Knaus zu Verurteilung Griechenlands: „Gerichtsurteile genügen nicht“
Über systematische illegale Abschiebungen, sogenannte Pushbacks, von Griechenland in die Türkei weiß die Öffentlichkeit schon lange Bescheid. Doch nun hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Griechenland erstmals dafür verurteilt. Ist das Urteil wegweisend, wie der Griechische Flüchtlingsrat nun sagt?
Knaus
Das hängt davon ab, wie ernst staatliche Institutionen den EGMR nehmen. Eigentlich müssen sie immer umgesetzt werden, und nationale Behörden müssten Urteile auch als Präzedenzfälle verstehen, damit diese Art von Menschenrechtsverletzungen nicht erneut geschehen. Das ist die Grundidee der Menschenrechtskonvention (EMRK).
Das ist die Theorie. Aber wie sieht es in der Praxis aus?
Knaus
Ob das Urteil praktische Auswirkungen hat, hängt davon ab, ob die griechische Verwaltung und nationale Gerichte sich daran orientieren. Eigentlich hätte es das Urteil ja gar nicht gebraucht. Dass Pushbacks verboten sind, wussten die betroffenen Institutionen ja schon vorher.
Die Idee, dass Gerichtsurteile genügen, überschätzt Gerichte. Es wird ihnen eine Verantwortung aufgebürdet, die sie allein nicht erfüllen können.
Die türkische Klägerin hat vor dem EGMR gewonnen, weil sie nachweisen konnte, dass sie sich schon in Griechenland befunden hatte, bevor sie wieder in die Türkei abgeschoben wurde. Die Beweisführung muss eindeutig sein, das ist häufig nicht der Fall. Was ändert sich also faktisch für jene, die nach wie vor illegal abgeschoben werden?
Knaus
Wenn ein Staat auf illegale Pushbacks als Strategie setzt, aus Angst, sonst die Kontrolle zu verlieren, so wie das in Griechenland seit 2020 systematisch der Fall war, und in Polen seit 2021, dann ist die praktische Frage: Wer kann den Staat zwingen, das zu unterlassen? Leugnet die Regierung den Rechtsbruch wider besseren Wissens, und versucht sie ihn zu verbergen, wird die Beweisführung für viele Opfer sehr schwierig. Selbst wenn das in Einzelfällen gelingt, ändert das die Praxis für die meisten nicht.
Was ist also zu tun?
Knaus
Wir brauchen eine Doppelstrategie: Gerichtsurteile darf man in einem Rechtsstaat nicht relativieren, sonst gibt sich dieser auf. Und Pushbacks sind rechtlich verboten. Aber das nützt uns nichts, wenn wir nicht auch eine mehrheitsfähige Strategie der humanen Grenzkontrolle haben, die irreguläre Migration reduziert. Wir brauchen eine Antwort darauf, wie man irreguläre Migration im Einklang mit der EMRK reduzieren kann, wie dies 2016 mit der EU Türkei Erklärung gelang. Der Zusammenbruch dieser Erklärung 2020 sah den Beginn systematischer Pushbacks in der Ägäis. Denkt eine Mehrheit der Regierungen in der EU, wie heute, dass Kontrolle nur durch Rechtsbruch möglich wird, dann wird es gefährlich.
Sind wir nicht längst dort angelangt?
Knaus
Ja, seit einigen Jahren schon. Und für den Rechtsstaat ist es katastrophal, wenn es jeder weiß, aber alle wegschauen. Die Idee, dass Gerichtsurteile genügen werden, das zu ändern, überschätzt Gerichte jedoch. Es wird ihnen eine Verantwortung aufgebürdet, die sie allein nicht erfüllen können.
Sollten die NGOs, die die Klagen häufig einbringen, also nicht auf Gerichte vertrauen?
Knaus
Doch, und sie sollen auch vor Gericht gehen. Aber das ist eben nur eine Teillösung. Es braucht nach solchen Urteilen auch lösungsorientierte Vorschläge, wie man irreguläre Migration anders reduzieren kann. Sonst kommt in drei Jahren das nächste Urteil. Und in der Zwischenzeit gewöhnen sich Staaten und Gesellschaften an die Erosion der Rechtsstaatlichkeit.
Griechenland muss der türkischen Klägerin nun 20.000 Euro Schadenersatz bezahlen. Für einen Staat sind das Peanuts. Was hält die Griechen davon ab, weiterzumachen wie bisher und jedem erfolgreichen Kläger kleine Beträge auszuzahlen?
Knaus
Die russische Dissidentin Svetlana Gannushkina hat einmal geklagt, dass der russische Staat Strafzahlungen bei EGMR-Urteilen als eine Art Verbrechenssteuer behandelt. Man zahlte eine kleine Summe und machte dann weiter wie bisher. Russland hat bezahlt, aber wichtige Urteil des Gerichts in Straßburg, wie bei politischen Gefangenen, nie umgesetzt. Das ist staatlicher Zynismus. Wir haben viel zur Umsetzung der Menschenrechtgerichtsurteile recherchiert und 2021 gewarnt, dass das für immer mehr Regierungen eine Option wird. Es pervertiert die Mission des Europarats. Aber ich habe auch schon westeuropäische Politiker gehört, die informell sagen: „Machen wir es doch wie die Russen!“ Was wir erleben, ist eine brandgefährliche Erosion von Institutionen, die unser aller Rechte schützen sollten.
Es braucht dringend eine politische Antwort.
Wer kann nun Druck ausüben, damit sich Griechenland an das Urteil hält?
Knaus
Die EU-Kommission hat erst im Dezember mitgeteilt, dass EU-Staaten im Sinne des Grenzschutzes auch fundamentale Rechte wie das Recht auf Asyl aussetzen dürfen. Das ist zwar nur eine Meinung, aber sie zeigt einen Trend. Wir haben in Brüssel eine Krise des EU-Rechts und dazu seit Jahren eine dramatische Durchsetzungskrise der EGMR-Urteile. Selbst bei den sogenannten „priority cases“, den wichtigsten Urteilen. Es liegt am Ministerkomitee, also an den Regierungsvertretern, Druck zu machen, dass Staaten Urteile umsetzen. Ein Gerichtshof fällt Urteile, exekutieren muss es die Exekutive. Und wir haben dazu eine Krise in Griechenland, weil es dort wenige nationale Urteile zu solchen Fällen gibt, selbst dann, wenn ziemlich offen Recht gebrochen wird.
Das klingt sehr pessimistisch. Wozu braucht es überhaupt noch Gerichtsurteile?
Knaus
Unabhängige Gerichte sind das Fundament der Rechtsstaatlichkeit. Aber sie genügen nicht. Ich fürchte, dass systematische Verletzungen von Rechten an den EU-Außengrenzen, wie wir sie seit Jahren erleben, auch durch weitere Gerichtsurteile nicht beenden werden. Es braucht dringend eine politische Antwort: eine mehrheitsfähige Politik der effektiven Kontrolle von Grenzen, aber ohne Menschenrechtsverletzungen. Sonst verlieren wir beides: Das Flüchtlingsrecht und die Rechtsstaatlichkeit.
Gerald Knaus
geboren 1970, ist Gründungsdirektor der Europäischen Stabilitätsinitiative und Autor von „Welche Grenzen brauchen wir?" (2020) und „Wir und die Flüchtlinge" (2022).