern noch sieben weitere Mitglieder der Großfamilie. Insgesamt fünf Erwachsene (darunter Tal Shoham) und drei Kinder.

Am 7. Oktober fielen Terroristen der militant-islamistischen Hamas in den Kibbuz der Familie im Süden Israels ein und richteten ein beispielloses Massaker an. Sie brannten Häuser nieder, massakrierten Menschen und machten auch vor Säuglingen nicht halt. Sie hinterließen blutverschmierte Kinderzimmer und verkohlte Gärten.

„All das treibt uns in den Wahnsinn. Menschen können hassen und sie können töten. Aber das hat nichts Menschliches mehr an sich. So etwas sollte nirgendwo auf der Welt passieren und niemandem, egal ob Christ oder Muslim“, sagt Ziv Beker.

Im Kibbuz Beeri töteten die Hamas-Kommandos rund 120 Menschen und damit mehr als ein Zehntel aller Einwohner. Sie nahmen die drei Jahre alte Yahel mit, ihre Mutter Adi Shoham, 38 und deren Mutter Shoshan Haran, 67.

Drei Generationen jüdisches Leben, verschleppt und als Geisel gehalten.

Die Großmutter gilt als vermisst. Im Fall der Familie Shoham haben die israelischen Behörden offiziell bestätigt, dass sie als Geisel gehalten werden. Auch die Nichte, die Tante und die Schwägerin wurden verschleppt (Siehe Stammbaum).

Seine Großmutter war Wienerin 

Mit dem Fall beschäftigt sich auch das österreichische Außenministerium. Tal Shoham hat neben der israelischen auch die österreichische Staatsbürgerschaft. Nach Informationen von profil ist er der einzige Doppelstaatsbürger in Gefangenschaft der Hamas. Das Außenministerium scheibt auf Anfrage: „Zu seinem Verbleib liegen uns weiterhin keine gesicherten Informationen vor.“

Tal Shohams Großmutter kam in Wien zur Welt und wurde Ende der 1930er-Jahre von den Nazis vertrieben. Der Großvater von Adi, seiner Frau, stammt aus Deutschland. Laut der „Times of Israel“ kam eine Verwandte 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt um. Die Nachfahren waren 1946 an der Gründung eines Kibbuz namens Beeri in der Negev-Wüste beteiligt. „Es ist ein friedlicher Ort mitten in der Natur. Ein Stück Himmel“, erinnert sich Beker, der beste Freund. Tal Shoham und seine Frau lebten nicht mehr im Kibbuz, sondern im Norden Israels. Sie besuchten die Großeltern aber regelmäßig. Über die Feiertage rund um den 7. Oktober kam die Familie zusammen, um das jüdische Sukkot-Fest zu feiern. Im Anschluss übernachteten die Enkel bei Opa und Oma im Kibbuz.

Der Kibbuz: Genossenschaft in der Wüste 

Kibbuz bedeutet Versammlung oder auch Kommune. Darunter sind ländliche Kollektivsiedlungen mit Gemeinschaftseigentum und basisdemokratischen Strukturen zu verstehen. Heute leben nur noch knapp zwei Prozent der israelischen Bevölkerung in solchen Kibbuzim. Shoshan Haran, die Schwiegermutter von Tal Shoham, ist eine davon. Sie ist, ebenso wie die kleinen Kinder, deutsch-israelische Doppelstaatsbürgerin.

Die 67-Jährige ist promovierte Agronomin und forschte zu ertragreichem Saatgut.

„Menschen wie sie wollten die Welt verändern“, sagt Bernard Dichek, ein israelischer Dokumentarfilmer, der ihre Arbeit für einen Film begleitet hat. profil erreicht ihn am Donnerstagnachmittag in Tel Aviv. Das Interview muss nach zehn Minuten unterbrochen werden, weil der Raketenalarm losgeht.

Nach kurzer Zeit ruft Bernard Dichek wieder an. Er will erzählen, warum ihn die Arbeit von Shoshan Haran so fasziniert hat. 2011 schmiss die Frau ihren Job bei „Hazera Genetics“ hin, einem Saatgutunternehmen, das zur französischen Vilmorin-Gruppe gehört, der größte Hersteller von Feldfruchtsaatgut in Europa.

Menschen wie sie wollten die Welt verändern

Bernard Dichek, Filmemacher aus Tel Aviv

Es ist eine Milliardenindustrie, erzählt Dichek: „Shoshan fand es absurd, dass große Konzerne über das Saatgut verfügen, das Entwicklungsländer brauchen, es aber nicht mit ihnen teilen. Sie hat ihrem sehr gut bezahlten Job den Rücken gekehrt, um ihre eigene Organisation zu gründen, die den Ärmsten auf der Welt hilft.“

Ihre Organisation „Fair Planet“ war unter anderem in Äthiopien tätig und schulte dort Dichek zufolge zehntausende Kleinbauern, um ihnen Forschung über hochwertiges, an die lokalen Bedingungen angepasstes Gemüsesaatgut zugänglich zu machen. „Die Hamas hat nicht nur Shoshan gekidnappt, sondern in einer gewissen Weise auch diese äthiopischen Bauern, für die sie sich so eingesetzt hat“, sagt er.

Auch in ihrem Kibbuz ist Gleichberechtigung gelebte Praxis. Die Gemeinschaft glaubte an sozialistische Ideale und teilte ihr Einkommen miteinander. Einige engagierten sich in der Friedensbewegung und glaubten an die Idee, dass Israelis und Palästinenser nebeneinander leben können, erzählt Dichek.

Doch das kümmerte die Hamas-Terroristen nicht. Sonst hätten sie wohl kaum Vivian Silver verschleppt. Die 74-Jährige lebte ebenfalls in Beeri und gilt als eine der bekanntesten Friedensaktivistinnen Israels. Sie rief immer wieder zur Versöhnung mit den Palästinensern auf und nahm wenige Tage vor ihrem Verschwinden an einem Friedensmarsch teil. „Einige der Menschen, die sie entführt haben, waren vermutlich die besten Freunde der Palästinenser“, glaubt Dichek, der Dokumentarfilmer.

Lilach, 60 Jahre, die Schwester von Shoshan Haran ist eine Sozialarbeitern, die sich auf Traumatherapie spezialisiert hat. Adi, die Frau des österreichischen Doppelstaatsbürgers Tal, ist Psychologin und plante, ein Zentrum für Traumaopfer aufzumachen.

Dass ausgerechnet sie verschleppt wurden, bezeichnen Freunde der Familie als „furchtbare Ironie“.

Der Überfall dauerte 17 Stunden

Der Kibbuz liegt nur wenige Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Familienangehörige erzählen, dass sich viele Bewohner an den Raketenalarm gewöhnt hatten. Auch das Haus der Harans hatte einen Luftschutzraum. Aber dass Terroristen brennende Reifen in das Innere werfen, um die Menschen auszuräuchern und zur Flucht zu zwingen? So etwas war noch nie vorgekommen.

Sicher ist: Am 7. Oktober haben Israels Sicherheitsbehörden völlig versagt. Rund um den Kibbuz steht ein robuster Eisenzaun und die israelische Armee patrouilliert ganz in der Nähe.

Gegen sechs Uhr früh drangen dennoch Hamas-Terroristen in den Kibbuz ein. Die Sicherheitskameras haben ihr Morden aufgezeichnet, zum Teil filmten die Männer sich auch selbst, um die Videos auf ihren Propagandakanälen zu teilen. Das Massaker dauerte 17 Stunden an.

Um 08:04 schrieb Ziv Beker Tal Shoham eine Nachricht. Er wollte sich nach seinem Freund erkundigen, weil der Raketenalarm losgegangen war: „Ich habe nie eine Antwort bekommen. Neben der Nachricht waren zwei graue Häkchen, aber sie wurden nie blau.“ Tal konnte diese Nachricht nicht mehr lesen.

In den Stunden bevor er verschwand, soll Tal Shoham noch mit seinem Vater telefoniert haben. „Er hat versucht den Schutzraum zu verteidigen und die Terroristen vom Eindringen abzuhalten. Aber sie haben das Haus niedergebrannt, ihn auf einen Geländewagen geworfen und mitgenommen“, sagt Ziv Beker.

Israel steckt in einem Geisel-Dilemma 

Israel steht vor einem Dilemma. Nach dem Massaker vom 7. Oktober, bei dem insgesamt 1.400 Menschen getötet wurden, hat die Regierung mehrmals angekündigt, die Hamas zu vernichten. „Jedes Mitglied der Hamas“ werde bald „ein toter Mann“ sein, so Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Aber die Hamas nutzen die Geiseln als Faustpfand.

Das israelische Militär teilte mit, dass mindestens 199 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt worden seien, mehr als bisher angenommen. Die Hamas sagte, sie halte bis zu 250 Geiseln fest. Unter ihnen befinden sich Säuglinge, Kleinkinder und Senioren. Die Geiseln sind für die Hamas ein Druckmittel, um die herannahende Bodenoffensive doch noch zu verhindern. Ein Hamas-Sprecher drohte, dass bei jeder israelischen Bombardierung eines zivilen Gebäudes ohne Vorwarnung eine israelische Geisel getötet werde. Außerdem muss Israel bei jeder Rakete damit rechnen, seine eigenen Staatsbürger zu treffen.

Seit die Hamas Israel überfallen und den Krieg losgetreten hat, reagiert Israel mit massiven Luftschlägen. Eine Bodenoffensive im Gazastreifen steht möglicherweise kurz bevor. Soldaten mit Panzern und Militäraufgebot warten an der Grenze auf den Befehl, einzumarschieren. Der israelische Verteidigungsminister hat Soldaten bei einem Truppenbesuch dazu aufgefordert, sich darauf vorzubereiten.

Diese Eskalation erhöht die Gefahr, dass die Geiseln getötet werden. Die Familien der Verschleppten werden Tag und Nacht mit diesen Fragen gequält. In ihrer Verzweiflung wenden sie sich an Regierungen europäischer Länder, wo viele ihrer Angehörigen Staatsbürgerschaften besitzen.

„Wir wollen, dass die österreichische Regierung alles tut, was sie kann. Sie haben Verbindungen zur arabischen Welt und zu den Palästinensern“, sagt Bernard Dichek, der Dokumentarfilmer aus Tel Aviv.

„Findet Sie und bringt sie uns zurück. Sie haben nichts Falsches getan“, sagt Beker, der Nachbar von Tal Shoham.

„Wir bitten auch Österreich um Hilfe. Unsere Familien sind eng mit Europa verbunden. Wir wollen sie zurückhaben“, sagt Noa Tamir, 39, eine entfernte Verwandte, die in Berlin lebt. Sie hat sich an das Außenministerium in Wien gewandt, um sicherzugehen, dass die Botschaft in Israel über das Schicksal der Familie Bescheid weiß. „Um die entführten Kinder machen wir uns die allergrößten Sorgen“, steht in dieser E-Mail, die profil vorliegt. Das Außenministerium antwortet auf eine Anfrage von profil: „Die Botschaft in Tel Aviv steht den Angehörigen in dieser schwierigen Zeit unterstützend zur Seite. Wir sind in laufendem Kontakt mit den israelischen Behörden und internationalen Partnern.“

Findet Sie und bringt sie uns zurück

Ziv Beker

Freund der Familie

Die Botschaft in Tel Aviv steht den Angehörigen in dieser schwierigen Zeit unterstützend zur Seite

Außenministerium in Wien

Das Haus, eine verbrannte Ruine

Beeri steht heute wie kaum ein anderer Ort in Israel für die Barbarei der Hamas.

Von dem Haus von Shoshan Haran soll laut Bernard Dichek nur ein Keramiktopf übriggeblieben sein. Die Familie hat profil Bilder geschickt. Zu sehen ist eine ausgebrannte, verkohlte Ruine, von der nur noch die Grundmauern stehen. Bewohner wurden in Hotels am Toten Meer untergebracht. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur „AFP“ sagt ein Überlebender aus dem Dorf: „Wir werden nie wieder den Kibbuz haben, den wir hatten. Genauso wenig das Land, das wir hatten.“

Vergangene Woche hielt die Familie Haran ein Begräbnis ab. Avshalom, 66, der Ehemann von Shoshan und der Großvater der kleinen Kinder wurde durch DNA-Tests als verstorben identifiziert, ebenso wie ein weiteres Familienmitglied und eine Hilfskraft, die ihn pflegte.

 

Im Dorf von Adi und Tal Shoham will man die Hoffnung, dass die Jungfamilie zurückkehrt, nicht aufgeben. „Jeden Tag kommt das Dorf zusammen, um zu beten und zu singen“, sagt Ziv Beker. Die brutalen Videos der vergangenen Wochen kann er sich nicht ansehen, weil sie ihm die Energie rauben, die er jetzt so dringend braucht. Aber immer wieder versetzt er sich in die Situation der Kinder, mit denen er Tür an Tür zusammengelebt hat und die jetzt von Terroristen festgehalten werden.

„Was sieht das dreijährige Mädchen jeden Tag? Wer spricht mit ihr?“, fragt er.

Zum Schluss will Beker noch etwas sagen, das ihm wichtig ist: „Jeden Tag kommt jemand und putzt das Haus der Familie. Wir kümmern uns darum.“ Wenn sie zurückkehren, dann sollen seine Freunde das Haus so vorfinden, wie Sie es an jenem Wochenende zurückgelassen haben.

 

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.