Eine Familie hinter Mauern
von Mohamed Amjahid
Hadscha Z. nimmt eines der Bilder auf dem Esstisch in die Hand, führt es wenige Zentimeter an ihre dicken Augenringe heran. Ihre Stimme stockt abrupt. Sie lächelt.
Auf dem Bild sitzt sie als junge Mutter mit langen schwarzen Haaren in einem blau-funkelnden, Gewand neben ihren beiden Söhnen Hadi und Osman. Die Kinder sind identisch gekleidet: weißes Hemd, etwas zu üppig geschneidertes schwarz-weiß kariertes Jackett, eine Fliege, Topfhaarschnitt. Auf dem Tisch stehen Cola-Dosen, in der Mitte thronen zwei Sahnetorten – eine mit fünf, die andere mit drei Kerzen verziert. Man sieht Mutter und Söhne, wie sie zum Auspusten ansetzten. Niedersachsen 1995.
„Meine Babys waren unzertrennlich“, sagt sie. „Sie haben sich sehr geliebt. Sie waren gute Kinder. Ich weiß gar nicht, wie es so weit kommen konnte, dass beide nun getrennt in Gefängnissen sitzen.“ Hadscha Z. weint, während sie diese Worte sagt. Sie trocknet ihre Wangen mit den langen Ärmeln ab. Ihre Söhne sitzen seit Ende 2020 in Untersuchungshaft. Anfang Juni begann vor dem Landgericht Osnabrück in Niedersachsen der Prozess gegen sie. 43 Verhandlungstage sind angesetzt – bis in den November hinein.
Lokalzeitungen sprechen von Sicherheitsvorkehrungen, die nicht einmal bei Prozessen gegen mutmaßliche IS-Anhänger üblich sind.
Es geht um zahlreiche Straftaten: Diebstahl, Wohnungseinbrüche sowie Raub. Die Staatsanwaltschaft schätzt den Schaden auf 400.000 Euro. In den vergangenen fünf Jahren sollen die Brüder mit Unterstützung Dritter in Wohnungen, Geschäftsräume und Fitnessstudios eingebrochen sein. Sogar Weihnachtsgeschenke unter Christbäumen sollen sie mitgenommen haben. Nach der Festnahme der Brüder sprach die niedersächsische Landesregierung von einem „erfolgreichen Schlag gegen die Clankriminalität“. Zahlreiche Beweise belasten die Angeklagten.
Die Staatsanwaltschaft sagt: „Die Familienmitglieder stehen im Verdacht, abwechselnd mit einzelnen zur Bande gehörenden Beschuldigten Einbruchdiebstähle zu planen und auszuführen.“
Die Familie Z. hingegen sagt: „Wir werden unfair behandelt, weil wir so heißen, wie wir heißen.“
Und so geht es in dieser Geschichte um mehr als nur um Kriminelle, die mit Luxusautos und Geldscheinen posieren. Es geht um einen „Clan“, der unter Generalverdacht steht und sich hinter hohen Zäunen vor Kameras und Reportern verschanzt. Für die Staatsanwaltschaft ist Familie Z. eine Bedrohung; Familie Z. hingegen fühlt sich vom deutschen Staat verfolgt.
Wie konnte es nur so weit kommen? Das fragt sich Hadscha Z., die Mutter, jeden Tag und jede Nacht. Auch weil es auf diese Frage keine einfachen Antworten gibt. Zum ersten Mal überhaupt spricht die Familie mit einem Reporter, nimmt Stellung zu den Vorwürfen und erzählt ihre Seite der Geschichte.
Das Haus der Familie Z. steht in einer kleinen Siedlung namens Bergfrieden: Einfamilienhäuser, flaches Land, Vogelgezwitscher und dahinter der Wald. Die abgeschiedene Siedlung gehört zur 10.000-Einwohner-Gemeinde Ostercappeln nahe der Stadt Osnabrück. Dort, hinter hohen Zäunen und einem Stahltor, liegt das Wohnzimmer von Familie Z., der wohl meist gehassten Familie Niedersachsens.
„Wir werden unfair behandelt, weil wir so heißen, wie wir heißen.“
Dies ist eine Geschichte über den Kampf gegen sogenannte Clankriminalität in Deutschland, über eine „Null-Toleranz-Politik“ gegenüber arabischen Großfamilien. Glaubt man den deutschen Innenministern in Bund und in den Ländern, sind die „Clans“ eine ernsthafte Bedrohung. Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) warnte vergangenes Jahr: „Sie bedrohen unseren Rechtsstaat und unsere freiheitliche und demokratische Gesellschaft.“ Dies ist aber auch eine Geschichte über Rassismus und vorurteilsbelastete Polizeiarbeit.
Wer also ist diese Familie Z.? Und wie konnte aus dem dreijährigen Hadi mit dem Topfhaarschnitt der Staatsfeind Nummer eins in Niedersachsen werden?
Die Familie
Beginnen wir bei den Namen. Osman, der älteste Bruder, wurde bei seiner Geburt von einem Beamten versehentlich als „Easman“ vermerkt, ein Schreibfehler, der bis heute nicht korrigiert wurde. Er soll in dieser Geschichte so buchstabiert werden, wie er von Familie und Freunden angesprochen wird: Osman.
Hadscha, die Bezeichnung für die Mutter, bedeutet Pilgerin. Es ist eine respektvolle Ansprache für eine ältere Dame auf Arabisch. Der Vater der Familie, der neben seiner Frau im Wohnzimmer sitzt, wird demnach Hadsch genannt. Er klammert sich an seinen Rollstuhl, überprüft, dass sein Katheter am Urinbeutel richtig angebracht ist, hebt den rechten Finger und bringt erst mal kein Wort über die Lippen. Hadsch Z. zittert stark. Seitdem er mehrere Schlaganfälle erlitten hat, kann er nur noch abgehackt sprechen. Deswegen übersetzt seine Tochter für ihn, wenn er mitten im Satz aufgibt. Die 41-Jährige pflegt ihre betagten Eltern und spielt, wie alle Frauen in dieser vertrackten Familiengeschichte, eine wichtige Rolle.
Im Jahr 1990 flüchtete Hadsch Z. mit seiner Frau und seinen vier Kindern aus dem Libanon. Zehntausende verließen damals im Zuge des Krieges zwischen libanesischen Kräften und der israelischen Armee die Region, viele von ihnen waren Jahrzehnte vorher schon staaten- und rechtlos geworden. Sie leben heute in ganz Europa verstreut.
Der Verteilerschlüssel glich einer Art Lotteriespiel. Für Familie Z. loste er Niedersachsen als neue Heimat aus. Wenige Monate nach ihrer Ankunft kam erst Osman, zwei Jahre später Hadi zur Welt. Die beiden jüngsten Söhne feierten immer gemeinsam Geburtstag. So wie damals auf der Fotografie aus dem Jahr 1995. Dabei gab es bei der Familie wenig zu feiern: Alle Mitglieder leben seit ihrer Ankunft oder Geburt als Staatenlose mit Dauerduldungen in Deutschland. Heute haben laut Schätzungen zwischen 10.000 und 20.000 Menschen in Deutschland einen ähnlichen Status.
„Wie konnte es so weit kommen, dass meine Kinder in getrennten Gefängnissen sitzen?“
Für ein gewisses Erspartes im Dorf reicht es dennoch schnell. Die Familie bekommt Sozialleistungen und verrichtetet Gelegenheitsjobs. Ende der 1990erJahre kauft sie das Haus, in dem sie bis heute lebt, laut eigenen Angaben für 30.000 D-Mark (inflationsbereinigt etwa 22.000 Euro). Das kommunale Gebäude war günstig zu haben, weil es zuvor als Krankenstation für Tuberkulose-Patienten genutzt worden war.
„Das Geld habe ich mühsam gespart“, sagt Hadsch Z. aufgeregt im Wohnzimmer, „es war eine Bruchbude. Ohne Dach!“ Er schnappt nach Luft. Der Vater renovierte es zusammen mit seinen älteren Söhnen und Freunden, erklärt seine Tochter. Heute erinnert das großzügige Grundstück an eine Festung. Vom Wohnzimmerfenster aus sind der große Garten und ein zwei Meter hoher Zaun zu sehen, eine Mauer aus grauem Kunststoff.
Warum hat sich die Familie eingeschlossen? „Kamerateams filmen in unser Haus, ohne vorher zu fragen. ‚Spiegel TV‘ war auch da“, sagt die Schwester. Schlimmer als die vielen Journalisten seien aber die Razzien gewesen: Dutzende Polizisten seien mitten in der Nacht ins Haus gestürmt. Sie hätten Türen demoliert. „Beamte brüllten mich an, seitdem kann ich nicht mehr normal schlafen und muss Tabletten nehmen“, sagt Hadscha Z. Regionalsender strahlen Beiträge der Razzia aus. Man sieht vermummte Einsatzkräfte mit Hunden vor dem Zaun des Hauses stehen. „Der Polizei und der Staatsanwaltschaft Osnabrück ist ein großer Schlag gegen die organisierte Clankriminalität gelungen“, heißt es im Beitrag. Bargeld, Luxusautos und Waffen seien beschlagnahmt worden. Außerdem Hunderte Kartons Kosmetika und hochwertige Kleidung.
Im Inneren des Hauses kramt die Tochter jetzt einen dicken Ordner hervor. Es ist ein Gutachten, das die Familie selbst in Auftrag gegeben hat. Dort sind Bilder des demolierten Hauses zu sehen. Im Wohnzimmer ist die Decke komplett heruntergerissen. Überall liegt Schutt. Beamte schlitzten das Sofa auf, schmissen alle Möbel um.
Familie Z. steht schon länger im Fokus der Ermittlungen. Osman, der ältere Bruder, verursachte 2013 einen Verkehrsunfall. Das Amtsgericht verurteilte ihn damals wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 16.300 Euro. Danach saß er wegen Firmeneinbrüchen in Haft und wurde erst 2018 wieder entlassen. Im Sommer 2019, als er gerade auf freiem Fuß war, passierte die Sache mit dem Haufen Bauschutt im Ostercappelner Wald.
Das war so: Petra, eine Mieterin und Nachbarin der Familie Z., wohnt wenige Schritte vom meterhohen Gartenzaun entfernt in einem zweiten Haus, das der Tochter der Familie gehört. Im Juni 2019 soll aus diesem Haus heraus Bauschutt in einem nahe gelegenen Waldstück illegal entsorgt worden sein. Laut Gerichtsakte handelte es sich um drei leere Eimer, sechs leere Dosen, fünf leere Tuben Lack und Farbe, ein Drucksprühgerät, einige abgebrochene Fliesen und Steine und eine Abo-Zeitschrift mit der aufgedruckten Adresse von Petra D. Die Polizei nahm das zum Anlass, ihre Wohnung per Durchsuchungsbefehl unter die Lupe zu nehmen. Heute ist bekannt, dass die Polizeiinspektion Osnabrück dafür eine eigene Ermittlungskommission gründete. Der skurrile Name: EK Bauschutt.
Petra D. schüttelt den Kopf. Sie trägt einen Pullover mit der neongelben Aufschrift „Good Girl“ und erzählt, wie mindestens acht Polizisten bei ihr im Haus standen. Sie habe Hadi Z., den Nachbarn, gerufen. Der habe sich mit den Polizisten gestritten. Es soll eine Rangelei gegeben haben, Hadi Z. und die Beamten hätten sich angeschrien, so berichtet es Petra D.
Daraufhin durchsucht die Polizei auch das Haus seiner Familie. Längst geht es nicht mehr um den illegal entsorgten Bauschutt, sondern um die Brüder Z. Die Familie war schon länger im Fokus der Ermittler, da einige Spuren zu ihnen führten.
Der Sicherheitsapparat stand unter Druck, Ergebnisse zu liefern. Bereits 2013 hatte Niedersachsen – als eines der ersten Bundesländer – einen Schwerpunkt in der Bekämpfung der Clankriminalität gesetzt.
Sie hörten Telefonate von Hadi Z. und seiner Familie ab, installierten Wanzen in einem Auto, registrierten Mobilfunkdaten und erstellten Bewegungsprofile, analysierten Bilder von Überwachungskameras, befragten Dutzende Zeugen, intensivierten die verdeckten Ermittlungen, suchten nach Gründen, um eine Razzia im Haus der Familie durchzuführen. Bei Nachbarn, die Kontakt zur Familie haben, wurden die Wohnungen durchsucht. Auf einem Video, das Hadi Z. aufgenommen hat, ist zu sehen, wie Beamte in Zivilkleidung Überwachungsdrohnen über dem Haus aufsteigen lassen, sich im nahe gelegenen Wald verschanzen.
Später wird mit diesen und vielen anderen Überwachungsmaßnahmen die Ermittlungsakte gegen die Familie mehr als 4000 Seiten umfassen. Darin ist gut dokumentiert, was Hadi Z. und seiner Familie von den Sicherheitsbehörden und der Staatsanwaltschaft vorgeworfen wird. Es besteht folgender Tatverdacht: „Durch die Ermittlungen des eingerichteten „EK Bauschutt“ (…) konnten bislang insgesamt 32 Straftaten ermittelt werden. (…) Es handelt sich um Fälle des besonders schweren Fall des Diebstahls, Wohnungseinbruchdiebstahl sowie Raub und Schwerer Raub.“
Clan-Kriminalität: Wie die Polizei dagegen vorgeht und warum die Definition für Diskussionen sorgt
Nicht nur das Bundesland Niedersachsen will sogenannte „kriminelle Großfamilien“ bekämpfen. Auch Nordrhein-Westfalen, Berlin und Bremen gelten als Schwerpunkte dieses Phänomens, das schon in seiner Definition umstritten ist. Es geht um Täter, die miteinander verwandt sind, einen sogenannten Migrationshintergrund haben und in ihren familiären Strukturen Straftaten begehen. Sie stammen meist aus dem Libanon oder der Südtürkei. Fast täglich gibt es in Deutschland eine Razzia gegen diese Familien. Allein in NRW fanden 2019 laut Innenministerium des Landes rund 870 Razzien gegen dort ansässige „Clans“ statt. In Niedersachsen wurden im selben Jahr 1585 Fälle registriert. Das kann auch daran liegen, dass ein „falscher Nachname“ reicht, um in die entsprechende Clan-Statistik aufgenommen zu werden. Die „Null-Toleranz-Strategie“ besagt, dass die Behörden auch gegen kleinere Vergehen vorgehen, um im Zuge der Ermittlungen schwerere Straftaten aufzudecken. Die bisherige Praxis sah so aus, dass sich die Sicherheitsbehörden auf bestimmte Familien konzentrierten. Auch in Berlin machen große Razzien gegen sogenannte Clans regelmäßig Schlagzeilen, Politiker der Hauptstadt posieren gerne vor Hundertschaften und lassen sich dabei von Kameras begleiten. In 2019 zählte die Berliner Polizei allerdings nur 213 Tatverdächtige. Laut einem Lagebild der Behörden in Nordrhein-Westfalen zur Clan-Kriminalität aus dem Jahr 2019 sind 36 Prozent der Verdächtigen mit Clan-Hintergrund deutsche Staatsbürger, 31 Prozent Libanesen, 15 Prozent Türken und 13 Prozent Syrer.
Als Hauptverdächtige gelten: der vorbestrafte Osman Z (als mutmaßlicher Anführer der Bande), Hadi Z. (als Bruder des Anführers), ihre Schwester (als mutmaßliche Verwerterin des Diebesguts), Rene K. (als mutmaßlicher Handlanger) und Anatoli N. (als ein weiterer mutmaßlicher Handlanger). Den Gesamtwert der Beute beziffern die Ermittler auf 400.000 Euro. Obwohl dem deutschen Rene K. und dem Deutschrussen Anatoli N. viele Straftaten vorgeworfen werden, steht der Clan-Charakter im Vorder-grund der Ermittlungen: Der Staat gegen die Familie Z., so könnte auch die Überschrift dieser Geschichte lauten.
Die von den Sicherheitsbehörden zusammengetragene Liste der Straftaten ist lang: In der Nacht vom 3. auf den 4. Juli 2019 sollen Mitglieder der Bande in einen Bettenladen in Paderborn eingebrochen sein, dort einen Kaffeevollautomaten, eine Digitalkamera und 1000 Euro entwendet haben. Einen Monat später sollen sie in einem anderen Bettengeschäft in Osnabrück 13.655 Euro in bar gestohlen haben. Nach einem Einbruch in einen Backshop in Steinfeld (Oldenburg) fehlten 1280 Euro in der Kasse und drei Flaschen Sputnik-Korn. Der schwerwiegendste Fall: Einer Rentnerin, die kurz vorher in Braunschweig 50.150 Euro bei einer Bank abgehoben hatte, wurde Ende März 2020 die Tasche aus ihrem Auto entwendet.
„Jeder Mensch baut mal Scheiße“, sagt Hadi Z.s Schwester. „Aber wir werden halt anders behandelt. Wir dürfen nichts im Leben, und die Polizei wirft uns so viele Sachen vor, die wir nicht getan haben.“ Aus der Sicht der Familie gehe es nicht darum, was die Brüder gemacht haben oder nicht. „Die Deutschen wollen uns einfach fertigmachen. Sie hassen uns. Sie führen Krieg gegen uns. Das ist so unfair“, sagt die Schwester.
Sind ihre Brüder also komplett unschuldige Engel? So versucht es die Schwester erst gar nicht darzustellen. Im Zuge der Razzia finden Beamte den Kaffeevollautomaten, der zuvor im Paderborner Bettenladen entwendet wurde. Für die Ermittler ein voller Erfolg. Osman und Hadi Z., Rene K. und Anatoli N. kommen in Untersuchungshaft. Es stellt sich für die Familie eine Frage, die einige Menschen in Niedersachsen und Deutschland provozieren könnte: die nach der Verhältnismäßigkeit. „Selbst die israelischen Soldaten haben uns im Krieg mit Respekt und Menschlichkeit behandelt“, sagt Hadscha Z. Dann platzt es aus ihr heraus: „Mein Sohn Hadi sitzt zu Unrecht im Gefängnis.“
Im Gefängnis
Hadi Z. hat erstaunlich gerade und weiße Zähne. Wenn er lächelt, kommt im grellen Neonlicht sein symmetrisch angelegtes Gebiss voll zur Geltung. Seine hellbraunen Augen funkeln, während er ins Mikrofon spricht, seine gut gepflegte Haut schimmert golden. Eine Scheibe trennt ihn von seinem allerersten Besucher bisher im Gefängnis.
Manchmal fährt er sanft mit seiner Hand über seinen langen Bart – den er, wie er später erklären wird, als Selbstverteidigung im Knast länger wachsen lasse. Er trägt ein Original-T-Shirt mit der Aufschrift „Versace“. Der 28-Jährige sitzt in Untersuchungshaft in einer Justizvollzugsanstalt mitten auf einem Ackerland am Rande von Göttingen.
„Mein größter Fehler“, sagt er, „war, dass ich in entscheidenden Momenten nicht Nein sagen konnte. Mein Leben ist so oder so sinnfrei.“ Er habe sich im Gefängnis für ein Beschäftigungsprogramm angemeldet. Dort kann man simple Arbeiten für Firmen verrichten, Dinge zusammenschrauben zum Beispiel. „Ich habe noch keine Antwort bekommen, ob ich das machen darf. Neulich lag ich in meiner Zelle und dachte: Zum ersten Mal in meinem Leben dürfte ich überhaupt legal arbeiten, dafür musste ich aber vorher ins Gefängnis wandern. Nichts macht Sinn.“
In einem Schreiben der Anwälte von Hadi Z. ist zu lesen, dass er nach seiner Festnahme wochenlang in Isolationshaft gesessen habe. In einer Zelle mit Schädlingsbefall, ohne Tageslicht und Frischluftzufuhr. In einer Antwort an die Anwälte bestreitet die Justizvollzugsanstalt die beschriebenen Haftbedingungen nicht. Die Justizbehörden im Bundesland, das wird auch vor dem Gericht in Osnabrück deutlich, schieben sich gegenseitig die Verantwortung dafür zu.
„Mein größter Fehler war, dass ich in entscheidenden Momenten nicht Nein sagen konnte.“
„Mein Nachname verfolgt mich überallhin. Ich hatte mal einen Ausbildungsplatz zugesichert bekommen, dann hat der Chef des Unternehmens doch einen Rückzieher gemacht“, erzählt Hadi Z. Der Chef habe beim Familiennamen Z. ein schlechtes Gefühl bekommen. „Ich werde anders behandelt, weil ich einen falschen Nachnamen trage. Das Erste, was ich tun werde, wenn ich hier rauskomme, ist, meinen Nachnamen zu ändern. Ich kann nicht mehr so leben.“
Ist das ein authentischer Hilferuf oder eine Inszenierung als Opfer?
Jochen B. ist einer der engsten Freunde von Hadi Z. Oft verbrachten die beiden lange Wochenenden auf einem Pferdehof bei Münster. Die Liebe zu den Tieren verbindet sie. Das hat auch die Polizei mitbekommen, und so gab es auf dem Hof von Jochen B. eine Razzia. Die Polizei fand jedoch nichts. Die Ermittlungen gegen die Familie Z. machen Jochen B. wütend. Sein schwarzes T-Shirt hat er in seine Jogginghose gestopft, er richtet seine graue Wollmütze und sagt: „Sie stürmen Häuser, so wie die Gestapo damals.“ Zu dieser krassen Aussage passt auch, dass der 56-Jährige eine Facebook-Seite mit dem Namen „Die neuen Kristallnächte in Deutschland“ betreibt. Dort teilt er Artikel über Rechtsextremismus und Rassismus in der Polizei mit Hunderten Followern. Der unsägliche historische Vergleich, der das Schicksal der Familie Z. mit der Verfolgung von Juden und Jüdinnen im Deutschen Reich gleichsetzt, soll seiner Fassungslosigkeit Ausdruck verleihen.
Jochen B. ist empört darüber, dass die Polizei auch seine Telefongespräche mit Hadi Z. abgehört hat. Er weiß nicht, dass ein Großteil ihrer Telefonate in der Gerichtsakte als „belanglos“ bezeichnet werden.
Der Prozess
Selbst im großen Saal des Landgerichts Osnabrück wächst die Skepsis gegenüber Medien und Rechtsstaat. Als Hadi Z. vermummt und in Handschellen beim Prozessauftakt Anfang Juni 2021 den Saal betritt, stürzen sich die Fotografen und Kameramänner auf ihn. Als wenige Minuten danach sein Mitangeklagter Rene K. auftaucht, ist das Medieninteresse geringer. Später werden auf allen Kanälen fast nur Bilder der Brüder Z. zu sehen sein. Wegen der Corona-Hygieneregeln und der höchsten Sicherheitsstufe stehen nur wenige Plätze auf der Zuschauertribüne zur Verfügung, einer der Anwesenden an diesem Tag ist der ältere Bruder Bilal Z. Seine lässige Körperhaltung auf dem unbequemen Stuhl suggeriert schon: Ich nehme das hier nicht so ernst. In einer Pause spricht er laut auf Arabisch zum Reporter, sodass selbst die Richterin am anderen Ende des Saals böse Blicke rüberschickt. Im Gespräch wird klar: Er nimmt den Justizapparat nicht wirklich ernst.
Mittlerweile wurde Hadi Z. vor Gericht im schwersten Fall – es geht um den Raub an der Rentnerin in Braunschweig – entlastet. Es liegen den Justizbehörden GPS-Daten vom Handy des Angeklagten vor, die mutmaßlich zeigen, dass Hadi Z. zu dieser Zeit nicht in Braunschweig gewesen sein soll.
Bei der Lektüre der Tausenden Seiten Ermittlungsakte fällt auf: Während bei den Brüdern Osman und Hadi Z. stets der Clan-Hintergrund betont wird, spielen beim deutschen Angeklagten Rene K. andere Erklärungen eine Rolle. So werde Rene K. laut Darstellung der Sicherheitsbehörden von den Brüdern kontrolliert und handle kriminell, um seine 60.000 Euro Schulden abzubauen. Obwohl Rene K. mehr Straftaten zur Last gelegt werden, nimmt er deutlich weniger Raum in den Ermittlungen ein.
Bei einem zweiten Besuch im Haus der Familie nach dem Prozessauftakt ist die Stimmung dennoch gelöst. Hadscha Z. sitzt diesmal im locker-sommerlichen Leopardenmuster-Look im Wohnzimmer. Hadi Z.s Schwester hat groß aufgetischt und schaufelt Hähnchenkeulen, Frikadellen, Reis und Salate auf original verzierte Versace-Teller. Nach dem Essen setzt sie sich auf die Terrasse im Garten. Sie zeigt auf das ungleichmäßig gemähte Gras: „Hadi hat das immer gemacht, ich kann das nicht so gut, habe mir immerhin große Mühe gegeben.“
Die „Null-Toleranz-Politik“ oder „Politik der 1000 Nadelstiche“ habe der Familie Z. das Leben erschwert, klagt sie.
So bekam die Familie Z. neulich einen Brief vom Bauamt, der hohe, blickdichte Gartenzaun sei nicht genehmigt worden, heißt es dort. Der Familie Z. wird außerdem Sozialbetrug vorgeworfen.
Dabei ginge es den Ermittlern darum, dass sie einfach zu viel besitzen würden, behauptet die Schwester. Die Familie hat zwei Häuser im Dorf und mindestens eine Wohnung in Osnabrück. In der Akte ist die Rede von Luxusurlauben der Brüder in Österreich und Griechenland. Extravagantes Geschirr, Kleidung und Accessoires. Allein die Kosten für die Anwälte gehen in die Zehntausende. Zwischendurch sollen einige Mitglieder der Familie Sozialleistungen kassiert haben.
Woher kommt all dieses Geld? Mit dieser Frage konfrontiert, antwortet die Schwester von Hadi Z. mit einer Gegenfrage: „Wie können so ein paar Araber nur ein gutes Leben führen? Dieses Land will nicht, dass wir ein gutes Leben führen. Wenn wir arm wären, barfuß herumlaufen würden, dann wäre alles okay. Aber sobald ich ein bisschen Geld mache, egal wie, dann ist etwas falsch. Vor allem Osman hat deswegen eine eher kindliche Haltung zur Welt entwickelt: Jetzt erst recht!“
Der ältere Bruder
Um Hadi Z. zu verstehen, muss man auch Osman Z. betrachten. Immerhin sind die beiden Brüder seit ihrer Kindheit unzertrennlich. Mit profil will der 30-jährige Hauptangeklagte nicht sprechen. Eines wird schnell klar: Er ist die Antithese von Hadi. Osman Z. ist vorbestraft, saß wegen verschiedener Delikte mehrere Jahre im Gefängnis.
Auf Fotos, die in den Gerichtsakten zu sehen sind und die von seinem Handy stammen, posiert er neben geschätzt 80.000 Euro in bar. Er hat zuvor sein Bett und den Boden seines Schlafzimmers mit den unzähligen 100- und 200-Euro-Scheinen fein säuberlich ausgelegt. Man sieht seinen breiten Rücken und den trainierten Bizeps in einer Siegerpose. Auf anderen Bildern posiert er mit einer Waffe in einer Schießanlage, mit zwei Luxuswagen und mit einer schweren Goldkette, auf der das Versace-Logo prangt.
Osman inszeniert sich als Boss und Gangster. Während sein Bruder Hadi den Gerichtssaal vermummt, gebückt, ja ängstlich betreten hat, stolziert der ältere Bruder mit erhobenem Haupt, eisernem Blick und nur mit einer dünnen OP-Maske vor Nase und Mund in den Schwurgerichtssaal. So als wolle er der Öffentlichkeit zurufen: Ihr wollt den Clankriminellen aus den Netflix-Serien sehen? Ihr bekommt ihn!
Osman Z. umgibt sich auch gerne mit Frauen. So auch mit Christina A. Die junge blonde Deutsche hat seinen Namen groß auf ihren Bauch tätowieren lassen. Fotos aus dem Gerichtsakt zeigen sie bauchfrei neben ihrem Lover bei einem Luxusurlaub im Juli und August 2020 auf der griechischen Insel Santorin. Mit einem gemieteten Lamborghini sei Osman Z. mit seiner Geliebten damals in den Süden gefahren. In den Akten steht, dass er für die zehntägige Reise 4900 Euro bezahlt habe.
Die Familie Z. sagt, dass „diese Christina“ sich seit der Verhaftung von Osman nicht hat blicken lassen. Die Schwester hofft aber sowieso, dass sich ihr Bruder fortan auf eine andere Frau konzentriere. Eine, die ihn in die Realität des Lebens zurückhole. Eine wie seine jetzige Freundin Filiz T.
Filiz T. und Osman Z. kennen einander seit ihrer Jugend. Die 31-Jährige arbeitete zuletzt ausgerechnet in dem Bettengeschäft, das die Bande mutmaßlich in Osnabrück ausgeraubt haben soll. Die Ermittler gingen zeitweise davon aus, dass Filiz T. den Einbrechern geholfen haben könnte, ließen aber von dieser These wieder ab. Emotional steckt die junge Frau mit den langen schwarzen Haaren und den symmetrisch gestylten Augenbrauen auf jeden Fall tief drin. „Ja, ich liebe Osman. Deswegen mache ich das alles mit“, sagt Filiz T. Sie sitzt am Steuer ihres Kleinwagens, der mitten im Wald im Schlamm stecken geblieben ist. Es nieselt, und Filiz T. wollte dem Reporter die Stelle zeigen, wo sich die Polizisten wochenlang verschanzt hatten, um die Familie zu beschatten. „Das ist doch verrückt, was der deutsche Staat hier treibt. Osman und ich wollen heiraten, aber er darf nicht. Das ist unglaublich“, sagt sie und drückt auf das Gaspedal.
„Wir haben Angst, dass Hadi das nicht durchstehen wird“, sagt sie. Es fällt auf, dass sie nur dann über Osman spricht, wenn sie auf ihn angesprochen wird. Für sie alle steht Hadi im Mittelpunkt, der sympathische kleine Bruder, der maximal ein paar Dummheiten mitgemacht haben und wegen der angeblichen Clan-Fixierung deutscher Politiker und Gerichte nun hart bestraft werden soll. So stellt es die Familie zumindest dar. Über Osman, der vorbestraft ist und den kleinen Bruder mutmaßlich in den Schlamassel hineingezogen hat, spricht niemand so gerne.
Hinter der Glasscheibe in der JVA Rosdorf bei Göttingen darf Hadi Z. ein paar Minuten länger mit seinem Besuch sprechen. Selbst das Gefängnispersonal glaubt, dass die Bestrafung von Hadi Z. etwas zu weit geht und zeigt sich äußerst großzügig.
Wen würden Sie am liebsten in den Arm nehmen, Hadi Z.?
„Meine Schwester. Sie versteht mich. Ich vermisse sie sehr. Meine Mama auch natürlich. Sagen Sie ihr aber bitte nicht, dass ich meine Schwester als Allererstes genannt habe.“