TRIO INFERNALE: Lega-Chef Matteo Salvini, Italiens Premier Giuseppe Conte, Fünf-Sterne-Chef Luigi Di Maio (von links)

EU gegen Italien: Der Budgetstreit droht zu eskalieren

EU gegen Italien: Einmal mehr eskaliert in der Eurozone ein Budgetstreit. Droht eine neue - vielleicht noch schlimmere - Griechenlandkrise? Eine Einschätzung in vier Thesen.

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Mahnbriefe aus Brüssel. Rating-Agenturen, die Regierungen in die Bredouille bringen. Politiker quer durch Europa, die einander der Unverantwortlichkeit und Hörigkeit gegenüber Finanzmärkten bezichtigen. Willkommen im neuesten EU-Schuldenstreit.

Der diesmalige Protagonist: Italien. Das erste Mal überhaupt, seit sich Europa in den 1990er-Jahren eine Begrenzung der Staatsschulden auferlegte, hat die dafür verantwortliche EU-Kommission einen Budgetentwurf einer Regierung postwendend zurückgeschickt. Die neue Koalition in Rom -bestehend aus der rechtsextremen Lega und der Protestbewegung Fünf Sterne unter Ministerpräsident Giuseppe Conte - plant im nächsten Jahr ein Budgetdefizit von 2,4 Prozent. Dies widerspricht bisherigen Abmachungen. Pierre Moscovici, Währungskommissar unter Jean-Claude Juncker, spricht von einer "noch nie dagewesenen" Abweichung von den Kriterien des Stabilitätspaktes und einer "besonders schweren Zuwiderhandlung". Die Italiener sind aufgefordert, innerhalb von drei Wochen einen revidierten Entwurf vorzulegen.

Zweithöchste Staatsschuldenquote

Italien ist mit derzeit 130 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung das Eurozonenmitglied mit der zweithöchsten Staatsschuldenquote hinter Griechenland. Mit den Griechen fand im Jahr 2015 der letzte große Streit um Defizite und Sparprogramme statt. Damals wäre die Eurozone beinahe zerfallen. Und wie sieht es heute im Fall Italiens aus?

Dem Land jedenfalls droht nicht nur ein EU-Defizitverfahren samt Strafzahlungen, sondern auch - weitaus schmerzhafter - eine harsche Reaktion der internationalen Finanzmärkte. Wenn die Renditen auf italienische Staatsanleihen steigen, treibt dies die Verschuldung des Landes zusätzlich in die Höhe. Eine Schuldenspirale, die kaum aufzuhalten ist, im schlimmsten Fall kann ein Staatsbankrott folgen. Es bleibt abzuwarten, ob Rom den Budgetentwurf noch abmildert - oder auf Konfrontation mit Brüssel und den Märkten bleibt.

Was plant die Regierungskoalition wirklich? Warum ist Italiens Staatsschuld in den vergangenen Jahren derart gestiegen? Und ist die Reaktion der EU zu hart? Eine Einschätzung in vier Thesen.

1. Italien hat in der Vergangenheit kein Geld verschwendet.

Kein Zweifel, sympathisch ist die neue Regierung in Rom nicht. Mit einer nationalistischen Rhetorik bringt sie das Volk gegen seine europäischen Nachbarn auf, ganz zu schweigen von der Hetze der rechten Lega gegen Migranten.

Aber sobald ein südeuropäisches Land gegen Schuldenregeln verstößt, beginnt auch weiter nördlich in Europa stets ein fragwürdiges Spiel. Der verschwenderische Süden lebe auf Kosten des hart arbeitenden Nordens, lautet dann gern die Erzählung von Politikern und Kommentatoren. Aktuell an der Klischeeorgel: Österreichs ÖVP-Bundeskanzler Sebastian Kurz in seiner Eigenschaft als EU-Ratsvorsitzender. "Wir werden sicherlich nicht in Österreich für die Schulden anderer bezahlen", so Kurz vor einer Woche über Italien. Rom solle "zur Vernunft" zurückkehren.

Aber war Rom wirklich so unvernünftig? Um die Frage zu beantworten, hilft zunächst ein Blick in die Vergangenheit. Dort müsste eigentlich jene unverantwortliche Haushaltspolitik stattgefunden haben, von der im Zusammenhang mit Südeuropa oft die Rede ist. Immerhin stieg vor allem in den vergangenen Jahren Italiens Staatsschuld: konkret von 116 Prozent der Wirtschaftsleistung im Jahr 2011 auf derzeit 130 Prozent.

Schuldenstand: Die Staatsschuldenquote (oben) stieg trotz des Sparkurses. In Sachen Primärsaldo fährt Italien regelmäßig höhere Überschüsse ein als etwa Österreich.

Doch siehe da: Gerade in diesen Jahren war Italiens Haushaltspolitik ganz und gar nicht unverantwortlich. Im Gegenteil, das Land galt geradezu als Musterschüler europäischer Budgetdisziplin. Vor allem der parteilose Premier Mario Monti (2011 bis 2013) vollzog harte Einschnitte, etwa im Pensionsbereich. Der Sparkurs spiegelt sich im sogenannten Primärüberschuss wider, also dem Budgetüberschuss, wenn man die Rückzahlung von Schulden nicht mitberücksichtigt: Seit 2010 verbuchte Rom ausnahmslos einen Primärüberschuss von ungefähr 1,5 Prozent. Das Land nahm also stets mehr ein, als es ausgab. Österreich - dessen Kanzler mahnende Worte an den Nachbarn richtet - steht da deutlich schlechter da.

Allerdings: Warum sind dann die Schulden gestiegen? Wer das wissen will, muss verstehen, woran sich Staatsschulden bemessen: am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Sie werden in Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung angegeben. In Italien schwächelte das BIP-Wachstum in den vergangenen Jahren stärker als in vielen anderen EU-Staaten. Seit langer Zeit verharrt das Land bereits in wirtschaftlicher Stagnation; die Einkommen der italienischen Haushalte sind um durchschnittlich zehn Prozent gesunken. Das bedeutet: Sobald das BIP nachlässt oder zurückgeht, steigen automatisch die Schulden in Prozent des BIP. Ob gespart wird oder nicht.

Was folgt daraus? Italiens Regierung hat, bei all ihrer sonstigen Demagogie, durchaus gute Argumente, eine Wende in der nationalen Budgetpolitik zu fordern. Immerhin sind in der Vergangenheit trotz allen Sparens die Schulden in die Höhe geschossen, vor allem wegen des schwachen BIP-Wachstums. Die neue Regierung möchte nun neue Schulden machen, um die Wirtschaft zu beleben. Der Effekt soll ein höheres BIP sein - womit die Schulden in Relation zur Wirtschaftsleistung wieder sinken würden.

2. Auch der Budgetvorschlag der neuen Regierung sieht keine Verschwendung vor.

Die Kritik an Italien: Extrem teure Wahlversprechen sollen auf Pump finanziert werden. Aber stimmt das auch? Wer sich die Zahlen anschaut, gelangt neuerlich zu einer differenzierteren Einschätzung.

Roms Regierung plant beispielsweise ein sogenanntes "Bürgergeld", eine Art Mindestsicherung von monatlich 780 Euro für Bedürftige. Hintergedanke: Die Bezieher werden die Summe wohl nicht auf dem Sparbuch bunkern -sondern eher die längst überfällige Waschmaschinenreparatur beauftragen oder einen Großeinkauf im Supermarkt unternehmen. Die kleinen Ausgaben vieler Einzelner sollen zu mehr Konsum, mehr Arbeitsplätzen und letztlich mehr BIP führen.

Vielkritisierte Pensionsreform

Für das Jahr 2019 wird sich das Bürgergeld mit insgesamt 0,37 Prozent des BIP zu Buche schlagen, so der offizielle Budgetvorschlag der italienischen Regierung. Eine weitere Maßnahme, eine vielkritisierte Pensionsreform, soll ebenfalls 0,37 Prozent ausmachen soll. Zum Vergleich: Österreichs Steuerreform des Jahres 2016 unter der damaligen SPÖ-ÖVP-Koalition kostete rund ein Prozent des BIP - also mehr als die beiden aktuellen Projekte in Italien zusammen. Überbordend teuer sind die geplanten Maßnahmen also nicht.

Dazu kommt ein weiteres Faktum: Wie ebenfalls aus den italienischen Budgetdokumenten hervorgeht, hat auch schon die alte, sozialdemokratische Regierung zwischenzeitlich ihre Defizitprognosen für 2019 nach oben korrigiert. Ursprünglich rechnete sie für 2019 mit einem Defizit von 0,8 Prozent - später revidierte sie auf 1,2 Prozent. Die neue Regierung rechnet nunmehr mit 2,4 Prozent. Heißt: Der Sprung beträgt 1,2 Prozentpunkte. Das ist zwar nicht vernachlässigbar. Aber von einem Haushalt, der total aus dem Ruder läuft, kann man beileibe nicht sprechen.

3. Trotz alledem ist die harte Reaktion aus Brüssel unumgänglich, denn Rom lässt der EU keine andere Wahl.

Bisheriges Fazit: Die italienischen Regierungen haben in der Vergangenheit kein Geld verschwendet. Und auch die aktuelle plant - wiewohl sie durchaus neue Schulden machen will -keine haarsträubenden budgetären Unverantwortlichkeiten. Wo liegt also das Problem? Sollte die EU Italien nicht einfach in Ruhe lassen? Oder will sie vielmehr ein Exempel statuieren und einer missliebigen Regierung ihre Macht demonstrieren?

Nein. Aus allen Wortmeldungen aus Brüssel klingt durch, dass die EU-Institutionen nicht auf Streit aus sind. Man wolle keine Krise mit Italien, sagt Währungskommissar Moscovici. Der Budgetkonflikt kommt der EU ungelegen, weil kommendes Frühjahr EU-Parlamentswahlen anstehen. Bei ihnen werden den Rechtsdemagogen vieler Länder ohnehin Zugewinne vorausgesagt - es würde sie zusätzlich beflügeln, stünden die EU-Institutionen nun im Italien-Streit als hartherzige Austeritätstechnokraten da, die von Regierungen Einschnitte erpressen.

Bereits im Jahr 2016 hat die EU-Kommission aus ähnlichen Erwägungen auf Sanktionen verzichtet, als Spanien und Portugal gegen Budgetauflagen verstießen. Damit sollte damals ein Konflikt wie in Griechenland und der Aufstieg von Linksparteien verhindert werden. Im heutigen Streit mit Italien jedoch bleibt Brüssel keine andere Wahl, als den Konflikt einzugehen. Denn Italien zwingt die EU dazu.

Kleine Zugeständnisse mit großer Wirkung

Zunächst verstößt Italien eindeutig gegen die Auflagen des Stabilitätspaktes. Das komplizierte Regelwerk sieht unter anderem vor, dass das Land im Lauf der nächsten drei Jahre 15 Prozent seiner Staatsschulden abbaut - was klar verfehlt wird, sollten die derzeitigen Budgetpläne realisiert werden. Aber es sind nicht nur die harten Zahlen, die den Konflikt befeuern. Es geht auch um den Ton, um kleine Zugeständnisse mit großer Wirkung.

Tatsächlich wäre es für Italien leicht, ein geringeres Defizit anzupeilen, indem es zusätzliche Einnahmeposten schafft. Die geplanten Projekte à la Bürgergeld und Pensionsreform wären trotzdem realisierbar, während die prognostizierten Schulden weniger stark steigen würden. Die Regierung könnte beispielsweise einzelne Steuererhöhungen einplanen oder etwa forcierter den grassierenden Steuerbetrug im Land bekämpfen. Falls manche der prognostizierten Einnahmen am Ende nicht so viel bringen wie ursprünglich erhofft, wäre dies bei Weitem keine Premiere in der EU-Budgetpolitik. Vielmehr kommt so etwas zwischen Brüssel und den EU-Hauptstädten ständig vor.

Aber Rom will eben keine Zugeständnisse machen, nicht einmal pro forma. Aus politisch-propagandistischen Gründen stellt Rom der EU die Rute ins Fenster . Die Regierung sucht den Konflikt, um sich zu Hause als Retter der Nation zu inszenieren. Fünf-Sterne-Chef Luigi Di Maio schwadroniert gern vom "Haushalt des Volkes"; Lega-Chef Matteo Salvini spricht davon, den "Herren der Finanz" in Brüssel den Kampf anzusagen. Würde die EU-Kommission angesichts dieser Provokationen klein beigeben, wäre das die komplette Preisgabe jeglicher Mitsprache über nationale Budgets.

4. Der aktuelle Streit wird sich wohl wieder beruhigen. Aber solange Italiens Wirtschaft nicht wieder anzieht, drohen weitere Budgetstreits.

Im Lauf der vergangenen Woche wurden die Signale aus Rom widersprüchlicher. Di Maio und Salvini wetterten zwar weiter gegen Brüssel; in Straßburg ging sogar ein EU-Parlamentsabgeordneter der Lega mit seinem Schuh auf die Notizen von Währungskommissar Moscovici los. Doch Ministerpräsident Conte mäßigte seinen Ton: Die Regierung sei bereit, "wenn notwendig" die geplanten Ausgaben im Haushaltsentwurf 2019 zu kürzen, so Conte.

Im Hintergrund steckt weniger der Druck aus Brüssel, sondern vielmehr jener der internationalen Finanzmärkte. Die Renditen italienischer Staatsanleihen steigen in beunruhigendem Ausmaß - ein Anzeichen, dass die Anleger ein zunehmend hohes Risiko darin sehen, dem Land noch Geld zu borgen. Die Zinsdifferenz zwischen italienischen Staatsanleihen und deutschen - quasi die Messlatte, wie sicher die Gläubiger Italien einschätzen -ist bereits im Juni (als die Populistenregierung antrat) bedenklich hochgeklettert. Nun erklomm sie den höchsten Wert seit fünf Jahren. Die Rating-Agentur Moody's hat die Kreditwürdigkeit des Landes auf knapp über Ramschniveau gesenkt - und droht mit weiteren Abstufungen. All dies gefährdet die finanzielle Stabilität des Landes.

Angesichts dieser Entwicklung lautet das wahrscheinlichste Szenario für die kommenden Wochen, dass sich der Konflikt beruhigen wird. Möglicherweise wird Rom einige kleinere Zugeständnisse machen; Brüssel würde sie wohl bereitwillig annehmen. Beide Parteien könnten sich danach mehr oder weniger als Sieger fühlen. Einen neuerlichen Konflikt à la Griechenland, der weltweit zu Sorgen um den Fortbestand der Eurozone führt, können sich ohnehin weder Rom noch Brüssel leisten, aus politischen und wirtschaftlichen Gründen.

In diesem Szenario müsste die italienische Regierung einige Abstriche machen von ihrem Vorhaben, mittels mehr Staatsausgaben einen Weg aus der wirtschaftlichen Stagnation zu finden. Ob die Wirtschaftsankurbelung trotzdem funktioniert, werden die kommenden Jahre zeigen. Langfristig jedenfalls wird Italiens Zukunft im Euro davon abhängen, ob das Land aus seiner Stagnation findet und der Wohlstand des durchschnittlichen Italieners wieder zunimmt. Falls nicht, werden die Nachrichten nächstes Jahr garantiert wieder lauten: Budgetstreit mit Italien.