Vor drei Jahren verließen die internationalen Truppen Afghanistan und überließen das Land abermals den Taliban. Afghaninnen und Afghanen – manche im Exil, manche wohl oder übel in der Heimat geblieben – erzählen, wie es ihnen seither ergangen ist.
Mohammad Zahed klingt erschöpft und erleichtert zugleich. „Ich hatte schon die Hoffnung aufgegeben, doch hier sind wir nun. Wir sind gut angekommen“, sagt er am Telefon. Seit einigen Wochen lebt der Afghane gemeinsam mit Frau und vier Kindern im US-Bundesstaat New York. Das neue Leben ist ein krasser Kontrast zu seinem einstigen Alltag in Kabul. Dort hatte er sich seit dem Abzug der internationalen Truppen und der Rückkehr der militant-islamistischen Taliban vor drei Jahren verstecken müssen.
Zahed war jahrelang als sogenannte Ortskraft tätig gewesen. Als Telekommunikationstechniker sorgte er dafür, dass die NATO-Truppen, allen voran die Deutsche Bundeswehr, miteinander kommunizieren konnten. Ohne seine Arbeit wären viele Operationen und logistische Aufgaben nicht möglich gewesen. Doch als die Taliban vor den Toren Kabuls standen, interessierten sich seine ehemaligen Auftraggeber nicht mehr für Zahed. Sie hatten ihn längst über eine private Subfirma anstellen lassen – und ignorierten seine Hilferufe. „Sie haben keinen direkten Vertrag mit der Bundeswehr. Deshalb können wir auch nichts für Sie tun“, hieß es damals seitens des deutschen Außenministeriums.
Anders verhielten sich die Amerikaner. US-Politiker und Militärs setzten sich für Zahed und andere ehemalige Kollegen aus Afghanen ein. Die amerikanische Loyalität galt selbst für mutmaßliche Kriegsverbrecher wie die Mitglieder von Spezialeinheiten, die einst von der CIA gegründet wurden. Vor dem Fall Kabuls waren sie meist in den ländlichen Regionen des Landes präsent und für brutale Razzien und Hinrichtungen bekannt. Nachdem Zahed mehr als zwei Jahre gemeinsam mit seiner Familie mitten in Kabul ausgeharrt hatte, durfte er über Pakistan und Uganda in die USA einreisen.
„Es fühlt sich immer noch so surreal an. Dass Deutschland mich vergessen hat, bedauere ich, doch meine Zukunft lag woanders. Das weiß ich nun“, sagt Zahed heute. Das neue Leben an der amerikanischen Ostküste ist für die Familie gewöhnungsbedürftig. Der Alltag mit der großen Familie in Kabul gehört aber nun der Vergangenheit an. Vor Kurzem starb Zaheds Schwiegervater. Dass die Familie nicht vor Ort trauern konnte, betrübt sie. „Wir leben in Sicherheit, allerdings fühlen wir uns auch etwas einsam und allein. Doch das ändert sich hoffentlich mit der Zeit“, sagt Zahed. Während seine Frau und er sich noch bei vielen Dingen zurechtfinden müssen, geht es den Kindern anders. Sie sind bereits eingeschult und sprechen gutes Englisch. Sohail, Zaheds ältester Sohn, wird demnächst wegziehen und sein erstes Semester an der Universität beginnen.
„Meine älteste Tochter stand kurz davor, Ärztin zu werden. Nun muss sie daheim herumsitzen.“
Khatera Sadat
Lehrerin
Unter den Taliban
Währenddessen sieht im Taliban-Emirat der Studienalltag anders aus. Seit der Machtübernahme der Extremisten sind Oberstufenschulen für Mädchen ab zwölf Jahren geschlossen. Hinzu kommt seit Ende 2022 ein Universitätsverbot für Afghaninnen. Burschen, die weiterhin die Universität besuchen, berichten von einem tristen Alltag. „Der Stundenplan wurde talibanisiert. Wer den neuen Lehrplan hinterfragt, bekommt Probleme“, sagt Bezhan K., ein 25-jähriger Student aus Kabul. Früher trug der junge Mann Hemd und Jeans. Heute muss er sich an den Dresscode der Taliban halten: langer Vollbart, langes Hemd und Pluderhose, im Afghanischen auch als „Peran Tomban“ bekannt. „Ich mag unsere Volkskleidung. Doch wem gefällt es schon, etwas aufgezwungen zu bekommen?“, sagt er. Einen Bachelor in Englisch hat K. bereits, bald wird er auch sein Wirtschaftsstudium abschließen. Viel bringen würde ihm das im Afghanistan der Taliban nicht. Dort zählt in erster Linie, ob man mit der Kalaschnikow gegen „Ungläubige“ und „Abtrünnige“ gekämpft hat oder nicht. „Ich hätte mein Geld nicht in Bildung, sondern in eine Flucht nach Europa investieren sollen“, sagt Bezhan K. verbittert.
Abzug aus Afghanistan, August 2021
Es war der längste Krieg in der Geschichte der USA, Ende August 2021 fand er ein chaotisches Ende. US-Präsident Joe Biden hatte angekündigt, bis zum 31. August alle US-Soldaten aus Afghanistan abzuziehen, doch dann nahmen die radikalislamischen Taliban am 15. August Kabul ein – und der Truppenabzug wurde zum Desaster. International wurde der Abzug als Kapitulation Amerikas vor den Taliban gesehen. Verzweifelte Menschen strömten zum Flughafen in Kabul, um nach der Machtübernahme der Islamisten aus dem Land zu fliehen. Viele schafften es nicht, einen Platz zu ergattern, einige klammerten sich sogar an abhebende Maschinen und stürzten in den Tod. Inmitten der Evakuierungen wurden bei einem Terrorangriff des „Islamischen Staates“ Dutzende Afghanen und 13 US-Soldaten getötet. Die Grundlage für den Abzug hatten die USA im Jahr 2020 gelegt. Damals unterzeichnete die Regierung unter Donald Trump eine Vereinbarung mit den Taliban, bis Mai 2021 abzuziehen. Biden änderte diese Pläne nicht – und Afghanistan taumelte mit der Machtübernahme der Taliban zurück ins Mittelalter.
Damit spricht der Student laut aus, was viele junge Afghanen denken: Ihre Zukunft fiel politischen Machtinteressen zum Opfer. 20 Jahre lang führten die USA und ihre Verbündeten Krieg in Afghanistan; am Ende waren wieder jene an der Macht, die einst gestürzt wurden. In den Augen der Taliban sind ehemalige Soldaten der 2002 gegründeten und 2021 abgeschafften Afghanischen Nationalarmee sowie die Ortskräfte der NATO „Verräter“. Und auch junge, urbane Afghanen wie Bezhan K. gelten den Taliban als minderwertig – weil sie sich nicht am „Dschihad“ der Extremisten beteiligten, sondern nach weltlicher Bildung strebten. Diese produziert laut dem obersten Führer der Taliban, Haibatullah Akhundzada, nur „Marionetten“ wie den Ex-Präsidenten Hamid Karzai, der Ende 2001 vom Westen in Kabul an die Macht gebracht wurde.
Dabei war es Karzai, der sich jahrelang für Gespräche mit den Taliban einsetzte. Besonders viel Kritik musste er einstecken, als er die Extremisten während eines Interviews mit dem Privatsender „Tolo“ im Jahr 2014 als „Brüder“ bezeichnete. Seit der Rückkehr der Taliban befindet sich Hamid Karzai unter Hausarrest. Seine Villa im Kabuler Ministeriumsviertel darf er nur unter strengen Auflagen verlassen – und mit Erlaubnis des Taliban-Geheimdienstes GDI. Dieser registriert auch alle Besucher am Eingang und verdeutlicht damit, wer am Hindukusch das Sagen hat. „Er darf keine Interviews mehr geben“, sagt ein Sekretär des Ex-Präsidenten. Der Grund: Der medienaffine Karzai hielt sich mit Kritik an den neuen Machthabern nicht zurück. Mittlerweile, so heißt es vonseiten verschiedener Quellen, erwäge er ein Leben im Exil. Die Voraussetzung dafür ist freilich, dass die Taliban Karzai und seine Familie ausreisen lassen.
„Der Stundenplan wurde talibanisiert. Wer den neuen Lehrplan hinterfragt, bekommt Probleme.“
Bezhan K.
Student aus Kabul
„Es gibt keine Motivation mehr“
Dass Karzai im Gegensatz zu vielen anderen Politikern überhaupt in Afghanistan lebt, halten ihm einige Bürger zugute. „Als das Land an die Taliban fiel, blieb er hier und versuchte, uns mit seiner Rede zu beruhigen. Das war ein großer Kontrast zu dem, was andere lieferten“, sagt etwa Kamala Sharif (Name von der Redaktion geändert) aus Kabul. Die Witwe war mit ihren Kindern allein zu Hause, als sie Karzai im Fernsehen sah. Ashraf Ghani, Karzais Nachfolger und der letzte Präsident Afghanistans, war zu diesem Zeitpunkt bereits mitsamt seiner gesamten Entourage geflüchtet. „Karzai hat viele Fehler gemacht, doch er war nur ein Teil der Misere. Seine kritische Haltung zu den Amerikanern sowie seine Dialogversuche mit den Taliban waren berechtigt“, meint Sharif. Ähnlich sieht das Abdul Wasey, der im Westen der afghanischen Hauptstadt als Taxifahrer sein Brot verdient. „Politik ist nicht einfach. Karzai hat immerhin noch das Land irgendwie zusammengehalten. Seine Nachfolger haben nur gestritten, wovon die Taliban profitierten“, meint er.
Andere sind nachtragender. „Karzais Administration hatte eine einmalige Chance in der Geschichte Afghanistans“, sagt Khatera Sadat (Name von der Redaktion geändert), eine Lehrerin aus der nördlichen Stadt Mazar-e Sharif. „Doch die in die Regierung involvierten Warlords stopften ihre eigenen Taschen voll, anstatt sich um das Volk zu kümmern.“ Seit der Rückkehr der Taliban unterrichtet Sadat nur noch Unterstufen. Weibliches Lehrpersonal muss sich strikter verschleiern – oder mit Strafen durch die Sittenwächter rechnen. „Es ist eine Tortur“, klagt die Lehrerin, „wir müssen diese schweren, schwarzen Stoffe tragen und auch unser Gesicht verdecken, während wir im Sommer über
40 Grad haben.“ Noch viel schlimmer als patriarchale Kleidungsvorschriften sei der Umstand, dass die Schülerinnen und Schüler keinerlei Hoffnung und Motivation mehr hätten. Viele Lehrer und Universitätsprofessoren hätten in den vergangenen drei Jahren das Land verlassen und seien durch Taliban-Personal ersetzt worden. Sadats eigene Töchter mussten wegen der Bildungsverbote Schule und Universität abbrechen. „Meine älteste Tochter stand kurz davor, Ärztin zu werden. Nun muss sie daheim herumsitzen. Natürlich bricht das mein Herz“, so Sadat. Arbeitslos ist auch ihr ältester Sohn, der einst für die Regierung in Kabul arbeitete. Dem neuen Regime will er sich nicht unterwerfen.