EU-Migrationspolitik: Die Brutalität der Grenze
An den Rändern der Europäischen Union gehen grausliche Dinge vor sich, doch bemerkt man es nicht sofort. Sie passieren am helllichten Tag an abgeschotteten, von Sicherheitskräften bewachten Orten. Und in der Nacht, in den Wäldern, in denen sich Afghanen, Syrer und Somalier vor den kreisenden Drohnen und vermummten Männern verstecken, die ihnen mit Hunden nachjagen und mit Pistolen in die Luft feuern. Manchmal schrecken die beängstigenden Geräusche die Bewohner entlegener Häuser auf. Meistens jedoch verhallen sie ungehört. Genauso wie die Angst- und Schmerzensschreie der Geflüchteten.
Ob in der Ägäis, Richtung Türkei, von Ungarn nach Serbien, von Kroatien nach Bosnien oder von Polen nach Belarus – überall werden Menschen an Grenzen zurückgestoßen, verprügelt, ihrer Barmittel und letzten Habseligkeiten beraubt. Und das ohne öffentliches Aufsehen. Wohin es führt, wenn Länder mit der Migration allein gelassen werden, sieht man auf Lesbos. Aber auch in Serbien. Oder in Bulgarien. Überall knackt und bricht der rechtsstaatliche Boden.
profil besuchte drei Orte, an denen der hochgerüstete Grenzschutz und die Bekämpfung „illegaler Migration“ konkrete, praktische Formen annehmen.
Lesbos, Griechenland
Sommer auf Lesbos. Touristen essen in Tavernen, planschen im Meer und erkunden mit Leihautos die Gegend. Die zunehmende Brutalisierung an der europäischen Außengrenze bleibt ihnen zumeist verborgen. Die Menschenrechtsaktivistin und NGO-Gründerin Doro Blancke fährt zum abgebrannten Lager Moria hinauf. Als sich vor der jüngsten Parlamentswahl der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis ankündigte, räumte man hier noch schnell die Scherben, verkohlten Holzplanken, geschmolzenen Turnschuhe und alten NATO-Zäune weg, die das große Feuer vom September 2020 hinterlassen hat.
Nun sind nur mehr Ruinen, Blechbaracken und ein Stück Stacheldraht übrig, in dem sich eine Kinderschwimmweste verfangen hat. Vor Jahren hausten hier bis zu 30.000 Menschen in zusammengeflickten Hütten aus Planen und Blech. Mittlerweile sind alle weg, bis auf Bashir*, 25, und Masud*, 32. Vor acht Jahren kam Bashir mit dem Boot über das Mittelmeer, Masud vier Jahre davor. Nun leben sie in einem Haufen Gerümpel zwischen verfallenden Werkshallen und leer stehenden Häusern – zwei von vielen Existenzen, die an der Festung Europa zerschellten.
Inselbewohner, die den Pakistani und den Bangladeschi vor Jahren kennenlernten, sagen, sie seien freundlich und arbeitswillig gewesen. Eine Weile verdiente Bashir sein Geld als Schweißer. Doch das Unternehmen ging pleite. Die Asylverfahren zogen sich dahin und endeten abschlägig. Weiter konnten sie nicht, zurück wollten sie nicht. Sie hatten zu viel investiert, um nach Lesbos zu kommen. Nun schlingern sie wie menschliches Treibgut durch die Tage, Monate, Jahre, umgeben von Straßenhunden und streunenden Katzen, betäuben sich mit Alkohol. Die Hoffnung ihrer Familien, dass sie, die Söhne, in der Fremde Fuß fassen und Geld schicken werden, erfüllte sich nicht. Selbst wenn sich eine unverhoffte Chance ergäbe, für die Männer käme sie zu spät; sie haben sich in Hoffnungslosigkeit verloren. Mit den Menschen und Europa sind sie fertig. Blancke ist eine der wenigen, die noch mit ihnen reden kann. „Habt ihr Wasser?“, fragt sie.
Wie viele der rund 2400 Menschen, die mit Stand Mai im „Closed Controlled Access Center“ (CCAC) bei Mavrovouni, einer gefängnisartigen Einrichtung nahe der Hafenstadt Mytilini, leben, ein ähnliches Schicksal ereilen wird, ist offen. Journalisten können sich von ihrer Lage schwer ein Bild machen. Nur eine handverlesene Schar von NGO-Vertretern und Anwältinnen hat Zutritt. Medienvertretern, die am Zaun entlanggehen, um einen Blick ins Innere zu erhaschen, droht Ungemach, bis hin zur Festnahme. Auf den Trampelpfaden durch Olivenhaine, wo man Aussicht auf das Camp hat, lauern Polizisten. Was im Inneren vorgeht, schildern zwei Bewohner und eine Anwältin, die profil außerhalb des Camps treffen kann.
Die Anwältin ist abends in einem privaten Haus unter der Zusage von Vertraulichkeit zu dem Treffen bereit. Das größte Problem, so die Anwältin, sei die fehlende medizinische Versorgung. Der einzige Arzt im Camp behandle von Zahnweh bis Nierenkoliken alles mit Schmerzmitteln. Ins Spital eingewiesen werden Patienten erst, wenn es fast zu spät ist. Die Unterkünfte der Minderjährigen sind überbelegt. Zu tun gibt es nichts. Jugendliche wie Erwachsene leiden darunter, dass die Behörden sie im Unklaren lassen. „Das ist eine Schikane,“ sagt die Anwältin, „und es wird Monat für Monat schlimmer.“ Am 17. Mai wurde mehr als 500 Asylwerbern, die nicht mehr in einem Verfahren sind, die Nahrung gestrichen. Eilig kratzten NGOs Spenden zusammen und verteilten Lebensmittel. Allein Blanckes Verein „refugee assistance – doro blancke“ versorgt 211 Personen. Gewalt gegen Flüchtlinge zeigt sich auf Lesbos nicht nur in Form von Schlägen, Entführungen, Deportationen und illegalen Abschiebungen, sondern ebenso in Form von Erniedrigungen aller Art, psychologischem Druck, überhitzten Unterkünften, Verweigerung von Essen.
Im „Warehouse“, das Blancke von einem Antiquitätenhändler mietete, wiegen der 21-jährige Palästinenser Ramadan und der 18-jährige Afghane Ahmat* Reis ab und füllen ihn in Säcke: 0,5 kg für eine Person, ein kg für zwei und ein halbes Kilo mehr für jedes zusätzliche Familienmitglied. Auch im Sozialzentrum „Parea“ wird abgewogen und verpackt: Öl, Gewürze, Linsen. Nebenan unterrichtet Amy eine Gruppe Afrikaner in Englisch. An der Wand hängt ein lateinisches Alphabet und das Einmaleins.
Vom Staat kommt wenig – und die Freiwilligen müssen auf der Hut sein. Einem Fremden Wasser zu reichen, ist erlaubt, ihn ein Stück im Auto mitzunehmen, zählt inzwischen zu den Hilfen, die mit einer Anklage enden können. „Die Gewalt nimmt zu, die Zeugenschaft nimmt ab“, formuliert es die Journalistin Franziska Grillmeier, die auf Lesbos lebte und Gespräche mit Flüchtlingen und Aktivistinnen in ihrem Buch „Die Insel“ verarbeitete.
Auf Lesbos sind Ärzte ohne Grenzen die Einzigen, die ankommenden Menschen medizinische und psychologische Erste Hilfe leisten: „Das sagt alles darüber aus, wie geschrumpft der humanitäre Aktionsradius ist“, sagt Nihal Osman, Projektleiterin von Ärzte ohne Grenzen, die profil im Stadtbüro in Mytilini empfängt. Später trifft profil in einem Café auch ihren Vorgänger, den gebürtigen Palästinenser Ihab Abassi, der früher für eine humanitäre palästinensische Organisation tätig war. 2015 war er als Tourist auf Lesbos, als hier jeden Tag Tausende Flüchtlinge anlegten. „Mein Urlaub hat nie angefangen“, sagt er. Sofort packte er mit an. Abassi baute auf der Insel die Dependance von Ärzte ohne Grenzen auf. Seine Helferrolle kam ihm teuer zu stehen. Seit 2018 steht Abassi vor Gericht . Sein Vergehen: Er hatte auf einer arabischen Facebook-Seite von einem Boot erfahren, das die griechische Küstenwache aufgegriffen hatte, und teilte diese Nachricht im WhatsApp-Chat von Aktivisten. Als diese ins Visier der Polizei gerieten, stießen die Ermittler auf seine Nachricht und fuhren gewaltige Geschütze auf. Abassi wurde wegen Menschenhandels, Spionage, Bildung einer kriminellen Organisation und Geldwäsche angeklagt. Noch läuft das Verfahren. Abassi sagt: „Ich weiß, dass ich nichts falsch gemacht habe, aber diese Kriminalisierung ist politisch extrem beunruhigend und persönlich eine unbeschreibliche Belastung“. Er fühle sich, als hätte der griechische Staat ihm „ein Messer in den Rücken gerammt“.
Vis à vis vom Hauptcamp in Mytilini betreiben Ärzte ohne Grenzen eine Klinik. Hilflos müssen Mediziner und Psychologen mitansehen, wie sich der Zustand ihrer Patienten „von Tag zu Tag“ verschlimmert, so Projektleiterin Osman. Das Gros der Bevölkerung betrachtet Migranten als Eindringlinge. Ständig werden neue Regeln für sie erfunden. Im Camp dürfen neuerdings selbst bei größter Hitze Türen und Fenster nicht geöffnet werden. „Warum?“ „Du hast hier nichts verloren“, würden die Beamten erwidern. „Geh zurück, wenn es dir nicht passt!“ Jemandem wird das Essen gestrichen, dem nächsten nicht. „Warum?“ „Bestimmst du hier? Halt einfach den Mund!“ Ein Somalier wartet seit Monaten auf das erste Gespräch im Asylverfahren, ein Afghane, der mit ihm am Boot war, ist schon bei seinen Verwandten in Deutschland. „Warum?“ „Du bist hier nicht auf Urlaub. Du hast zu warten!“ In dieser Tonart gehe es tagaus, tagein weiter. Das schildern Campbewohner wie der 25-jährige Afghane Ilias und der Somalier Abdi, Flüchtlingshelferin Blancke und die Anwältin.
Nähern sich Boote der Küste, sind die Ersten, die davon Wind bekommen, in der Regel Mitglieder des Aktivisten-Netzwerks „Alarm Phone“ und das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Die Passagiere posten Hilferufe auf Facebookseiten, die auch der Polizei bekannt sind. Kaum ist der Standort lokalisiert, rasen Spezialtrupps los, um vor dem UNHCR und Ärzte ohne Grenzen da zu sein – und die Menschen zurück aufs Meer zu bringen. Allein im vergangenen Jahr sind fast 1000 nicht registrierte Flüchtlinge und Migranten verschwunden. Osman geht davon aus, dass sie gewaltsam deportiert wurden: „Wo sollten sie hin? Das ist eine Insel.“
Sind die Männer mit den Sturmhauben und den Kabelbindern schneller, finden die Helfer mitunter nur mehr Habseligkeiten vor. Der Menschenrechtsaktivist Fayad Mulla ist oft an solchen Tatorten gestanden, hat sie fotografiert und sich fassungslos gefragt, was in Menschen vorgeht, die Schutzsuchenden Rucksäcke, Decken, Wäsche in Plastiksackerl und sogar Babyflaschen abnehmen. Mulla beobachtete „Dutzende Entführungen“, er sah maskierte Beamte der Küstenwache und vermutlich Polizisten – nur Frontex-Beamte seien „seltsamerweise nie da, wo etwas passiert“. Auch Ilias* ist immer wieder zurück aufs offene Meer gebracht worden.
Im Sozialzentrum „Parea“ trifft profil den 25-jährigen Afghanen. Viele grüßen ihn, als er hinkend das Areal durchquert, um einen Platz zum Reden zu suchen. Unter einem Olivenbaum gibt es einen kleinen, aus Holzpaletten gebauten Schanigarten, von dem aus man einen ungestörten Blick auf das Flüchtlingscamp hat. Ilias ist der älteste Sohn einer sechsköpfigen Familie in Herat. Als ein Polizeiauto neben ihm auf eine von den Taliban deponierte Mine fuhr, zerfetzten Splitter sein linkes Bein. Es musste amputiert werden. Das Internationale Rote Kreuz verschaffte ihm eine Prothese. Während er davon erzählt, dass er schon als Bub aus Holz Instrumente bastelte, er sich mit 20 eine Gitarre kaufte und eigene Songs schrieb, die er im Zimmer allein für sich spielte, streichelt er sein linkes Knie, als wollte er es beruhigen. Als die Taliban nach der Machtübernahme im August 2021 anfingen, die Häuser zu durchsuchen, „angeblich nach Waffen“, wie Ilias sagt, fanden sie seine Gitarre. Die Taliban hatten Musik verboten – und Ilias wurde zur potenziellen Zielscheibe der Islamisten. Er tauchte unter und floh in den Iran. Wie er das, was dann kam – Berge, gewalttätige Schlepper, Autos, in denen er fast erstickte – überstanden hat, könne er heute nicht mehr sagen. In Teheran war sein Bein blutüberströmt. Seine Eltern verkauften ein Stück Land, um seine Reise in die Türkei zu bezahlen. So oft er dort auch zum UNHCR-Büro und zur Einwanderungsbehörde pilgerte, er bekam weder einen Arzt noch einen Aufenthaltsstatus. In Hinterhöfen und Textilfabriken wurden seine Landsleute als Arbeitskräfte ausgebeutet. Als er 1200 Dollar zusammenhatte, stieg er in ein Boot nach Griechenland. Die Beinprothese schreckte die griechische Küstenwache nicht davon ab, ihn zusammen mit anderen ins Meer zurückzuschleppen. Nach drei Versuchen landete er auf Lesbos.
Jeder hat Pushbacks hinter sich, in einem Fall waren es 20, und alle sagen das Gleiche: Wenn man so viel Geld investiert und sein Leben riskiert hat, kann man nicht zurück.
Inzwischen schicken die Schlepper die Flüchtlinge bei aufgepeitschter See los. Das ist gefährlicher, hat aber den Vorteil, dass Pushback-Manöver schwieriger durchzuführen sind. Vielen, die es bis ans europäische Ufer schaffen, sitzt die Angst vor dem Meer noch lange in den Knochen. Manchmal wagt Ilias sich an den Strand, schaut zur Türkei hinüber, die an schönen Tagen zum Greifen nahe scheint, und weint. Nicht nur wegen des Beins, das immer noch schmerzt, sondern weil er „an die Leute denkt, die noch dort sind“.
Laut Auswertungen öffentlich zugänglicher Daten beläuft sich die Zahl der „Pushbacks“ seit 2020 auf rund 23.000. Die Menschen werden zurück aufs Meer gebracht und auf manövrierunfähigen Booten ausgesetzt. Auf einer Insel wie Lesbos, wo jeder jeden kennt, spricht es sich herum, dass bei diesen – nach internationalem und europäischem Recht illegalen – gewalttätigen Abschiebungen auch untrainiertes Personal an Bord der Schiffe der Küstenwache ist, 18-, 19-, 20-jährige Kadetten der Marineakademie. „Sie erleben aus nächster Nähe Verbrechen mit, von denen sie wissen, dass man dafür normalerweise für Jahre ins Gefängnis geht“, sagt ein auf Lesbos geborener Grieche, der ebenfalls anonym bleiben will: „So sozialisiert und verroht man den Nachwuchs, zerstört Familien und die Gesellschaft.“
Vor drei Wochen befragte die Migrationsexpertin und Buchautorin Melita Šunjić rund 140 Menschen in Lesbos und auf der Balkanroute für eine Studie. „Jeder hat Pushbacks hinter sich, in einem Fall waren es 20, und alle sagen das Gleiche: Wenn man so viel Geld investiert und sein Leben riskiert hat, kann man nicht zurück“, resümiert sie. Ohne Geld für Schlepper – oder ein Flugticket, im Fall anerkannter Flüchtlinge – kommt niemand weg. Auch aus Lesbos nicht. Abgelehnte Asylwerber werden in der Nähe der albanischen Grenze abgesetzt. Hier beginnt das „Game“, die gefährliche Wanderung über die Balkanroute Richtung EU.
Subotica, (Serbien) und Szeged (Ungarn)
Die Sonne ist untergegangen über dem grünen Vorort Makova Sedmica, als es wieder einmal knallt. Hier, in den Wäldern nahe der serbischen 100.000-Einwohner-Stadt Subotica an der Grenze zu Ungarn, haben Schlepper die Kontrolle übernommen. Polizei-videos zeigen: Dirigiert von Schleppern stürmen Hunderte Migranten herbei, lehnen Leitern an den Zaun, werfen Kleidungsstücke über die Stacheldrahtkrone, um die Wirkung der Rasiermesserklingen abzudämpfen. Steine und Stöcke fliegen gegen Polizisten. Hunderte Migranten und eine nicht abschätzbare Zahl von Schleppern lagern im Wald hinter Makova Sedmica (ungarisch: Makkhetes).
profil war mit einem Team des lokalen Fernsehsenders Pannon TV im Wald von Makova Sedmica unterwegs. „Die Schießereien bringen uns um den Schlaf“, klagt Annica, eine Frau Anfang 50. „Da musst du noch Angst haben, dass ein Querschläger dein Haus trifft.“ Der 64-jährige Zoltán betont: „Ich will nichts Schlechtes über die Polizei sagen, aber ich habe selbst gesehen, wie Polizisten Migranten den Weg zur Grenze zeigen: ‚Go, go!‘“
Am Waldrand taucht kurz ein Mensch auf. „Das ist ein Späher“, erklären die Kollegen von Pannon TV. Nach zwei, drei Kilometern öffnet sich ein Wiesenstück, am Ende steht der ungarische Grenzzaun, davor türmt sich zurückgelassener Müll. Im Unterholz zeichnen sich die Konturen mehrerer Gestalten ab. „Go! Go Away!“, rufen sie. Einer wirft uns einen Prügel nach, als wir uns ins Auto setzen und wegfahren.
Fast jede Nacht seien Schüsse zu hören, erzählen Bewohner, von lang anhaltenden Gefechten ist die Rede, oft im Schnellfeuermodus aus automatischen Gewehren. Behörden, Polizei und Insider führen die Eskalation auf rivalisierende Banden zurück. Nach schweren Zwischenfällen wird das Gelände regelmäßig geräumt, doch nach wenigen Stunden sind Migranten und Schlepper wieder da. Berichte des Balkan-Investigativnetzwerks BIRN und des unabhängigen serbischen Nachrichtensenders N1 legen nahe, dass die Schlepper höhere serbische Polizeioffiziere bestechen. „Schlepperei ist ein lukratives Geschäft“, sagt BRIN-Reporter Saša Dragojlo. Und: „Es ist offensichtlich, dass der Staat mit bestimmten Schleppern kooperiert und viele von ihnen gewalttätig geworden sind.“ Im Vorjahr berichtete BIRN über einen Serben mit syrischem Vater, der seine Laufbahn als humanitärer Helfer und Polizeidolmetscher begann. Heute soll er ein Schlepperboss sein, der mit Rivalen gnadenlos abrechnet. Dabei helfe ihm seine Freundschaft mit einem Polizeimajor.
Für denselben Abend sind die Bewohner von Makova Sedmica zu einer Bürgerversammlung eingeladen. Bojan Šoralov, dem Präfekten des Landkreises Nord-Batschka mit der Hauptstadt Subotica, schlägt eine aufgeheizte Stimmung entgegen. Der Politiker, der wie fast alle Lokalgrößen aus der Serbischen Fortschrittspartei (SNS) von Präsident Aleksandar Vučić kommt, schildert angebliche Erfolge bei der Bewältigung der „Migrantenfrage“: „Im letzten Sommer hatten wir 2000 Migranten in der Innenstadt, und jetzt sind es bei Weitem nicht mehr so viele. Wir haben illegale Camps aufgelöst. Die Ungarn sagen es uns neuerdings, wenn sie Migranten zurückbringen, und wir fahren sie sofort in die Aufnahmelager.“
Wir können den Wald nicht mit Granatbeschuss überziehen, da sind wir uns hoffentlich einig.
Die Bürger bringt das noch mehr in Rage. „Dafür sind sie jetzt bei uns!“, ruft eine Frau. Und ein Mann setzt nach: „Der Staat schafft es nicht, drei Hektar Wald zu kontrollieren. Wir können da keinen Fuß mehr hineinsetzen!“ Präfekt Šoralov atmet tief durch. „Wir können den Wald nicht mit Granatbeschuss überziehen, da sind wir uns hoffentlich einig.“ Es folgen Versprechungen – mehr Polizeistreifen, schärfere Kontrollen von Taxifahrern, die Migranten zum Wald bringen, Bürgerversammlungen. „Bürokraten-Gelabere!“, grummelt der Mann aus dem Publikum.
Sowohl Ungarn als auch Serbien sind Durchzugsländer für Migranten und Asylsuchende. Die grenznahen Zentren in den nordserbischen Städten Subotica und Sombor dienen nur als kurzer Ruhestopp vor dem nächsten Versuch, den ungarischen Grenzzaun zu überwinden, der mit Wärmebildkameras und Aufklärungsdrohnen aufgerüstet wurde.
Auf dem Weg in die EU ist Österreich das erste Land, in dem Menschen ein faires Asylverfahren erwartet und sie keine Pushbacks zu befürchten haben. In Ungarn existiert das Recht auf Asyl praktisch nicht mehr. Schutzsuchende können nur an den ungarischen Botschaften in Belgrad und Kyiv den Antrag auf einmalige Einreise nach Ungarn zwecks Asylantrags stellen. Diesem wird jedoch so gut wie nie stattgegeben. Der EuGH hob diese Regelung am 22. Juni auf. Orbáns Juristen haben nun drei Monate Zeit, sich etwas Neues einfallen zu lassen.
Bereits im Herbst 2015 hatte Orbán an der 160 Kilometer langen Grenze zu Serbien eine drei Meter hohe, mit rasiermesserscharfem Stacheldraht gekrönte Sperranlage errichten lassen. Wen die Sicherheitskräfte auf der ungarischen Seite oder auch tief im Landesinneren fassen, schieben sie nach Serbien zurück. Fast 33.000 solcher Pushbacks führte Ungarn allein heuer durch. Dafür lässt sich Orbán als „Burgkapitän der äußersten Festung Europas“ feiern.
Bihać, Bosnien-Herzegowina
Asim Karabegović, 62, steht in einer Lagerhalle und lässt seinen Blick über Kisten voller Spenden schweifen. Es ist Mitte Juni, vor der Tür brennt die Sonne auf den Asphalt eines Industrieviertels am Rande der Stadt: Bihać, 60.000 Einwohner, gelegen im Nordwesten Bosnien-Herzegowinas, wenige Kilometer von Kroatien und der EU-Außengrenze entfernt.
2018 wurde die Stadt zum Hotspot der Migrationskrise. Zwischenzeitig hatte Bihać gleich viele Einwohner wie Geflüchtete.
Karabegović engagiert sich für die Wiener NGO „SOS-Balkanroute“, die seit Jahren Hilfstransporte mit Sachspenden nach Bosnien-Herzegowina bringt, darunter auch in diese Lagerhalle. „Derzeit brauchen wir vor allem Schuhe, weil sie von den langen Märschen kaputt werden oder die kroatische Polizei sie ihnen wegnimmt “, sagt er. Sie kämen auf Socken zu ihm zurück – manche sogar barfuß. Polizisten eines EU-Mitgliedslandes, die Migranten und Flüchtlingen die Schuhe wegnehmen? Karabegović hat schon Schlimmeres gesehen. Geprügelte Rücken in allen Farben, „von Rot über Blau bis Schwarz“.
Die Westbalkanroute ist eine der am häufigsten genutzten Migrationsrouten nach Europa – und sie wird immer gefährlicher. Die Liste an dokumentierten Menschenrechtsverletzungen ist lang. Von bulgarischen Polizisten, die Hunde auf Geflüchtete hetzen, bis zu ungarischen Grenzern, die Menschen stundenlang in Container sperren. In Kroatien hält Asim Karabegovićs mit seinem Auto auf einer asphaltierten Straße, die direkt auf die Grenze zuläuft. Aus Angst, von der Polizei aufgegriffen zu werden, gehen die Menschen nicht mehr auf den Straßen, sondern schlagen sich durchs Gebüsch, erzählt er. „Dort gibt es bis heute Minen aus der Zeit des Bosnienkrieges“, fügt er hinzu, „und Schlangen.“
Weit und breit ist niemand zu sehen. Nur eine heruntergekommene Baracke mit von den Lagerfeuern rußschwarzen Wänden ist zurückgeblieben. Flüchtlinge werden in Bosnien-Herzegowina immer unsichtbarer. Nur am Busbahnhof ist eine kleine Gruppe zu sehen, die von einem Bus ins nächste Schlepperfahrzeug huscht.
Im Schatten eines Baumes, unter dem sich Müll angesammelt hat, trifft Asim Karabegović auf drei junge Männer aus Marokko und Algerien. Von Weitem sehen sie aus, als kämen sie vom Camping-Urlaub: Sportrucksack, Sonnenhut, Schlafsäcke. Wären da nicht die Platzwunde an der Schläfe eines der Männer. Er wirkt sichtlich verstört und desillusioniert, fleht Asim Karabegović an, er solle ihn an die Grenze bringen. Dann bettelt er seine Tochter an, die neben ihm steht: „Please, mother“, sagt er, „Bitte, Mutter“. Er wankt auf seinen Beinen. Ob aus Müdigkeit von den Strapazen oder weil er Alkohol oder Schmerztabletten konsumiert hat, ist schwer zu sagen. Letzteres komme vor, sagt Karabegović.
Was in den Wäldern von Kroatien passiert, ist mittlerweile umfassend dokumentiert.
Videos und Screenshots aus internen WhatsApp-Gruppen der kroatischen Polizei dokumentieren, wie maskierte Männer Flüchtlinge dort mit Knüppeln schlagen und „Go to Bosnia!“ rufen. Fotos zeigen Menschen mit dem Gesicht nach unten am Boden liegend, zusammengetrieben wie Tiere. Die Bilder waren auch deswegen ein Skandal, weil die EU-Kommission die kroatische Grenzsicherung mit mehr als 160 Millionen Euro mitfinanziert.
Selbst wer es schafft, diese Grenze zu überqueren, ist vor einem Pushback nicht sicher, erzählt Karabegović. Vergitterte Kleinbusse ohne Fenster sammeln Flüchtlinge auf und bringen sie zurück nach Bosnien. Manche kommen ohne Bargeld und Schuhe zurück und versuchen es – trotz Schlägen und Demütigungen – viele weitere Male. Auch in Bihać kennt man den zynischen Begriff für das ungelöste Problem: „The Game“, das Spiel.
Derzeit versuchen es viele über Gradiška im Norden Bosnien-Herzegowinas. Dort bildet der Fluss Save die Grenze. Die Menschen schwimmen ans andere Ufer oder nehmen ein Motorboot. Die Zeit der wilden Camps, in denen über Wochen Menschen hausten, sind vorbei. Stattdessen gibt es in Bosnien-Herzegowina von der EU finanzierte Auffanglager. Darunter „Lipa“, ein Container-Dorf im Nirgendwo der bosnischen Wälder. Das Innere bleibt Medien, wie auch auf Lesbos, verborgen. Auf Nachfrage bei einem Wachmann vor Ort wird profil ein Rundgang verwehrt. Sicher ist: Niemand bleibt lange in den Containern. Lipa gilt als Verschnaufpause auf der Balkanroute.
Wer von dort an die Grenze will, muss mehrere Stunden Fußmarsch auf sich nehmen. Und so entsteht in Bosnien-Herzegowina der falsche Eindruck, die Migrationskrise habe sich in Luft aufgelöst. Die Menschen sind nur unsichtbar geworden, weil man sie aus den Städten und Ballungsräumen vertrieben hat.
Brüssel
Ob in Griechenland, Ungarn, Kroatien oder Bulgarien – was an Europas Außengrenzen geschieht, auf See und an den Küsten, nächstens in Wäldern und hinter den Mauern von Anhaltezentren, sind verleugnete oder in Kauf genommene Folgen eines europäischen Versagens.
Seit Jahrzehnten können sich die Mitgliedstaaten weder auf einheitliche asylrechtliche Standards noch auf eine gerechte Verteilung von Flüchtlingen einigen. Einige EU-Mitglieder, allen voran in Osteuropa, wollen gar keine aufnehmen. Brüssel droht neuerdings mit einem „Solidaritätsmechanismus“: Für jeden nicht aufgenommenen Flüchtling sollen 20.000 Euro Strafe fällig werden. Man konnte sich darauf verständigen, dass ein Menschenleben offenbar so viel wert ist.
Beim jüngsten Gipfel der 27 EU-Innenminister wurde erstmals ein Kompromiss über eine EU-Asylreform erzielt. Sie sieht unter anderem Schnellverfahren an den Außengrenzen und raschere Abschiebungen vor. Entscheidende Fragen bleiben aber ungelöst – und eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge ist immer noch nicht in Sicht.
Dass der Ausnahmezustand längst Normalität wurde, ist einer Politik der Abschreckung geschuldet, die alles auf die „Kommt bloß nicht!“-Karte setzt. Ein Schwenk ist nicht in Sicht. Wer die Botschaft nicht hören will und trotzdem kommt, soll sie schmerzlich fühlen.
2019 endete die EU-Seenotrettungsmission Sofia. Die Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer ist seither fast alleinige Domäne von Hilfsorganisationen. Schiffen wird die Einfahrt in Häfen verwehrt. Im vergangenen Jahr sind laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mindestens 2406 Männer, Frauen und Kinder im Mittelmeer ertrunken, seit 2014 waren es mehr als 27.000. Die Dunkelziffer dürfte viel höher liegen. Abkommen wie jene zwischen Italien und Libyen oder der Türkei-Deal der EU sorgten dafür, dass eine Weile tatsächlich weniger Menschen an den europäischen Küsten landeten. Inzwischen ist der Effekt verpufft.
2022 wurden in der gesamten EU mehr als 960.000 Asylanträge gestellt, nach 2015 und 2016 der dritthöchste Wert, das Gros davon in Deutschland, gefolgt von Frankreich, Spanien und Österreich. Die Zahl zu verringern, gilt als vordringlich, und sei es mithilfe von Pushbacks.
Mitte Mai veröffentlichte die „New York Times“ ein Video, das belegt, wie Menschen auf Lesbos von maskierten Männern in Lieferbusse gepfercht und am offenen Meer auf einer nicht manövrierfähigen Rettungsinsel ausgesetzt werden, damit die türkische Küstenwache sie abholt.
Das Video löste eine Schockwelle aus. „Mit dieser Lüge kann man nicht mehr weitermachen“, sagt Fayad Mulla, Menschenrechtsaktivist und Urheber des Videos. Einige Tage lang schien sich die griechische Küstenwache zurückzuhalten, dann gingen die Entführungen und Deportationen weiter, berichtet Mulla. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson forderte eine unabhängige Untersuchung, tatsächlich obliegt diese Griechenland.
Wird es für die Griechen Konsequenzen geben – oder werden die Gesetzesbrüche in der Ägäis Vorbild und Praxis in ganz Europa?
profil bemühte sich um Auskunft, wo die Ermittlungen aktuell stehen. Vergeblich. Auch von Johansson gab es keine Stellungnahme zu den übermittelten Fragen.
Eine Schockwelle verebbt, die nächste hebt an: Mitte Juni sank rund 47 Seemeilen südwestlich der griechischen Küstenstadt Pylos ein Flüchtlingsboot. Hunderte ertranken, nur 104 überlebten. Auch diesmal erheben Überlebende schwere Vorwürfe gegen die griechische Küstenwache, machen sie für das Kentern des Schiffs und unterlassene Hilfeleistung verantwortlich. Die griechische Staatsanwaltschaft ermittelt in diesem Fall zwar. Allerdings, so Johansson vergangene Woche vor dem Europaparlament, lediglich gegen die Schlepper – und nicht gegen die Küstenwache.
So groß das Entsetzen war, es legte sich auch nach der Tragödie vor der griechischen Küste wieder. Einmal mehr stellt sich die Frage: Wird es für die Griechen Konsequenzen geben – oder werden die Gesetzesbrüche in der Ägäis Vorbild und Praxis in ganz Europa?
Die Folgen des permanenten Scheiterns sind offensichtlich: Funktioniert die Verteilung der Flüchtlinge auf Europa und die Rückführung abgewiesener Asylwerber nicht und geht der Zustrom trotz Abschreckungspolitik weiter, erschöpft sich die Kapazität der Anhaltezentren an den Außengrenzen. Das alte, zynische Spiel geht weiter; Menschenrechtsverletzungen aller Art inklusive.