Ehemaliger Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker kritisiert "sparsame Vier"
In einem aktuellen Interview in der kommenden Ausgabe von profil macht Jean-Claude Juncker seinem Unverständnis für Österreichs Position in EU-Haushaltsfragen Luft. Zwar habe er Verständnis dafür, dass Regierungen wissen wollten, wo genau die Steuergelder hinfließen, aber: „Ich habe es nie gemocht, das weiß mein Freund Sebastian Kurz auch, dass Österreich sagt: Der europäische Haushalt darf nicht mit zusätzlichen Geldüberweisungen nach Brüssel verbunden sein.“ Wer angesichts der aktuellen Krisen denke, Europa brauche nicht mehr Geld, begehe einen „groben Fehler“, so der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission. „Wir brauchen mehr Geld für die Erasmus-Programme, für Forschung, Verteidigung, Umwelt und Klimaschutz.“ In Österreich möge Kanzler Kurz‘ Haltung für Beifall sorgen, für die Zukunftsgestaltung der EU sei sie hinderlich.
Juncker kritisiert auch die Position Österreichs in der Flüchtlingskrise: „Ich habe mich diesbezüglich mit den österreichischen Bundeskanzlern manchmal in Massenschlägereien verwickelt.“ Die Schließung der Balkanroute, die es in Wahrheit nie gegeben habe, sei ein „nicht-europäischer und vornehmlich anti-deutscher Reflex“ gewesen. „Es ist nicht wahr, was in Österreich dauernd erzählt wurde: dass Merkel die Grenzen geöffnet hat – nein, sie hat die Grenzen nicht geschlossen. Das ist ein Riesenunterschied.“ Mit ihrer Politik habe die deutsche Bundeskanzlerin 2015 das Schlimmste verhindert: „Man darf nicht den kritisieren, der einem bei der Problembehebung hilft.“
Die aktuelle Corona-Krise, so Juncker, habe vielen Menschen vor Augen geführt, wie wichtig die EU sei: „Ohne Europa geht es nicht.“ Der ehemalige Kommissionschef kritisiert die „zum Teil überflüssigen Grenzschließungen“ und „strikt nationale Reflexe“ der Mitgliedstaaten etwa beim Exportverbot für medizinisches Material: „Jeder hat sein eigenes Corona-Süppchen gekocht“. Dabei sei schnell klargeworden, dass die Nationalstaaten alleine die Probleme nicht lösen könnten. „Ich denke, dass wir in der Krise bessere Europäer geworden sind“, gibt sich Juncker zuversichtlich.
Ob als Finanzminister und Premier Luxemburgs, als Vorsitzender der Eurogruppe oder als Präsident der EU-Kommission – in den vergangenen Jahrzehnten hat Juncker maßgeblich dazu beigetragen, die europäische Integration voranzutreiben. Nun sei es an der Zeit für eine gemeinsame europäische Außenpolitik, so der 65-Jährige: „Die EU muss ihre Fähigkeit, Weltpolitik zu betreiben, verbreitern und vergrößern.“ Dazu bräuchte es die Möglichkeit, in wichtigen Fragen mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden. Dadurch könne auch dem Auseinanderdriften der Mitgliedstaaten etwa im Umgang mit China entgegengewirkt werden. Derzeit sei die EU mitunter nicht imstande, Menschenrechtsverletzungen in der Volksrepublik zu verurteilen, weil einzelne Mitgliedstaaten Sondergeschäfte mit Peking abgeschlossen hatten.
In seiner Amtszeit als Präsident der EU-Kommission fiel Juncker unter anderem durch seine unkonventionellen Begrüßungsgesten auf: Er herzte Regierungschefs, küsste Glatzen und gab dem ein oder anderen einen Klaps auf den Hinterkopf. Abstand halten fällt dem Luxemburger sichtlich schwer. In der Corona-Krise blieb aber auch Juncker nichts Anderes übrig. „Ich vermisse das sehr“, sagt er. „Ich mag Menschen. Sie zu berühren, zu herzen – die, die ich mag, manchmal auch andere – das ist für mich der direkte Weg zu ihnen.“