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Eine Ukrainerin erzählt: "Wie uns der Krieg in der Ukraine verändert hat"

Die 27-Jährige Ukrainerin Kristina Nikolaienko erzählt, was sie in einem Jahr Krieg erlebte: die Angst vor den Raketen, die Sorge um den Onkel an der Front, die Absurdität eines befreundeten russischen Soldaten im Einsatz gegen die Stadt seiner Großeltern. Eine Geschichte von Trauer, Wut und Glück.

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Kristina Nikolaienko wohnt in derselben Wohnung im Kiewer Bezirk Schewtschenko wie vor einem Jahr, sie studiert weiterhin Internationale Betriebswirtschaft. Sie lebt mit ihrem Partner Dmytro zusammen, beide sind gesund und unversehrt. Kann man sagen, dass der Krieg, der vor einem Jahr ausgebrochen ist, Kristina bisher verschont hat?

Nein, der Krieg trifft alle. Abseits der Front ist die Gefahr, getötet oder verwundet zu werden, zwar viel geringer, doch alles ist durcheinandergekommen, über allem lastet die Ungewissheit, ob die Ukraine sich am Ende gegen die russischen Streitkräfte verteidigen können wird oder doch irgendwann kapitulieren muss, und was danach kommt. In tausendfacher Weise greift der Krieg in das Leben aller Bürgerinnen und Bürger ein, in die großen existenziellen Fragen ebenso wie in den Alltag.

Kristina Nikolaienko vor einem zerschossenen Schild in Kiew.

Der Morgen, als der Krieg beginnt

24. Februar 2022. Es ist vier Uhr früh in Kiew. Kristina Nikolaienko und ihr Freund Dmytro werden vom Klingeln des Mobiltelefons aus dem Schlaf gerissen. Kristinas Mutter ist dran: "Der Krieg hat begonnen!" Die Nachricht ist gleichermaßen schockierend wie irreal. Kristina erinnert sich heute, dass sie es nicht fassen konnte und wieder einschlief. Eine Stunde später wird sie erneut geweckt. Diesmal vom Kriegslärm. Sie und Dmytro hören zum ersten Mal in ihrem Leben Raketen einschlagen und rätseln, wie nahe die Detonationen sind. In ihrem Viertel? Oder doch weiter weg?

Der Krieg kommt nicht überraschend. Seit Monaten hat Russlands Präsident Wladimir Putin Streitkräfte entlang der ukrainischen Grenze stationiert. Der Westen hat lange versucht, ihn von einem Angriffskrieg abzuhalten. Vergeblich, wie sich jetzt herausstellt. Putin vermeidet eine formelle Kriegserklärung. In einer voraufgezeichneten Fernsehansprache spricht er von einer "militärischen Spezialoperation" zur "Demilitarisierung und Entnazifizierung" der Ukraine.

Die internationale Öffentlichkeit ist angesichts des Überfalls Russlands auf die Ukraine bestürzt. Für die 44 Millionen Ukrainer jedoch ändert sich schlagartig das ganze Leben. 2014 waren es noch paramilitärische russische Truppen, die in der Region Donbas Gebiete besetzt hatten, jetzt aber gilt der Angriff dem Staat als solchen. Überall im Land herrscht Krieg, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Niemand kann sagen, ob es die Ukraine als freies, demokratisches Land am Ende der russischen Operation noch geben wird. Was bedeutet die Bedrohung für die Existenz der Bürgerinnen und Bürger? Die Verunsicherung ist grenzenlos.

Kristina ist verängstigt, verloren. Sie weint und läuft in der Wohnung umher. Dmytro versucht, sie zu beruhigen. Sie packt einen Rucksack mit den wichtigsten Sachen, falls sie flüchten müssen. Dmytro schreit sie an, sagt, man könne jetzt nichts tun, sie müssten vermeiden, in Panik zu geraten. Dann kauern sie sich eng aneinander und beratschlagen. Sollen sie bleiben oder weglaufen? Am Bahnhof ist bestimmt der Teufel los, vermuten sie. Kristina und Dmytro beschließen, ein paar Tage auszuharren, um die Lage besser einzuschätzen.

Wo können sie sich in Sicherheit bringen? Im Westen des Landes? Im Ausland?

Bilder der Zerstörung

Dieses Foto entstand während einer Fahr, die Kristina mit einer Freundin in die zerstörten Städte Irpin und Butscha unternommen hat. 

Der Angriff auf die Heimatstadt

Kristina und Dmytro kommen beide aus der Stadt Mykolajiw im Süden des Landes, nahe der Schwarzmeerküste. Odessa liegt 100 Kilometer südwestlich, die Hafenstadt Cherson 60 Kilometer südöstlich. Kristinas Mutter lebt in Mykolajiw, der Vater ist beruflich im Ausland. Dmytros Mutter wohnt ohne Partner in der mehrheitlich russischsprachigen 450.000-Einwohner-Stadt. Die Mütter raten ihren Kindern davon ab, nach Mykolajiw zu kommen. Die russische Armee rückt bei ihrer südlichen Offensive auf die Stadt vor. Am dritten Kriegstag kommt es zu Gefechten, Vitaly Kim, der Gouverneur des Oblasts, ruft die Bevölkerung auf, Barrikaden zu errichten. Tags darauf postet er auf seinem Telegram-Account: "Mykolajiw gehört uns! Es lebe die Ukraine!"Doch in den folgenden Tagen greifen die russischen Streitkräfte wieder an, und Mykolajiw wird schließlich bis November Kriegsschauplatz bleiben. Mehrmals werden auch Wohnhäuser von Raketen getroffen, Bewohner kommen ums Leben.

Kristinas Familie besitzt in Mykolajiw einen Betrieb mit zehn Mitarbeitern, in dem Möbel hergestellt werden. Sie fertigen aus Metall eine Sperre an, die Panzer aufhalten soll. Außerdem produzieren sie Molotowcocktails. Die Bewohner der Stadt errichten Reifenstapel, die sie in Brand stecken, wenn die Russen anrücken. Die Sperren und Molotowcocktails sollen die feindlichen Truppen aufhalten, damit die ukrainischen Soldaten sie unter Beschuss nehmen können.

Krieg im Mobiltelefon

In Kiew fühlen sich Kristina und Dmytro sicherer. Wenn die Sirenen aufheulen, laufen sie in die Schutzräume der nahe gelegenen Universität. Dort hocken sie wie viele andere in den ersten Kriegswochen in der Kälte und fragen sich, ob die Bunker mehr Schutz bieten als die eigene Wohnung. Bald beschließen sie, auch bei Raketenalarm zu Hause zu bleiben.

Fünf Freunde ziehen vorübergehend in die Wohnung von Kristina und Dmytro ein. Alle schlafen am Boden, denn die Betten stehen zu nahe an den Fenstern, und Kristina hat die "Zwei-Wände-Regel" gelernt-es sollen immer mindestens zwei Wände zwischen ihr und dem nächstgelegenen Fenster sein.

"An die ersten zwei, drei Kriegswochen habe ich fast keine Erinnerungen",sagt Kristina. Sie klebt unentwegt am Mobiltelefon und scrollt durch Nachrichten. Sie benutzt Kurznachrichten-und Social-Media-Apps-Telegram, Viber, Instagram, TikTok-,um sich zu informieren. Was sie sieht und liest, raubt ihr den Schlaf und macht ihr Angst. Die russische Invasion hat enorme Ausmaße: Von Belarus schiebt sich eine Front Richtung Kiew, eine weitere bewegt sich im Nordosten Richtung Charkiw, im Süden attackieren die Streitkräfte von der bereits seit 2014 besetzten Halbinsel Krim aus Cherson, Mykolajiw und Saporischschja, und im Südosten versuchen die Truppen, weitere Gebiete in Donezk und Luhansk zu erobern. Anfangs rechnen so gut wie alle Experten mit einem raschen Erfolg der zahlenmäßig überlegenen russischen Armee, auch wenn der erste Versuch, Kiew einzunehmen und die Regierung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu stürzen, vereitelt werden kann.

Selenskyj verhängt das Kriegsrecht und ordnet die Mobilmachung aller Männer zwischen 18 und 60 Jahren an. Für sie gilt ein Ausreiseverbot.

Kristina ist Studentin der Internationalen Betriebswirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien. Eine Prüfung im Fach Steuerrecht fehlt ihr noch zum Bachelor. Doch was bisher ihr Leben war, ist plötzlich in weite Ferne gerückt. Dmytro sagt zu Kristina, er werde natürlich einrücken, wenn er den Befehl der Armee erhalte. "Ich unterstütze dich dabei",antwortet Kristina. Sie selbst würde auch in die Armee eintreten, nicht mit der Waffe, aber vielleicht als Fahrerin, sagt sie.

Bis heute ist Dmytro, 29, nicht einberufen worden. Er ist der Einzige in der Familie, der einen Job hat, er arbeitet als IT-Facharbeiter. Doch Nikita, einer von Kristinas Freunden aus der Kindheit in Mykolajiw, bekommt bald nach Kriegsbeginn einen Einberufungsbefehl. Sie hält mit ihm über den Kurznachrichtendienst Signal Kontakt. Er darf ihr nicht sagen, wo er im Einsatz ist. Die Dialoge bleiben knapp. "Wie geht es dir?"-"Alles ok."-"Bleib stark und pass auf dich auf."

Präsident Selenskyj ist die richtige Person zur richtigen Zeit. 

Kristina Nikolaienko

Kristina wird zur Patriotin

Im Westen wird Präsident Selenskyj als Held gefeiert. Sofort zu Kriegsbeginn bieten ihm die USA an, ihn außer Landes in Sicherheit zu bringen, doch er lehnt ab und organisiert den Widerstand gegen die Invasoren. Er wendet sich in Videoansprachen an die westliche Öffentlichkeit und fordert von westlichen Regierungen Waffenlieferungen an die Ukraine und Sanktionen gegen Russland. Mit Erfolg. Jeden Tag hält Selenskyj auch eine Rede an die eigene Bevölkerung, die auf der Website der Präsidentschaft online gestellt wird. Unmittelbar nach Kriegsausbruch verfolgt Kristina wie viele andere Ukrainer jede der Ansprachen.

Selenskyj sei "die richtige Person zur richtigen Zeit",sagt Kristina. Bei der Präsidentschaftswahl 2019 hat sie ihm nicht ihre Stimme gegeben. Sie fand damals, dass er als ehemaliger Schauspieler und Komiker Politik und Entertainment vermischte, und das verursachte ihr Unbehagen. Sie hatte Angst, einer Manipulation aufzusitzen. Heute sieht sie Selenskyj mit anderen Augen. Er habe eine faszinierende Veränderung durchlebt, sagt Kristina. Ein paar ihrer Freunde hatten schon früher für ihn gearbeitet und gemeint, er sei ein integrer Mensch, und vielleicht zeige sich das jetzt einfach besser, vermutet sie.

Kristina ist eine moderne, weltoffene Frau, die mehrere Jahre in Wien gelebt hat. Sie genoss es, im Ausland zu studieren und Reisen in Europa zu unternehmen. "Alles war großartig",sagt sie, und ihre Stimme verrät, dass ihr diese Erinnerung fremd geworden ist. Kristina hatte immer schon das Gefühl, dass die Ukraine ihr Zuhause bleiben werde, und seit im Land Krieg herrscht, kann sie sich beweisen, dass es ihr damit ernst ist.

Ein paar Mal fuhr Kristina in den vergangenen Monaten mit ihrer Mutter nach Österreich, um Hilfsgüter zu besorgen, und jedes Mal, wenn sie zurückkehrte, sagte Kristina zu ihrer Mutter: "Es fühlt sich so richtig an, hier zu sein."

Auf ihrem Instagram-Account postet Kristina ein Foto der "Mutter-Heimat-Statue",einer 60 Meter hohen Frauenskulptur, die während der Zeit der Sowjetunion in Kiew errichtet wurde, dazu ein Gedicht, das mit den Worten endet: "Steh auf, Kiew! Alles wird Ukraine sein!"

"Mykolajiw gehört uns!"

Präsident Selenskyj vor einem zerstörten Regierungsgebäude in Mykolajiw. 

Der Onkel muss an die Front

Ende April des vergangenen Jahres kommt Kristinas Vater, ein Frachtschiffkapitän, der bei Kriegsausbruch in Brasilien unterwegs war, heim in die Ukraine. Erst fährt er nach Mykolajiw, wo die russische Armee viele zerstörte Gebäude hinterlassen hat. Dann meldet sich der 50-Jährige freiwillig zur Armee. Doch beim Gesundheitstest stellt sich heraus, dass er ein bis dahin nicht diagnostiziertes Herzleiden hat, und er wird abgelehnt.

Doch Kristinas Onkel Ruslan, der 45 Jahre alte Bruder ihrer Mutter, wird eingezogen. Er hatte bereits seit 2014 für die Streitkräfte gearbeitet, jetzt muss er an die Front. Aus Sicherheitsgründen darf er auch der Familie nicht sagen, wo er zum Einsatz kommt. Irgendwann hören sie, er sei an der östlichen Front im Donbas.

Natürlich habe sie Angst um ihren Onkel, sagt Kristina. Doch sie ist davon überzeugt, dass sich die Ukraine wehren muss: "Wenn wir diesen Krieg verlieren, gibt es für uns Ukrainer keine Zukunft mehr."

Ein Moment des Glücks

Dann, im Juni, erleben Kristina und Dmytro "einen hellen Tag unter hundert dunklen",wie Kristina auf Instagram schreibt. Die beiden heiraten.

Sie hatten den Entschluss dazu schon vor Monaten gefasst, lange bevor der Krieg ausbrach. Sie hatten von einem großen Fest geträumt, ihre Familien und Freunde eingeladen, Musiker engagiert und ihnen einen Vorschuss gezahlt. Schließlich war es unmöglich, unter den Umständen eines Krieges zu feiern. Einige Freunde wurden vertrieben, manche waren im Ausland, andere lebten unter russischer Besatzung in der Stadt Cherson, die erst im November wieder von ukrainischen Truppen befreit wurde.

Die Hochzeit fand in einem Bezirksamt in Kiew statt, Kristina Eltern und ihre Großmutter waren da, Dmytros Mutter und ein paar Freunde. Kristina trug einen beigen Rock, einen weißen Blazer und einen Schleier, Dmytro einen grauen Anzug. Das Gebäude des Bezirksamtes war durch einen Raketentreffer in Mitleidenschaft gezogen, während der Zeremonie hörte man den Wind rauschen. "Es war anders, als ich es mir vorgestellt hatte, aber ich werde das Gefühl nie vergessen",sagt Kristina.

Wenn ein junges Paar heiratet, ist das üblicherweise ein Moment, in dem Zukunftspläne geschmiedet werden. Doch daran, Kinder zu bekommen, ist jetzt nicht zu denken. Kristina weiß auf die Frage nach ihrer Zukunft keine Antwort. Sie sagt, sie müsse in der Gegenwart leben, nicht auf die Zukunft warten, schließlich ist sie 27. Aber auch das ist leichter gesagt als getan. Sie arbeitet für den Möbelladen ihrer Familie, die in Kiew einen Ausstellungsraum betreibt. Wenn sie morgens zur Arbeit kommt, gibt es seit den russischen Angriffen auf die Elektrizitätsinfrastruktur acht Stunden lang keinen Strom. Die Kundschaft ist rar, das Gehalt reduziert.

Im Sommer fahren Kristina und Dmytro für drei Tage in die ukrainischen Karpaten. Auf Flitterwochen? Kristina muss lachen.

Freunde werden Feinde

Kristinas Vater hat einen Freund, der in Mykolajiw geboren ist und seit vielen Jahren in Russland lebt. Sein Sohn ist jetzt als Soldat in der Russischen Armee auf der Krim stationiert. Von dort greift Russland auch Mykolajiw an, wo die Großeltern des jungen Soldaten wohnen. "Eine absurde Situation", sagt Kristina. Sie hörte mit, als ihr Vater mit dem Freund in Russland telefonierte. Sie debattierten ein wenig, aber es blieb ein kurzes Gespräch.

Kristina sagt, die russischen Freunde würden nichts tun, um den Krieg zu stoppen. "Sie warten bloß und hoffen auf das Beste." In ihren Köpfen sei nichts als Propaganda.

Unter ihren Freunden in Wien seien auch Russen gewesen. Fünf Jahre lang habe sie mit ihnen Kontakt gehabt, erzählt Kristina. Seit Kriegsausbruch habe sich keiner von ihnen bei ihr gemeldet und gefragt, wie es ihr gehe.

Nikita muss nach Bachmut

Nikita, Kristinas Jugendfreund, der in der Ukrainischen Armee dient, sendet im Herbst per Kurznachrichtendienst Signal eine Nachricht, dass er nach Bachmut verlegt worden sei.

Die ostukrainische Stadt im Oblast Donezk ist seit Monaten eine der am heftigsten umkämpften Städte. Die russische Söldnertruppe Wagner führt hier einen sogenannten Abnutzungskrieg und schickt eine Einheit von Rekruten nach der anderen in die Schlacht. Rund 800 russische Soldaten werden hier pro Tag getötet, schätzen britische Militärbeobachter. Die 70.000-Einwohner-Stadt ist mittlerweile fast völlig zerstört, die Zivilbevölkerung getötet oder vertrieben. "Ein Sinnbild des Grauens" nennt die deutsche Wochenzeitung "Die Zeit" diesen Ort.

Kristina hat Angst um Nikita und befürchtet das Schlimmste. Schließlich bekommt sie im Dezember eine Nachricht, dass er verwundet worden ist. Er sei zunächst in ein Spital in Dnepro gebracht worden und dann zurück nach Kiew. Er hatte auf russische Soldaten gefeuert, sie sahen ihn und beschossen seine Position mit Granaten. So jedenfalls erzählte es Nikita Kristina. Ein Splitter blieb in seinem Brustkorb stecken. Sechs Stunden lang lag er am Boden und wartete.

Wo war ich, als mein Freund da lag und dachte, er müsse sterben? Solche Fragen plagen Kristina. Das ist einer der Gründe, weshalb sie sich selbst keine Zerstreuung zugestehen will. Sie besucht keine Bars, will nicht feiern und trinken. Ihr Ehemann Dmytro und sie hören gern Musik, und sie rechtfertigt das vor sich selbst damit, dass ihr das Kraft gebe, stark und positiv zu bleiben.

Silvester

Am letzten Tag des Jahres gehen Kristina und Dmytro in Kiew auf einen Markt, um Lebensmittel für das Abendessen zu kaufen. Plötzlich Sirenen, ein Raketenangriff. Kristina meint, am Himmel russische Raketen und ukrainische Luftabwehrraketen auszumachen. Es ist laut, Menschen schreien, rennen. Kristina sagt, sie verliere in solchen Situationen die Kontrolle über sich und gerate in Panik. Dmytro reißt sie mit sich. Sie rennen und suchen Schutz; rennen weiter und suchen wieder Schutz. Kristina hat nur einen Gedanken: "Ich will nicht sterben."

Dann ist der Alarm zu Ende. Sie gehen nach Hause. Am Abend essen sie wie geplant und wünschen einander "Happy New Year".Kristina postet auf Instagram ein Foto von diesem Abend. Sie trägt ein Weihnachtsmannhütchen, im Hintergrund steht der Christbaum, vorn ihre zwei Hunde. Mögen alle Probleme im alten Jahr bleiben",schreibt sie.

Aber das Jahr hat an Kristina gezehrt. Sie sagt, sie sei in keiner guten Verfassung. Am 15. Jänner dieses Jahres trifft eine russische Rakete ein Hochhaus in Dnipro, der viertgrößten Stadt der Ukraine. 45 Menschen, darunter sechs Kinder, sterben, weitere 20 bleiben vermisst. Kristina sieht die Nachricht und fühlt sich "zerstört und verloren". Das Gebäude habe so ausgesehen wie viele in der Ukraine, auch das, in dem sie selbst wohnt. Seit Kriegsbeginn sind laut Zählung der Vereinten Nationen mehr als 7200 Zivilisten getötet worden, darunter mehr als 400 Kinder. Mindestens 11.000 wurden verletzt. "Es ist bloßer Zufall, ob es einen trifft", sagt Kristina bitter.

Wie geht es dir? - Alles ok. - Bleib stark und pass auf dich auf! 

Dialog zwischen Kristina und einem Jugendfreund, der in der ukrainischen Armee dient.

Wie würde ein Sieg aussehen?

Kristina sagt, sie sei depressiv. Nicht im klinischen Sinn, aber über allem liege permanent ein Gefühl der Traurigkeit und der Angst. Vor dem Krieg sei sie lustig gewesen und gern in Gesellschaft, sie war bekannt für ihr lautes Lachen. Jetzt ist sie still, gedrückt und redet nicht gern, außer über die Lage der Ukraine oder über ihre Arbeit.

Das Leben ist gleichzeitig verlangsamt und chaotisch. Onkel Ruslan ist vermisst, die Familie hat widersprüchliche Nachrichten von Soldaten und Freiwilligen der NGOs erhalten. Ein Gerücht besagt, er halte sich in einem Spital auf russischem Territorium auf.

Dmytro hat eben seinen Job verloren, aber er meint, er habe gute Aussichten, wieder was zu finden.

Kristina soll im April ihre letzte Prüfung im Fach Steuerrecht ablegen.

Die angekündigten Waffenlieferungen machen Kristina Hoffnung. Sie kennt sich mit diesen Dingen nicht aus, aber sie hat gelesen, dass es sich um die besten Panzer der Welt handle und dass die ukrainischen Streitkräfte damit die russische Armee zurückdrängen können.

Wie würde ein Sieg aussehen? Die Städte müssten befreit werden, sagt Kristina, ebenso wie die besetzten Territorien in Donezk, Luhansk und die Krim. Die Verschleppten müssten nach Hause kommen. Onkel Ruslan auch.

Dann will Kristina mit ihrem Mann und ihrer Familie zu Abend essen. Keine laute Feier, nur ein stilles, friedliches Abendessen.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur