SCHWIMMWESTEN AUF LESBOS: Gerade einmal 583 Flüchtlinge konnten bisher via Hotspots auf europäische Länder verteilt werden.

EU-Gipfel: Der Club der Unwilligen

Die einen wollen keine Flüchtlinge mehr, die anderen wollten nie welche. Robert Treichler über Europas erfolgreich erbrachten Nachweis, dass die Rechtspopulisten immer schon recht hatten.

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Für einen "Club der Willigen“ braucht es nicht viel, außer, nun ja … vielleicht ein paar Willige. In der EU hat sich in den vergangenen Monaten ein solcher Club zusammengefunden, als Forum von Regierungen, die eine EU-weite Verteilung von Flüchtlingen anstreben. Doch obwohl jeder Regierungschef umstandslos beitreten kann und die Mitgliedschaft keinerlei Verpflichtungen mit sich bringt, kämpft der Club mit Existenzsorgen, und zwar so sehr, dass er inzwischen auch Willenlosen offensteht.

Frankreich, zum Beispiel, will nicht mehr: Das zweitgrößte Land der EU werde "nicht mehr aufnehmen als die 30.000“, die längst vereinbart wurden, verteilt auf zwei Jahre, legte sich Premier Manuel Valls fest. Die schwedische Regierung musste längst einbekennen, dass sie die Aufnahmebereitschaft ihrer Bevölkerung weit überschätzt hatte, und blies ihre Willkommenskultur ab. Österreich lässt seine "Tür mit Seitenteilen“ (Bundeskanzler Werner Faymann) ins Schloss fallen und nimmt nur noch 80 Asylanträge pro Tag entgegen, auch wenn eine solche Einlassordnung gegen internationales Recht verstößt. Bleiben noch die Benelux-Länder, Slowenien, Portugal, Griechenland, die allesamt zu klein sind. Schließlich, noch immer, Deutschland. Aber wie lange noch?

Wenn die Mitglieder des Clubs der Willigen so agieren, kann man sich ausmalen, was die Unwilligen in ihrem Club so treiben. Deshalb haben von den 160.000 Flüchtlingen, die via Hotspots in Griechenland und Italien auf die EU-Staaten verteilt werden sollten, bislang handverlesene 583 Personen ein Aufnahmeland gefunden. Zum Vergleich: In den ersten drei Wochen dieses Jahres sind allein in der Ägäis mindestens 113 Flüchtlinge ertrunken.

Ein derartiges Kapitalversagen hat sich die Europäische Union noch nie geleistet. Beim Gipfel Ende der vergangenen Woche hatte es schon keinen Sinn mehr, über einen gemeinsamen Plan zur Aufnahme von Kriegsmigranten zu sprechen. Die Aussichtslosigkeit erstickte jegliche Initiative.

Nichts könnte den panischen Rückgriff auf einzelstaatliches Vorgehen besser symbolisieren als Zäune und Soldaten an den Landesgrenzen.

Das ist nicht nur tragisch für Syrer, die auf dem Weg nach Europa sind. Sie müssen sich wieder Schleppern anvertrauen, werden in die Illegalität gedrängt und so in Gefahr gebracht. Zudem ist die EU schwer beschädigt. Ihre Existenzberechtigung liegt darin, dass sie als Staatengemeinschaft Probleme lösen kann, die für einzelne Länder zu groß sind. Jetzt, wo es darauf ankommt, kann sie es nicht. Damit sind ihre Autorität, ihre Überzeugungskraft und auch ihre Attraktivität beim Teufel.

Dieser Teufel hat einen Namen - Nationalismus. Nichts könnte den panischen Rückgriff auf einzelstaatliches Vorgehen besser symbolisieren als Zäune und Soldaten an den Landesgrenzen. Jetzt zählt jeder Innenminister nur noch die Übertritte auf sein Territorium, alles andere spielt keine Rolle mehr. Worüber soll die EU noch mit der Türkei verhandeln, wenn kein EU-Land Flüchtlinge aufnehmen will?

Sind alle europäischen Ansätze im Sand verlaufen, war ein Schwenk deshalb unausweichlich? Nein, für einen solchen Schluss ist es viel zu früh. Die Türkei hat noch nichts von jenen drei Milliarden Euro gesehen, die sie bekommen sollte, um Flüchtlinge besser zu versorgen und gleichzeitig davon abzuhalten, nach Griechenland überzusetzen. Andere viel versprechende Ideen wurden nie auf höchster Ebene diskutiert: der Vorschlag der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) etwa, der Türkei auf sicherem Weg eine große Anzahl von Flüchtlingen abzunehmen (die Rede war von 250.000 bis zu einer halben Million), umgekehrt aber nicht anerkannte Asylwerber umstandslos zurückschicken zu können. Mit wem könnte Merkel ernsthaft darüber beraten? Mit dem Club der Willigen, die ihren Unwillen nicht mehr verbergen können?

Länder wie Deutschland, Schweden und Österreich haben es hingenommen, dass sich andere, reiche westeuropäische EU-Länder gedrückt haben - ein folgenschwerer Fehler, vor allem von Angela Merkel.

Warum ist die EU so jammervoll gescheitert? Wer ist schuld?

1. Die EU hat sich nicht nachdrücklich genug um internationale Unterstützung bemüht. 4,6 Millionen Syrer, die aus ihrem Land geflüchtet sind, können nicht ausschließlich auf Europa angewiesen sein. Europa hätte auf der Ebene der Vereinten Nationen klarmachen müssen, dass alle Industrienationen Verantwortung tragen, wenn ein Land zerfällt. Die USA haben sich bereit erklärt, im laufenden Jahr 10.000 Syrer aufzunehmen. So viele Asylanträge hat Österreich bereits seit Anfang des Jahres entgegengenommen. Kanada hat ein Resettlement-Programm für immerhin 25.000 Kriegsflüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland gestartet. Japan? Totale Fehlanzeige. So steht die EU fast allein da, und ein Scheitern wird ihr zugeschrieben statt der gesamten internationalen Gemeinschaft.

2. Die Willigen waren zu leise. Länder wie Deutschland, Schweden und Österreich haben es hingenommen, dass sich andere, reiche westeuropäische EU-Länder gedrückt haben - ein folgenschwerer Fehler, vor allem von Angela Merkel. Die Rücksichtnahme war von hehren Motiven geleitet, aber deshalb nicht weniger falsch. In Großbritannien wollte man die nationalistischen EU-Skeptiker vor dem Brexit-Referendum nicht weiter aufmunitionieren; in Frankreich regiert in der Ausländerfrage die nackte Angst vor Marine Le Pens Front National. Und die xenophoben osteuropäischen Regierungen hatten keine Scheu, ihre kalte Ablehnung jeglicher Asylwerber deutlich zu machen. Das erzeugte eine fatale Dynamik: Aussteigen aus der gemeinsamen Aufnahme-Strategie war leicht.

3. Österreichs Obergrenze war der Anfang vom Ende. Nach Interpretation der SPÖ hätte die Notmaßnahme den Effekt haben sollen, andere EU-Regierungen dazu zu bewegen, sich stärker am Resettlement zu beteiligen. Was für ein Irrtum! Kein Regierungschef ließ sich zu irgendeinem Zugeständnis bewegen. Stattdessen stieg der Druck auf Merkel, ebenfalls eine Obergrenze einzuführen, und südlich unserer Grenze begannen alle Länder damit, die Balkan-Route gänzlich zu kappen.

Wer wirbt für den Verbleib in einer Union, die angesichts einer Krise ihre Grundfesten niederreißt, ihre eigenen Pläne nicht umsetzt, ihre Spaltung betreibt?

Am Ende haben alle gemeinsam eines geschafft: Sie haben bewiesen, dass die Rechtspopulisten recht haben, wenn sie meckern, diese EU bringe ja doch nichts zustande; dass die einzige sinnvolle Politik gegenüber Ausländern ein strammer Grenzbalken ist, egal, warum diese Leute davor stehen; dass das Recht, einen Asylantrag zu stellen, auch umgangen werden kann, wenn man den Antragsteller außer Rufweite hält.

So nebenbei haben unsere Regierungen auch die Reisefreiheit gekillt, die lausigen Wirtschaftswachstumsraten damit mittelfristig noch ein bisschen mehr geschwächt und auch den Austritt Großbritanniens aus der EU befördert. Die Ausnahmeregeln, die Großbritanniens Premier David Cameron ausverhandelt, werden den Spott, dem die EU dieser Tage ausgesetzt ist, nicht wettmachen. Wer wirbt für den Verbleib in einer Union, die angesichts einer Krise ihre Grundfesten niederreißt, ihre eigenen Pläne nicht umsetzt, ihre Spaltung betreibt?

Es hätte gereicht, an einer gemeinsamen Strategie festzuhalten. Daneben wären Grenzzäune, Kontrollen, Rückführungen, ja sogar Obergrenzen als politische Besänftigungsmaßnahmen akzeptabel gewesen. Eine Obergrenze als Ziel ist ähnlich wie eine Defizitgrenze im Fiskalpakt. Hallo Hypo, tschüss Budgetpfad! Frankreich kann sich gar nicht erinnern, eine Defizit-Obergrenze jemals eingehalten zu haben. Aber die registrierten, durchgecheckten Flüchtlinge in Griechenland sitzen zu lassen, gerade mal 500 von ihnen weiterzuleiten und dann zu beklagen, die gemeinsame Lösung habe nicht funktioniert?

Aus den Räumlichkeiten des Clubs der Unwilligen dröhnt Partylärm.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur