Drei Schatten über Putin
Es läuft nicht nach Plan für Wladimir Putin – schon wieder nicht. Der russische Präsident will bis zu 300.000 neue Soldaten in den Krieg schicken. Dabei hatte Putin versprochen, dass in der Ukraine „einzig professionelle Militärs“ kämpfen würden. Doch der Erfolg der ukrainischen Armee, die seine Truppen immer weiter zurückdrängt, hat einmal mehr die Schwächen des russischen Heeres offenbart und Putin unter Druck gesetzt. Die Mobilisierung war noch nicht einmal angeordnet, da setzte sich schon eine Fluchtbewegung in Gang. An den Grenzen zu Georgien, Kasachstan und Finnland stauten sich die Autos kilometerweit.
Die längste Zeit haben die Bürgerinnen und Bürger Russlands vom Krieg in der Ukraine kaum etwas mitbekommen. Zwar stiegen die Preise, vor allem Lebensmittel wurden teurer. Von Krieg wurde aber nicht gesprochen, die Rede war stets von einer „militärischen Spezialoperation“. Die Mobilisierung hat diese Illusion nun beendet. Der Krieg ist in Russland angekommen. Einzugsbefehle kommen über den Arbeitsplatz, über Universitäten und Schulen, manch einer wird direkt von der Straße einberufen. Betroffen sind auch Männer, die nie in der Armee gedient haben, sowie Alte und Kranke. Am schwersten trifft es ethnische Minderheiten und arme Bevölkerungsschichten.
Dabei stellt sich die Frage, mit welcher Ausrüstung die neuen Soldaten überhaupt in den Krieg ziehen sollen. Rekruten müssen alles selbst mitnehmen: von Schlafsäcken über Medikamente bis hin zu kugelsicheren Westen. Mit dem Chaos hat sich auch die Debatte innerhalb Russlands geändert, die Fehler werden selbst in kremltreuen Medien diskutiert. „Die dilettantische Art der Rekrutierung, bei der so viele Rekruten wie möglich einberufen werden sollten, hat in der Bevölkerung Ärger ausgelöst“, sagt der Russland-Experte Gerhard Mangott. So sei auch die öffentliche Kritik zu verstehen: „Putin lässt das im Fernsehen diskutieren, um den Gouverneuren und der Militärverwaltung die Schuld zuzuschieben.“
Um von den Problemen zu Hause abzulenken und Erfolge vorweisen zu können, hat Putin nach den Pseudoreferenden in Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja die Annexion der vier ukrainischen Regionen verkündet. Dabei kontrolliert Russland diese Gebiete nicht einmal vollständig. Am Tag nach Putins Annexionsverkündung konnte die ukrainische Armee die strategisch wichtige Stadt Lyman in Donezk zurückerobern. Auch in Charkiw hat sie große Territorien zurückgewonnen.
Dazu kommt die Schockwelle durch die Ankündigung der Mobilmachung in der Heimat. „Putin hat sich in eine schwierige Situation gebracht“, sagt Mangott – und spricht von drei Schattenseiten für den Herrscher im Kreml. Erstens: Wenn Russland die vier Regionen beansprucht, sie aber nicht vollständig unter russischer Kontrolle liegen und die Ukraine sogar Teile zurückerobert, „dann wird sich Putin fragen lassen müssen, wieso er nicht einmal in der Lage ist, die russische Heimat zu verteidigen“.
Das nährt die Sorge vor einer Eskalation vonseiten Russlands. Bisher hat die Armee auf ukrainischem Territorium gekämpft, das hat sich nun in der Logik des Kreml geändert. Die Militärdoktrin Moskaus besagt, dass Nuklearwaffen eingesetzt werden können, wenn Russland in seiner Existenz bedroht ist. Heißen kann das freilich vieles, am Ende liegt die Entscheidung bei Putin. „Wenn die Ukraine in Gebiete vorstößt, die Russland für sich beansprucht, wird es eine russische Antwort geben müssen“, sagt Mangott. Sollte sich eine katastrophale Niederlage abzeichnen, könnte Moskau mit Nuklearwaffen eskalieren. Für Putins Erfolgsnarrativ ergibt sich damit eine weitere Schattenseite: Er weiß, dass der Westen auf einen Nuklearschlag reagieren würde – mit verheerenden Folgen für Russland. Eine maximale Eskalation würde Moskau außerdem völlig isolieren – auch China und Indien würden einen nuklearen Angriff verurteilen.
Die dritte Schattenseite betrifft die Aussicht auf Verhandlungen. Was soll die russische Seite jetzt, wo sie die eroberten Gebiete annektiert hat, noch als Verhandlungsmasse einbringen? Putin kann die russischen Territorien kaum aufgeben, das würde einen Gesichtsverlust bedeuten – und damit wohl das Ende Putins. „Ich halte die Annexionen auch in der Logik des Kreml für einen falschen Schachzug“, sagt Mangott. Mit der Absicht, einen Erfolg vorzuweisen, habe sich Putin ein dreifaches Dilemma hineinmanövriert.