Interview

Krieg in der Ukraine: „Durchhalten, bis der andere eingeht“

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev hält nicht nur Friedensverhandlungen, sondern auch einen Waffenstillstand in den kommenden Monaten für ausgeschlossen.

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profil: Ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn fragen wir uns, wie und wann dieser Krieg enden kann. Sehen Sie eine Chance für Friedensverhandlungen?
Krastev: Was heißt Frieden? Wenn wir uns die Kriege seit 1989 anschauen, haben sie alle nicht mit einem Frieden geendet. Bis auf den Balkankrieg vielleicht, der mit dem Dayton-Abkommen 1995 endete. Konflikte wie jene in Armenien, Aserbaidschan und Georgien endeten maximal mit Waffenstillstand. Der kann jederzeit wieder gebrochen werden. Wenn Sie mich fragen, ob der Krieg zwischen der Ukraine und Russland bald mit einem Friedensabkommen endet, dann ist meine Antwort: Nein.

profil: Was braucht die Ukraine, um einem Friedensabkommen zuzustimmen?
Krastev: Präsident Wolodymyr Selenskyj hat eine klare Position: Er wird keine territorialen Kompromisse akzeptieren. Russische Truppen müssen demnach auch aus dem Donbas und der Krim abziehen. Für Selenskyj wird die Lage deshalb intern politisch schwierig, weil er in der Bevölkerung hohe Erwartungen geschürt hat. Solange Wladimir Putin Präsident ist, kann ich mir nicht vorstellen, dass Russland die Krim an die Ukraine zurückgibt. Das würde das Ende von Putins Legitimität als Präsident bedeuten.

profil: Und was braucht Russland?
Krastev: Russland braucht einen Sieg. Eine kleinere Variante von Sieg wäre es, wenn Russland Odessa einnimmt. Doch vom ursprünglichen Ziel ist Russland selbst dann weit entfernt. Putin wollte den Donbas befreien? Der Donbas ist zerstört. Putin wollte die „Denazifizierung der Ukraine“ erreichen? Selenskyj loszuwerden, ist derzeit ein unrealistisches Ziel. Putin wollte die NATO zurückdrängen? Jetzt ist durch den NATO-Beitritt Finnlands eine 1400 Kilometer lange Grenze Russlands zur NATO entstanden. Putin und Selenskyj gehen auf völlig unterschiedliche Weise mit ihrer Bevölkerung um. Selenskyj lässt keinen Zweifel daran, dass die gesamte Ukraine, inklusive ihm selbst, im Krieg ist. Putin dagegen sagt, vor allem zur oberen Mittelschicht in den Städten: Ihr seid nur Zuschauer, die spezielle Militäroperation betrifft euch nicht. Es stimmt, in den großen Städten spürt man wenig vom Krieg. Doch auf Dauer werden Fragen gestellt werden. Deshalb wird es auch innenpolitisch für Putin immer schwieriger.

profil: Ist die Expertenmission ins AKW Saporischschja, der Putin laut dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Prinzip zugestimmt hat, nicht ein Zeichen, dass Verhandlungen über konkrete Aspekte in diesem Krieg zumindest möglich sind?
Krastev: Zur selben Zeit hat der russische Botschafter bei der UNO in Genf gesagt, dass man sich auf einen langen Krieg einstellen muss. Die militärische Situation ist festgefahren. Es kommt zu Terroranschlägen an verschiedenen Stellen, wie bei der Ermordung von Daria Dugina, der Tochter des Putin-Ideologen Alexander Dugin. Deshalb wird es wohl eine Eskalation im Herbst geben.

profil: Es gibt aber auch erfolgreiche Gespräche – wie etwa über die Öffnung des Hafens von Odessa für die Ausfuhr von Getreide?
Krastev: Die Türkei ist die einzige ernsthafte Mediationsmacht zwischen Russen und Ukrainern. Die Europäer können nichts tun. Sollte jemand versuchen, eine eigene Rolle zu spielen, dann käme es zu einem dramatischen Bruch innerhalb der EU.

profil: In Österreich rufen konservative Politiker dazu auf, die Sanktionen zu lockern. Führt das zum Bruch der EU-Einheit?
Krastev: Ob man die Sanktionen stärkt oder schwächt, wird die russische Position auf kurze Sicht nicht verändern. In den nächsten sechs bis acht Monaten geht der Krieg sowieso weiter. Es gibt aber zwei Fallen, die die EU vermeiden sollte. Die erste ist die Idee, russischen Staatsbürgern keine Visa mehr zu geben. Wer eine Einreiseerlaubnis bekommt, ist eine Frage für die Konsulate. Aber zu sagen, dass es keinen einzigen guten Russen gibt, das ist eine sehr falsche Strategie.

profil: Und die zweite Falle?
Krastev: Die europäischen Sanktionen aufzuheben, bringt nichts. Denn die amerikanischen würden bleiben. Und vor allem im finanziellen Sektor sind das die Sanktionen, die Russland wirklich schaden. Die Europäer sollten auch nicht vergessen, dass Gas nicht unter die Sanktionen fällt. Die Energiekrise wird nicht durch die Sanktionen verursacht. Es sind nicht Österreich oder Deutschland, die einen Lieferstopp beschlossen haben. Russland setzt die Energielieferungen als Waffe ein. Russland stoppt die Lieferungen. Das größte Risiko ist – und ich glaube, da sollte die österreichische Politspitze sehr vorsichtig sein –, die EU zu spalten. Man sollte nicht vergessen, dass es für die baltischen Republiken und für Polen in diesem Krieg nicht nur um die Ukraine geht. Es geht um sie selbst. Sie fühlen sich existenziell bedroht. Wenn jemand die Sanktionen lockern will, verhärtet sich die Position der Osteuropäer.

profil: Welche Folgen hätte so ein Bruch innerhalb der EU?
Krastev: Ein Bruch innerhalb der EU bedeutet nicht nur einen Sieg für Russland, er würde auch alle anderen Bereiche der Politik betreffen und die EU politisch und wirtschaftlich enorm schwächen. Doch wenn die EU den Winter gemeinsam übersteht, dann ist das ein Akt der Stärke, der die Dynamik der Beziehungen verändern wird. Es geht darum, was man bereit ist, auf sich zu nehmen. Das ist für Demokratien gerade jetzt nach der Corona-Pandemie sehr schwierig. Das Wichtigste ist also im Moment, die Nerven zu behalten. Das ist sehr schwer. Resilienz aber ist der Name dieses Spiels: Durchhalten, bis der andere eingeht.

profil: Soll die Rolle der UNO vergrößert werden?
Krastev: Die Russen wollen Verhandlungen mit den Amerikanern. Denn für sie geht es in diesem Krieg um den Einfluss Russlands und der NATO. Für solche Gespräche aber gibt es derzeit keine Anzeichen. Man kann inoffizielle Kanäle aufbauen, aber derzeit sind noch beide Seiten damit beschäftigt, über ihren kommenden Sieg zu reden. Bei solchen Maximalpositionen wird es wohl erst zu Verhandlungen kommen, wenn Erschöpfung eintritt.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.

Tessa   Szyszkowitz

Tessa Szyszkowitz