"Es geht um die Zukunft dieses Planeten"
Zum Videointerview mit profil und einer Gruppe von europäischen Korrespondenten erscheint die schottische First Minister Nicola Sturgeon mit einer klaren Ansage: Für die Zeit des UN-Weltklimagipfels Conference of Parties COP26 in der schottischen Stadt Glasgow ruht ihr Disput mit Boris Johnson, dem britischen Regierungschef. Am Sonntag treffen rund hundert Staatsoberhäupter und 200 Delegationen in der schottischen Stadt ein. Gemeinsam will man bis 12. November die COP26 zum Erfolg machen und das Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, festzurren. Danach will sich die 51-jährige schottische Nationalistin an die Vorbereitung für ein Referendum über die schottische Unabhängigkeit machen. 2023 soll es so weit sein.
profil: In Glasgow gibt es Ratten - und Proteste. Das lesen wir in den englischen Boulevard-Zeitungen. Ist Glasgow für den Klimagipfel gerüstet?
Sturgeon: Ja, Glasgow ist bereit. So ein Riesenevent ist eine Herausforderung für jede Stadt und wir hatten auch einiges vorab zu klären. Es gab sogar eine Drohung mit einem Streik der Eisenbahner – ich bin froh, dass wir den abgewendet haben. Glasgow ist eine der besten Städte der Welt und während der COP26 können wir Glasgow und Schottland präsentieren. Ich gebe aber zu: Ich bin nicht ganz objektiv, ich wohne hier und vertrete die Stadt politisch. Am wichtigsten sind aber die politischen Ergebnisse der Konferenz.
profil: Die Queen kann nicht dabei sein, der russische und der chinesische Präsident haben abgewunken – ein paar der wichtigsten Staatsoberhäupter werden beim Klimagipfel COP26 also nicht anwesend sein. Wie schlimm ist das für die Erfolgschancen?
Sturgeon: Alle sind enttäuscht, dass die Queen nicht nach Glasgow kommen kann. Wir verstehen aber alle, dass ihr geraten wurde, sich auszuruhen. Wir alle wünschen ihr das Beste. Anders verhält es sich mit den anderen Staatschefs, die fehlen. Natürlich wollen wir so viele wie möglich hier haben, weil es ein wichtiges Signal der Entschlossenheit und Verantwortung ist. Aber lassen Sie uns nicht vergessen: US-Präsident Joe Biden reist an. Und mit ihm mehr als 100 Staatsoberhäupter. Und auch wenn Präsident Xi Jinping nicht kommt, so hat China doch immerhin in den letzten Tagen noch eine neue Version der “National Festgelegten Beiträge” (NDC) publiziert.
profil: Manche der ärmeren Länder können es sich nicht leisten, Delegationen zu schicken. Was tun Sie, um ihnen zu helfen?
Sturgeon: Es wird viel getan, um sicherzustellen, dass die Stimmen aus den verletzlichsten Regionen - jenen aus dem globalen Süden und den Entwicklungsländern - gehört werden. Viele in Glasgow nehmen privat Leute auf. Ich weiß, dass alles dazu getan wird, Menschen ohne Bleibe zu helfen.
profil: Klimaaktivistinnen und -aktivisten wollen die COP stören. Wie werden Sie damit umgehen?
Sturgeon: Ich glaube leidenschaftlich an das Recht auf friedliche Proteste. Ich habe schließlich in meinem Leben an vielen teilgenommen. Die Polizei in Glasgow weiß, wie wichtig es ist, Demonstrationen zu ermöglichen. Vor allem, wenn man bedenkt, wie wichtig das Thema ist. Die Stimmen der Leute müssen gehört werden. Die Politspitze soll zuhören. Aber die Polizei hat auch klargestellt, dass sie reagieren wird, wenn Gesetze gebrochen werden.
profil: Teilen Sie die Einschätzung der Aktivistinnen gegen den Klimawandel, dass mehr getan werden muss?
Sturgeon: Absolut. Die Welt kommt zu diesem COP mit einer Riesenlücke zwischen dem, was bisher getan wurde und dem, was für eine Senkung der Emissionen auf 1,5 Grad getan werden muss. Auch bei der Klima-Finanzierung fehlt uns noch viel. Es ist essentiell, dass wir aus diesem Gipfel mit einem klaren Bekenntnis zu 1,5 Grad herauskommen. Es ist leicht, die Wichtigkeit solcher Gipfel zu übertreiben, aber: Es geht buchstäblich um die Zukunft dieses Planeten. Wir reden über die Zukunft, die junge Leute von heute haben werden. Oder nicht. Es könnte die letzte wirkliche Chance sein, eine Klimakatastrophe abzuwenden. Es hat in meinem Leben wahrscheinlich keine wichtigere Konferenz gegeben als diese.
profil: Bisher sind Ihre eigenen Erfolge bei der Bekämpfung des Klimawandels aber auch nicht gerade überzeugend.
Sturgeon: Im Vereinigten Königreich haben wir schneller dekarbonisiert als jedes andere G-20-Land. Wir sind schon bei der Hälfte in Richtung klimaneutral.
profil: Geht Ihnen die britische grüne Strategie weit genug im Vergleich mit der schottischen?
Sturgeon: Wir sind zwei Regierungen mit sehr unterschiedlichen politischen Perspektiven. Spannungen sind unausweichlich. Doch gerade in den vergangenen Wochen haben wir gut zusammengearbeitet. Ich habe gegenüber der britischen Regierung klargestellt, dass kleinliche, politische Dispute einer kollektiven Anstrengung für ein gutes Ergebnis bei der COP26 nicht im Wege stehen sollten. Der britische Premierminister will auch ein gutes Ergebnis, deshalb hoffe ich, dass wir unsere Differenzen in den kommenden zwei Wochen außen vorlassen können.
profil: Trotzdem haben Sie ehrgeizigere Ziele als Boris Johnson?
Sturgeon: Die Regierung des Vereinigten Königreichs will 2050 klimaneutral sein. Wir in Schottland wollen das bis 2045 erreichen. Die britische Regierung hat sich zum Beispiel auch geweigert, einem CO2-Abscheidungsprojekt hier in Schottland vorrangige Unterstützung zu geben. Das halte ich für einen Fehler.
profil: Halten Sie Boris Johnson und sein Bekenntnis zu einer grünen Zukunft überhaupt für glaubwürdig?
Sturgeon: Boris Johnson wird wie alle anderen daran gemessen, was er tut. Einiges, was diese Woche im britischen Budget beschlossen wurde, wirft bereits Fragen auf. Dass man ausgerechnet jetzt das Fliegen auf Kurzstrecken billiger macht – da haben viele die Augenbrauen hochgezogen.
profil: Ein neues Kohlekraftwerk in Cumbria ist wohl auch keine sehr grüne Idee?
Sturgeon: Es wäre wohl besser, keine neuen Kohlekraftwerke zu erlauben. Aber das ist seine Entscheidung. Wir in Schottland haben eine Reduzierung von 75 Prozent der Emissionen bis 2030 beschlossen, die wir auch jedes Jahr nachweisen müssen. Wir halten unsere Standards hoch und ich glaube, das ist richtig so.
profil: An der schottischen Küste soll das Ölfeld Cambo erschlossen werden – das ist auch nicht gerade ein grünes Projekt…
Sturgeon: Ja, auch da habe ich eine andere Meinung als Boris Johnson. Ich finde nicht, dass dieses Ölfeld erschlossen werden sollte, solange es nicht eine wirklich harte Klimaverträglichkeitsprüfung bestanden hat. Da Cambo aber bereits seit zwanzig Jahren eine Lizenz hat, sagt Boris Johnson bisher nicht, dass zumindest das passieren sollte.
profil: Wie lange aber wollen Sie in Schottland noch abhängig von Öl und Gas sein?
Sturgeon: Wir wollen so schnell wie möglich von fossiler Energie zu grüner Alternativen kommen. Wir können jetzt die Produktion im Nordosten Schottlands noch nicht herunterfahren. Sonst müssen wir mehr Öl und Gas importieren. Das macht keinen Sinn. Deshalb bauen wir erst die Alternativen auf. Das heißt auch, dass Menschen in tausenden Jobs in der fossilen Energie-Industrie auf neue Arbeitsplätze umgeschult und übernommen werden müssen.
profil: Wenn Sie die schottische Unabhängigkeit anstreben, können Sie dann mehr für eine Energiewende tun, als wenn Sie wie jetzt Teil des Vereinigten Königreichs mit starker Autonomie bleiben?
Sturgeon: Im Moment tun wir alles, was in unserer heutigen Macht steht, um den Klimawandel aufzuhalten. Meine Partei, die SNP, ist jetzt in einem Kooperationsabkommen in der Regierung mit den schottischen Grünen. Das ist ein Signal, wie wichtig wir den Klimawandel nehmen. Als unabhängiger Staat wären wir allerdings viel mächtiger. Wir würden hier in Glasgow mit am Verhandlungstisch sitzen. Wir hätten das nötige Kleingeld und mehr Schlagkraft. Heute liegen zum Beispiel die Entscheidungen über Öl- und Gas-Lizenzen bei der britischen Regierung, nicht bei uns.
profil: Könnte erneuerbare Energie irgendwann das unabhängige Schottland mitfinanzieren?
Sturgeon: Erneuerbare Energie hat ein enormes Potential. Wir geben gerade Lizenzen aus für Offshore-Windfarmen. Die werden Einkünfte ins Land bringen.
profil: Derzeit eskaliert ein Streit zwischen britischen und französischen Fischern. Betrifft das hauptsächlich englische Fischer oder auch schottische?
Sturgeon: Eines der Fischerboote ist aus Schottland. Die Situation beunruhigt mich tief, weil sie die Geschäftsinteressen Schottlands bedroht. Wir sollten uns wirklich darauf konzentrieren, die Lage zu entspannen und nicht zu eskalieren.
profil: Was sagt das darüber aus, wie es so läuft mit dem Brexit?
Sturgeon: Wir beginnen jetzt die wahren Auswirkungen des Brexits zu spüren. Nicht allein bei dem Disput der Fischer. Wir haben jetzt teilweise leere Regale in Supermärkten. Keine dieser Folgen des Austritts aus der EU sind positiv. Sie sind sogar ziemlich negativ.
profil: Auch in Nordirland steigen die Spannungen.
Sturgeon: Aus meiner Perspektive und aus der Sicht Schottlands war der Brexit ungewollt. Besonders zentral in den Verhandlungen über den Scheidungsvertrag war das Nordirland-Protokoll, das dazu dienen sollte, den Frieden in Nordirland zu erhalten. Was ich an der britischen Position zum Protokoll absurd finde – und ich bin sicher nicht die einzige, die das absurd findet – ist, dass die britische Regierung jetzt sagt, das Protokoll sei komplett und vollkommen inakzeptabel. Dabei ist es dasselbe Protokoll, das Boris Johnson und seine Verhandler unterschrieben haben und zu dieser Zeit lobten sie es als großartiges Ergebnis und als Beweis für eine erfolgreiche Verhandlung. Ich kann nur hoffen, dass die britische Regierung auf die substanziellen Vorschläge der EU zur Beilegung der praktischen Probleme positiv reagiert. Ich fürchte allerdings, dass die britische Regierung ein bisschen zu erpicht darauf ist, die Spannungen zu Hause politisch zu nutzen und die Probleme deshalb nicht beilegt. Die britische Glaubwürdigkeit in der Welt wird dadurch auf lange Zeit beschädigt. Die Leute sagen: Wenn sich die Briten nicht einmal an die Bestimmungen und den Geist der Abkommen halten, die sie unterzeichnet haben, womit kann man ihnen dann überhaupt trauen? Das ist für die internationale Glaubwürdigkeit des Vereinigten Königreichs schon ziemlich besorgniserregend.
profil: Das klingt, als hätten Sie Ihren Plan für die schottische Unabhängigkeit keineswegs aufs Eis gelegt?
Sturgeon: Mein Plan hat sich nicht geändert, seit ich ihn den Schotten bei den Wahlen im Mai vorgelegt habe. Ich möchte, dass Schottland die Möglichkeit hat, die Unabhängigkeit zu wählen und zwar bis zum Ende dieser Amtsperiode. Am liebsten in der ersten Hälfte, also vor Ende 2023. Wir haben wegen der Covidpandemie eine Pause gemacht. Wir spüren immer noch einen ziemlich hohen Druck auf unser öffentliches Gesundheitssystem. Doch jetzt kann die Arbeit an der Vorbereitung eines Referendums wieder beginnen.
profil: Boris Johnson aber sagt, dass die britische Regierung kein Unabhängigkeitsreferendum erlaubt. Was, wenn er dabei bleibt?
Sturgeon: Am Ende wird Boris Johnson diese Frage beantworten müssen: Wie kann er der Demokratie im Wege stehen? Ich kann als schottische Regierungschefin nur dann die Unabhängigkeit für dieses Land erreichen, wenn es ein demokratisches, verfassungsrechtliches Referendum gibt. Ich werde alles in meiner Macht Stehende versuchen, damit dieses im schottischen Parlament beschlossen wird. Boris Johnson wird eine Entscheidung treffen müssen. Akzeptiert er die demokratische Entscheidung und die Sicht des schottischen Parlaments oder wird er uns, ich weiß nicht, vielleicht vors Gericht bringen, um ein Referendum aufzuhalten? Demokratie muss etwas heißen. Oder eben nicht. Und ich glaube, trotz aller meiner Differenzen mit dieser britischen Regierung, dass wir immer noch in einer Demokratie leben.
profil: Als britischer Premierminister hat er das Recht, Ihnen das Referendum nicht zu genehmigen. Würden Sie es trotzdem durchziehen?
Sturgeon: Ich verstehe sehr gut, dass es für Außenstehende verwirrend ist, weil wir es mit jemandem zu tun haben, der sich weigert, Demokratie ernst zu nehmen. Ich bin die demokratisch gewählte Regierungschefin von Schottland und ich muss mich vor dem schottischen Parlament verantworten. Meine Taten werden von den demokratischen Institutionen Schottlands beurteilt. Boris Johnson kann das entweder akzeptieren. Oder er kann versuchen, diesen demokratischen Vorgang zu stoppen. Darauf muss er eine Antwort finden: Demokratie oder nicht – das ist hier die Frage.
profil: Angesichts der drängenden Frage des Klimawandels, wollen Sie sich da wirklich jahrelang mit der schottischen Unabhängigkeit befassen?
Sturgeon: Sie haben leicht reden – Sie sind Journalisten aus unabhängigen Staaten. Halten Sie Ihre Eigenstaatlichkeit für Zeitverschwendung? Wir haben wegen dem Brexit die Freizügigkeit in der Europäischen Union verloren. Wir sind nicht länger Mitglied in der EU. All das gegen unseren Willen. Das ist der Preis dafür, dass wir nicht unabhängig sind.