Evakuierung aus Niger: „Wir müssen hier weg“
Am Tag nach dem Putsch in Niger feiern die Menschen in der zentralnigrischen Stadt Agadez, als gäbe es nichts mehr zu verlieren. Zu Tausenden tanzen sie durch die Straßen der Wüstenstadt, schwenken Fahnen, tragen Küchengeräte, Stühle und Leitern auf den Schultern. Es ist das sogenannte Bianou-Fest. Tagelang feiern die Menschen jedes Jahr den Einzug des Propheten nach Medina und schwören dem Sultan von Agadez die Treue. Es ist ein Fest des Zusammenhalts und der Gemeinschaft. Doch heuer ist es anders.
Inmitten der Frauen, Männer und Kinder, der Alten und Jungen steht Gerald Igor Hauzenberger. Der österreichische Regisseur will noch einige letzte Aufnahmen für seinen Dokumentarfilm drehen. In den vergangenen fünf Jahren haben Hauzenberger und seine Co-Autorin Gabriela Schild viel Zeit in Agadez verbracht. Der Film mit dem Arbeitstitel „On the Border“ handelt von der Stadt und ihren Menschen. Es geht um Schlepperei, Drogenschmuggel und die ständige Bedrohung durch Terroristen. Und um die Hoffnung der Einwohner von Agadez, die Stadt wieder attraktiver für Touristen zu machen.
Hauzenberger und Schild haben sich hier, mitten in der Wüste, stets sicher gefühlt. Bei Drehs außerhalb der Stadt begleiten Sicherheitskräfte das Filmteam, in Agadez selbst können sie sich frei bewegen.
Doch dann, am 26. Juli, setzt das Militär in der Hauptstadt Niamey die demokratische Regierung ab. General Abdourahamane Tchiani lässt den gewählten Präsidenten Mohamed Bazoum gefangen nehmen und erklärt sich zum neuen Staatschef.
Antikolonialer Zorn
Auch im 1000 Kilometer entfernten Agadez kippt die Stimmung. Es ist der Höhepunkt des Bianou-Fests, am späten Nachmittag ist die Atmosphäre aufgeheizt. Einige junge Leute wirken alkoholisiert, das passt nicht zur Tradition. Eine Gruppe aufgebrachter Menschen bildet einen Kreis um Hauzenbergers Kamerateam und beschimpft die Europäer in der Landessprache Haussa. Bald, so Hauzenberger, sei klar gewesen: „Wir müssen hier weg, am besten so schnell wie möglich.“
Die Wut, die Hauzenberger und Schild an diesem Tag entgegenprallt, richtet sich in erster Linie gegen Frankreich. Die Putschisten, die soeben das Staatsoberhaupt in Niamey gestürzt haben, werfen der ehemaligen Kolonialmacht korrupte Machenschaften mit der Elite des Landes vor. Für sie ist Bazoum eine Marionette Frankreichs.
In der Hauptstadt brennt das Tor zur französischen Botschaft. Tausende ziehen durch die Straßen, schwenken russische Fahnen und geben den ehemaligen Kolonialherrschern zu verstehen, dass sie hier nichts mehr verloren haben. Der Westen ist alarmiert, immerhin galt Niger als Stabilitätsanker in der Region. In den vergangenen Jahren haben Militärs fast in der gesamten Sahelzone geputscht, seit 2020 gab es in sechs Ländern erfolgreiche Coups: 2021 in Mali, Guinea, dem Sudan und im Tschad, 2022 in Burkina Faso – und nun auch in Niger. Damit reicht der „Putschgürtel“ südlich der Sahara von einer Küste zur anderen und ist fast 6000 Kilometer lang.
Nach der Machtübernahme der Generäle in Niger stellte der Westen seine Finanzhilfen ein, die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas verhängte ein Handelsembargo und drohte mit Gewalt, sollte Bazoum nicht wiedereingesetzt werden.
Droht ein Krieg in Afrika?
Zur militärischen Intervention bereit erklärt haben sich Nigeria, Benin, der Senegal und die Elfenbeinküste. Doch auch hinter den Putschisten hat sich eine Allianz gebildet. Die benachbarten Militärregime Mali und Burkina Faso, deren Mitgliedschaften in der Ecowas nach den Coups suspendiert sind, haben erklärt, jede Intervention im Niger als Kriegserklärung aufzufassen. Dass es zu Kämpfen kommt, halten Experten dennoch für unwahrscheinlich. Ecowas verfügt über keine eigenen Truppen. Und die Mitglieder mit den größten Armeen, Nigeria und die Elfenbeinküste, haben genug mit dem Kampf gegen Terroristen im eigenen Land zu tun.
Die Drohung des Staatenbundes, zur Not in Niger einzumarschieren, ist zwar nicht vom Tisch. Ecowas hat die Militärchefs ihrer Mitgliedstaaten angewiesen, „sofort“ eine Eingreiftruppe für einen möglichen Einsatz im Niger zusammenzustellen. Doch immerhin hat die Führung der Staatengemeinschaft ihre Hoffnung auf eine diplomatische Lösung betont.
Am vorläufigen Ende der letzten verbliebenen Demokratie in der Region ändert das freilich nichts. Mit dem Putsch in Niger verliert der Westen einen wichtigen Partner. Es geht um den Kampf gegen Terroristen. Und es geht um Migration.
„Niger war der Anker in der Sicherheitspolitik Europas in der Region“, sagt auch Hauzenberger.
Zum 2021 gewählten Präsidenten Bazoum habe man gute Beziehungen aufbauen können, vom Niger aus sollte die Region bewacht und kontrolliert werden. Am Rande von Agadez bauten die Amerikaner einen Stützpunkt für Drohneneinsätze gegen Terroristen, rund 1000 US-Soldaten waren dort stationiert. In Mali und Burkina Faso konnten islamistische Terrorgruppen, afrikanische Ableger von Al-Kaida und dem Islamischen Staat, große Gebiete einnehmen. Über die Tausende Kilometer langen Grenzen zu den Nachbarn sickern die Islamisten auch nach Niger ein. Sie überfallen Dörfer und rekrutieren junge Männer, denen das Land keine Perspektive bietet.
Die EU versucht, den Vormarsch der Terroristen mit einer Militärmission zu stoppen. Die 60 Soldaten der „European Union Military Partnership Mission“ unterstützen die nigrische Armee seit Februar beim Aufbau von Kapazitäten im Kampf gegen Terroristen. Doch nun fragt sich, wie es damit weitergeht.
Geopolitische Machtkämpfe
Europa hat in der Sahelzone an Einfluss verloren, Russland dazugewonnen. In den sozialen Medien schaltet Moskau Propaganda und Desinformationskampagnen, um die antifranzösische Stimmung anzuheizen.
Und auch militärisch hat Russland in den vergangenen Jahren Raum eingenommen.
In Mali sind bis zu 2000 Wagner-Soldaten stationiert, russische Söldner einer paramilitärischen Gruppe, die in Afrika und in der Ukraine als verlängerter Arm Moskaus agiert. Auch in Burkina Faso unterstützt Russland das neue Militärregime. Beide Länder haben mit der alten Kolonialmacht Frankreich gebrochen und die Karten neu gemischt. Die französischen Truppen zogen sich zurück in die nigrische Wüste. Mit dem Putsch wird nun auch Niger zum Schauplatz geopolitischer Machtkämpfe.
Zwar hat Frankreich seine afrikanischen Kolonien in den 1960er-Jahren in die Unabhängigkeit entlassen. Doch der wirtschaftliche und politische Einfluss blieb. Niger ist einer der größten Lieferanten von Uran für die EU, allen voran Frankreich, das damit seine Atomkraftwerke betreibt. Damit soll nun Schluss sein: Die Militärregierung hat den Export von Uran und Gold nach Frankreich verboten.
Der erzwungene Abzug der ehemaligen Kolonialmacht aus dem Putschgürtel hinterlässt eine Lücke, die Moskau und Peking bereitwillig füllen. Russland ist zum größten Waffenlieferanten Afrikas geworden – und China investiert Milliarden in den Aufbau der Infrastruktur und in die Ausbeutung von Rohstoffen.
Wird Russlands Einfluss auch in Niger zunehmen?
Offiziell hat der Kreml den Putsch verurteilt. Doch die in Mali und Burkina Faso stationierten Soldaten der Wagner-Gruppe stehen bereit, die Putschisten zu unterstützen. Für Wagner-Chef Jewgenij Prigoschin, dessen Aufstand gegen die russische Armeeführung eben gescheitert ist, bietet der Coup im Niger eine Gelegenheit, Moskau seine Stärke in Afrika zu beweisen.
Die USA zeigen sich besorgt. Der staatliche Thinktank „United States Institute for Peace“ geht davon aus, dass der Kreml Prigoschin und seine Truppen in Afrika braucht. Womöglich hat Putin den Wagner-Chef nach dem Machtkampf um die Armeeführung angewiesen, sich künftig auf Afrika zu konzentrieren.
Auch der gestürzte nigrische Präsident warnt vor dem Einfluss Russlands. „Mit einer offenen Einladung der Putschisten und ihrer regionalen Verbündeten könnte die gesamte zentrale Sahelzone über die Wagner-Gruppe, deren brutaler Terrorismus in der Ukraine zur Schau gestellt wurde, dem russischen Einfluss unterliegen“, schreibt er in einem Gastbeitrag für die „Washington Post“.
Russland interessiert sich nicht nur wegen der Rohstoffe für die Region. Eine Destabilisierung schadet Europa, und das ist ganz im Sinne Moskaus.
Besonders junge Menschen begrüßen die Idee, sich neue Verbündete zu suchen und Europa den Rücken zu kehren.
Dabei hatte sich die Sicherheitslage in Niger in den vergangenen Jahren verbessert, im Vergleich zu Mali und Burkina Faso galt das Land als relativ sicher. Internationale Militär- und Polizeimissionen halfen im Kampf gegen den Terror – und sorgten dafür, die illegale Migration nach Europa einzudämmen.
Geschätzte 150.000 Menschen durchqueren das Land jedes Jahr. „Niger war der Grenzwächter Europas“, sagt Hauzenberger.
Unsichtbare Grenzen
Nigers Hotspot für irreguläre Migranten ist die rund 200.000 Einwohner zählende Stadt Agadez. Die gleichnamige Region ist fast doppelt so groß wie Deutschland, aber fast menschenleer. Rund 2800 Kilometer sind es von hier bis zum Mittelmeer, dazwischen erstreckt sich die Wüste.
Nach dem Flüchtlingsjahr von 2015 wurde Niger zum Anker für eine Zusammenarbeit Europas mit Afrika „auf Augenhöhe“, wie es die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel formulierte. Seither flossen Millionen in Entwicklungsprojekte, Mikrokredite und in die Grenzsicherung und Terrorbekämpfung. Am Rand von Agadez liegt die Außenstelle der europäischen Krisenbewältigungsmission Eucap. Seit 2016 werden hier nigrische Sicherheitskräfte im Kampf gegen Terrorismus, organisierte Kriminalität, Schmuggel und Menschenhandel ausgebildet. Das Vorhaben: Migranten zu stoppen, noch bevor sie die gefährliche Reise durch die Wüste und über das Mittelmeer antreten. Dafür ist Agadez, seit jeher Transitstadt für Reisende und Migranten, der Schlüssel. Hier verläuft die Grenze für Afrikaner auf dem Weg nach Europa.
„Eucap genießt hohes Ansehen in der Stadt“, sagt Hauzenberger. Mit der Ausbildung junger Polizisten, die ihre erlernten Techniken etwa im Kampf gegen Banden anwenden, sei Agadez sicherer geworden. Das Ansehen des Polizistenberufs habe dazugewonnen, die Sicherheitskräfte tauschten sich auch mit dem Volk der Tuareg und anderen Nomaden in der Wüste aus. Die Migrationsströme Richtung Norden hätten sich reduziert, ebenso die Zahl der Todesopfer in der Sahara. „Jetzt tauscht die Militärregierung alle politischen Entscheidungsträger aus“, sagt Hauzenberger, „und die gemeinsamen Anstrengungen brechen zusammen.“
Unsere Sorge war, das Zeitfenster für die Evakuierung zu verpassen.
Mit Stand Ende vergangener Woche befand sich noch eine Handvoll europäischer Polizisten in der Eucap-Ausbildungsstätte bei Agadez. Mit ihrer Hilfe gelangten Hauzenberger und Schild schließlich auch in die Hauptstadt. Mit einer kleinen Maschine flogen die beiden nach Niamey, dort ergatterten sie Plätze im letzten Evakuierungsflug nach Paris.
„Unsere Sorge war, das Zeitfenster für die Evakuierung zu verpassen und dann in der unsicheren Lage festzustecken“, sagt Schild. Nach dem Putsch bewachten Soldaten mit Kalaschnikows die Dokumentarfilmer aus Österreich rund um die Uhr. Es sei nicht klar gewesen, wessen Befehl sie folgen.
„Ihr gehört jetzt zu uns“
Am vergangenen Dienstag sitzt Hauzenberger im Studio seiner Produktionsfirma „Framelab“ im 15. Wiener Gemeindebezirk, vor ihm drei Bildschirme mit Rohmaterial. Er sieht müde aus.
Für Hauzenberger und Schild waren es anstrengende Tage. Mit dem Kopf und mit dem Herz sind sie noch in der Wüstenstadt bei den Protagonisten ihres Films, die sie fünf Jahre lang begleitet haben. „In dieser Zeit haben wir nie eine Russland-Fahne gesehen oder Ressentiments gegen Weiße erlebt“, sagt Schild, die selbst französische Wurzeln hat.
Hauzenberger reibt sich die Augen.
„Das Militär hat Gespräche mit der Wagner-Gruppe aufgenommen. Sollten die beiden künftig zusammenarbeiten wie in Mali, ist Europa in der gesamten Region gescheitert“, sagt er. Die Bevölkerung in dem bitterarmen Land habe nicht vom Wirtschaftsaufschwung profitiert, viele leben ohne Strom und Zugang zu Trinkwasser. Projekte zum Aufbau der Infrastruktur stockten, Peking liefere schneller. Im Gegenzug baut China in Niger Uran und andere Rohstoffe ab. „Besonders junge Menschen begrüßen die Idee, sich neue Verbündete zu suchen und Europa den Rücken zu kehren“, sagt Hauzenberger.
Der Schmuckhändler Ahmed Dizzi aus Agadez sieht das anders.
Als vor einer Woche der Anruf mit der Nachricht kommt, dass ein Flugzeug sie nach Niamey bringen kann, drehen Hauzenberger und Schild gerade ihre letzte Szene mit Dizzi. Fünf Jahre lang haben sie ihn immer wieder interviewt, jetzt sitzt der Schmuckhändler inmitten eines Sandsturms auf der Straße und macht sich Sorgen um sein Geschäft. „Meine Kunden sind aus Europa“, sagt er, „ich habe noch nie Schmuck an Russen oder Chinesen verkauft.“
Für die Wüstenstadt Agadez ist der Putsch eine Katastrophe.
Am Schnittplatz begutachten Hauzenberger und Schild das gedrehte Material. Auf dem Bildschirm erscheint der Regionalchef von Agadez, Mohammed Anako. „Ihr gehört jetzt zu uns“, sagt er in einem Interview von vergangenem Jänner. Und: „Noch nie kam ein Filmteam so oft in die Wüstenstadt. Noch nie hat jemand über die Jahre hinweg Entwicklungen beobachtet und Interviews mit Einheimischen geführt.“ Agadez zu verlassen, sei eine schwere Entscheidung gewesen, sagt Schild, denn die nigrischen Teammitglieder blieben zurück.
Falls sich die Demokratie wider Erwarten durchsetzt, will Hauzenberger nicht ausschließen, noch einmal nach Agadez zu reisen. Sein Dokumentarfilm soll 2024 auf Filmfestivals laufen und danach ins Kino kommen. Bis Ende des Jahres wäre noch Zeit, in die Wüste zurückzukehren: Die Drehgenehmigung läuft erst im Dezember aus.
Porträt einer Wüstenstadt
Der österreichische Regisseur Gerald Igor Hauzenberger, 55, und seine Co-Autorin Gabriela Schild, 32, die auf traumasensible Filmarbeit spezialisiert ist, haben in den vergangenen fünf Jahren immer wieder in der zentralnigrischen Stadt Agadez gedreht. Für ihren Dokumentarfilm mit dem Arbeitstitel „On the Border“ begleiteten sie die Einwohner der Wüstenstadt in ihrem Kampf um Anerkennung ihrer Kultur inmitten geopolitischer Machtkämpfe.
Hauzenbergers Dokumentarfilme, darunter „Der Prozess“ über den Wiener Neustädter Tierschützerprozess sowie der Porträtfilm „Einst süße Heimat – Begegnungen in Transsylvanien“, wurden mehrfach ausgezeichnet. Seit der Doku „Last Shelter“ (2015) über die Besetzung der Wiener Votivkirche durch abgelehnte Asylwerber befasst sich Hauzenberger mit Migration und Flucht. Die Migrationspolitik Europas, allen voran das Bestreben, Menschen auf dem Weg in die EU aufzuhalten, spielt auch im Film über Agadez eine zentrale Rolle.