Griechenland

Entführung von Flüchtlingen auf Lesbos: Hat das Skandal-Video Folgen?

Der Österreicher Fayad Mulla hat die Entführung und illegale Abschiebung von Flüchtlingen vor der Insel Lesbos dokumentiert. Nun kämpft er dafür, dass wegen der Rechtsbrüche an den EU-Außengrenzen ermittelt wird.

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In den Mittagsstunden des 11. April spielt sich in einer einsamen Bucht auf der griechischen Insel Lesbos eine bemerkenswerte Szene ab. Aus einem weißen Kleinlaster steigen zwölf Menschen, Männer und Frauen mit kleinen Kindern an der Hand, eine junge Mutter trägt ihren Säugling auf dem Arm. Vermummte führen die Gruppe an den Strand, weisen sie an, in ein Motorboot zu steigen, und bringen sie zu einem Schiff der hellenischen Küstenwache. Es fährt die Menschen Richtung Osten, Richtung Türkei, um sie dann mitten in der Ägäis auf einer aufblasbaren Rettungsinsel auszusetzen.

Bei der beschriebenen Szene handelt es sich um eine mutmaßliche Entführung mit anschließendem Pushback. Illegale Zurückweisungen von Schutzsuchenden sollen an den Außengrenzen der EU in den vergangenen Jahren hundertfach geschehen sein. Doch diesmal wurde der Rechtsbruch aufgezeichnet.

Wenn ein solches Verbrechen geschieht, ruft man normalerweise die Polizei, aber die ist in diesen Fällen offenbar der Täter.

Fayad Mulla

Vorstand der Links-Partei "Wandel"

In einigen Hundert Metern Entfernung sitzt Fayad Mulla im Schutz eines Gebüschs und filmt alles mit. In den vergangenen zwei Jahren hat der Vorsitzende der österreichischen Links-Partei „Wandel“ viel Zeit auf den Inseln der Ägäis verbracht. Er hat beobachtet, wie Vermummte mit der griechischen Küstenwache zusammenarbeiten, um Migranten zurück aufs Meer zu bringen. „Die Entführungen gehören zum Alltag“, sagt Mulla. „Wenn ein solches Verbrechen geschieht, ruft man normalerweise die Polizei, aber die ist in diesen Fällen offenbar der Täter.“ Immerhin habe er Beweise dafür, dass die Polizei eng mit den Vermummten zusammenarbeite.

Also beschloss Mulla, die Verbrechen selbst aufzudecken.

Mulla hat Glück an diesem Tag Mitte April. Tags zuvor sind 103 Menschen auf Lesbos angekommen. Die NGO „Ärzte ohne Grenzen“ versorgt 91 von ihnen, die restlichen zwölf sind verschwunden. Mulla weiß, von welcher Bucht aus die Deportationen meist stattfinden. Also legt er sich auf die Lauer.

Zwölf Menschen, darunter acht Kinder

Das Objektiv hinter dem Tarnnetz, das Mulla sicherheitshalber angebracht hat, ist stark genug, um zu erfassen, wie die Menschen auf das Schiff der Küstenwache verladen werden; wie in etwa zwölf Kilometern Entfernung ein aufblasbares Floß ins Wasser geworfen wird; und wie sich das Schiff entfernt und die Menschen auf der schwimmenden Insel zurücklässt.

 

Wir haben nicht damit gerechnet, den Tag zu überleben.

Naima Hassan Aden

Flüchtling aus Somalia

Noch im April schickt Mulla sein Videomaterial an die „New York Times“, Ende vergangener Woche erschien ein ausführlicher Artikel über den Fall. Die Journalisten hatten Mullas Video auf Echtheit geprüft und elf der ausgesetzten Migranten in einem türkischen Flüchtlingslager ausfindig gemacht, darunter die junge Mutter mit ihrem sechs Monate alten Sohn sowie eine weitere Frau mit ihren sechs Kindern. Die Erzählungen der Geflüchteten deckten sich mit den Videoaufnahmen. „Wir haben nicht damit gerechnet, den Tag zu überleben“, sagte Naima Hassan Aden, die Mutter des Säuglings, zur New York Times.

Mit seinen Aufzeichnungen ist Mulla ein regelrechter Coup gelungen. Hinweise auf illegale Pushbacks an den Außengrenzen der EU gibt es seit Jahren. Medienrecherchen haben nachgewiesen, dass die griechische Küstenwache in der Ägäis mithilfe der europäischen Grenzschutzagentur Frontex Geflüchtete abfängt und in Schlauchbooten auf See aussetzt. Doch es fehlte ein Beleg dafür, dass selbst Menschen, die es bereits auf griechischen Boden geschafft haben, entführt und auf dem offenen Meer ausgesetzt werden – bis jetzt.

Pushbacks verstoßen gegen EU-Recht

Der Rechtsbruch sei systematisch, sagt Mulla, und das seit Jahren. Dabei ist Griechenland verpflichtet, Schutzsuchenden, die griechisches Territorium erreichen, ein Asylverfahren zu ermöglichen. Die Pushbacks verstoßen gegen griechisches Recht, gegen EU-Recht und gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Finanziert werden sie – zumindest teilweise – durch europäische Steuergelder, denn die EU überweist Griechenland für die Versorgung von Menschen und den Schutz der Außengrenzen Summen in Milliardenhöhe. Laut „New York Times“ wurde auch „Vessel 617“, das Boot der Küstenwache aus Mullas Video, mit Geldern aus EU-Töpfen gekauft.

Finanziert die Europäische Union systematische Rechtsbrüche in der Ägäis?

Die griechische Regierung streitet Gewalt gegen Flüchtlinge und illegale Rückweisungen stets ab. Konkrete Fälle von Pushbacks kommentiert Athen in der Regel nicht, diesmal jedoch hat sich Premier Kyriakos Mitsotakis bei einem Interview mit dem Fernsehsender CNN geäußert. Auf die Frage, ob eine Untersuchung eingeleitet werde, sagte er: „Ich nehme den Vorfall sehr erst, er wird bereits von meiner Regierung untersucht.“

Unklar war bis Redaktionsschluss am Mittwoch, ob auch unabhängige Stellen zu den Rechtsverstößen an Griechenlands Außengrenzen ermitteln.

Am vergangenen Sonntag forderte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson genau das: Die griechischen Behörden sollten den Fall „vollständig und unabhängig untersuchen“. Auch Mulla hofft, dass der griechische Rechtsstaat aktiv wird. Doch es wäre das erste Mal. Eine profil-Anfrage an das Justizministerium in Athen blieb unbeantwortet.

Mulla hat den Fall an die Europäische Staatsanwaltschaft EPPO sowie an das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung Olaf weitergegeben und 30 Gigabyte an Videomaterial an Frontex geschickt. Am vergangenen Dienstag sitzt der 42-Jährige im Gassenlokal seiner Partei „Wandel“ im 7. Wiener Gemeindebezirk und wartet. Die Veröffentlichung des Videos war nur der erste Schritt. Als Nächstes will Mulla die systematischen Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen der EU, die Gewalt gegen Schutzsuchende und die illegalen Pushbacks beendet sehen.

In den vergangenen Tagen haben sich etliche Journalisten an ihn gewandt; Mulla würde sein Material auch mit den griechischen Behörden teilen, doch bisher hat sich niemand bei ihm gemeldet. Dabei habe die „New York Times“ Regierungsvertreter aus Athen, die das Videomaterial erbaten, explizit an ihn verwiesen.

Was braucht es noch an Beweisen, damit endlich geltendes Recht angewandt wird?

Fayad Mulla

Sollte Griechenland keine unabhängige Untersuchung einleiten, könnte auch die Europäische Union aktiv werden. Sie kann ein eigenes Verfahren einleiten und die Unterstützung Griechenlands durch Frontex-Beamte beenden, wie es in Ungarn erfolgt ist. Weil der Grenzschutz europäisches Recht beachten muss und Pushbacks zweifellos gegen dieses verstoßen, kann die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Am Ende könnte die Angelegenheit vor Gericht landen. Urteilt der Europäische Gerichtshof, dass Griechenland gegen EU-Recht verstößt und stellt Athen diese Praxis nicht ab, würden hohe Geldstrafen verhängt.

Doch die EU-Kommission agiert in Fällen wie diesen in der Regel zurückhaltend.

„Was braucht es noch an Beweisen, damit endlich geltendes Recht angewandt wird?“, fragt Mulla. Er würde seine Videos gerne der EU-Kommission zur Verfügung stellen. Doch auch Innenkommissarin Johansson hat bislang nicht von sich hören lassen.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.