Ex-Soldat über die Taliban: "Sie werden mir nicht verzeihen"
Rafeh Safi* serviert Tee, Süßigkeiten und Obst. Dann nimmt er Platz. Mit sanfter Stimme weist er gleich zu Beginn darauf hin, dass er schon immer einen langen Vollbart getragen habe. Nicht etwa aus Zwang oder um unter den neuen Machthabern Afghanistans, den Taliban, nicht aufzufallen. "Ich bin ein gläubiger Muslim und nehme meine Religion sehr ernst", sagt Safi. Dann fügt er hinzu: "So waren viele von uns."
Mit "uns" meint er seine Kameraden von der mittlerweile aufgelösten Armee der afghanischen Republik. Safi war bis vor einem Jahr, als die Taliban gewaltsam die Macht an sich rissen, Soldat. In einem verborgenen Ordner seines Smartphones hat er ein Foto seiner Einheit abgespeichert, die meist im Norden des Landes stationiert war. Ohne die schweren Waffen könnte man die Elitesoldaten für Pfadfinder halten. Die meisten Männer auf dem Foto sind höchstens Anfang 20. Viele von ihnen leben nicht mehr. Sie wurden im Kampf gegen die Taliban getötet. Safi hatte Glück, überlebte und tauchte unter. Seit August des vergangenen Jahres versteckt er sich im Norden des Landes im Haus einer Verwandten. Er fürchtet um sein Leben. "Sie werden mir nicht verzeihen", sagt er.
Währenddessen herrscht anderswo gute Laune. Farooq Wardak ist in den letzten Jahren zwar sichtlich gealtert. Seine Haare sind grau geworden, er hat einiges an Gewicht verloren. Doch Afghanistans ehemaliger Bildungsminister war guter Dinge, als er Anfang Juni dieses Jahres am Kabuler Flughafen landete und von Vertretern der Taliban-Regierung empfangen wurde. Für das neue Regime war die Rückkehr Wardaks ein Erfolg, der propagandistisch entsprechend zelebriert wurde. "Seht her! Die von uns ausgerufene Amnestie ist keine Lüge", lautete die Message der Taliban. Tatsächlich ist der 63-jährige Wardak der bis dato höchste Offizielle der im vergangenen Sommer gestürzten afghanischen Republik, der in seine Heimat zurückgekehrt ist-trotz der neuen Herrscher. "Die Menschen haben nichts zu befürchten und können in ihre Heimat zurückkehren", sagte er kurz nach seiner Ankunft. Nur ein "sehr kleiner Teil" müsse mit Maßnahmen rechnen und sollte sich eine Rückkehr nach Afghanistan genau überlegen.
Wen genau der Ex-Minister damit meint, bleibt unklar. Nach Einschätzung vieler Beobachter gehörte Wardak zu den korruptesten Politikern Afghanistans. Während der Amtszeit von Präsident Hamid Karzai war sein Ministerium unter anderem für die Existenz sogenannter Geisterschulen verantwortlich, durch die ausländische Gelder in Millionenhöhe akquiriert wurden. Konkret handelte es sich dabei meist um leer stehende oder ausschließlich auf dem Papier existierende Gebäude, die als Schulen angeführt wurden. Sie sind ein Grund dafür, warum bis heute in vielen Landesteilen Bildungseinrichtungen fehlen, während Männer wie Wardak in den Karzai-Jahren steinreich wurden. In seiner Amtszeit lebte Wardak wie die meisten anderen Mitglieder des afghanischen Kabinetts in Saus und Braus und führte ein Jetset-Leben. Verschiedenen Berichten zufolge soll er mehrere Immobilien im Ausland besitzen. In den Vereinigten Arabischen Emiraten, wohin viele korrupte afghanische Politiker ihr Geld geschleust haben, besaßen Wardak und seine Ehefrau mindestens zwei Luxusimmobilien. Sein Sohn soll vor rund einem Jahr eine weitere teure Immobilie in den USA ersteigert haben. Zeitgleich machten kurz nach Wardaks Rückkehr nach Kabul frühere Interviews des Ex-Ministers die Runde, in denen er unter anderem die Existenz der Taliban leugnete oder die Korruption der alten Regierung relativierte.
Ist die Nachsicht im Falle Wardaks ein Beleg dafür, dass die von den Taliban ausgerufene Generalamnestie für die Mitglieder der gestürzten Regierung und deren Sicherheitsapparat tatsächlich gilt? Niemand habe Vergeltung zu befürchten, behauptete etwa Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid. Doch in der Praxis sieht das anders aus. Bereits im November 2021 veröffentlichte die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch einen Bericht, demzufolge seit der Machtübernahme der Taliban mehr als 100 ehemalige Sicherheitskräfte getötet wurden oder verschwunden seien. In einigen Fällen hätten lokale Taliban-Kommandeure Listen mit Personen zusammengestellt, die aufgegriffen oder ermordet werden sollten. Laut einer Recherche der "New York Times" wurden allein in den ersten sechs Monaten der Taliban-Herrschaft rund 500 ehemalige Regierungsangestellte und Ex-Soldaten verschleppt oder getötet. Videoclips, die in den sozialen Medien geteilt wurden und oftmals nicht verifiziert werden konnten, zeigen die Folter oder Ermordung von Mitgliedern der zerfallenen Armee. "Es gibt keine Amnestie. Die Taten der Taliban sprechen für sich", sagte der irische Afghanistan-Kenner Michael Semple bereits vor Monaten. Währenddessen sprachen die Taliban angesichts der Vorwürfe von "abtrünnigen Elementen" und "persönlichen Feindschaften". Todeslisten und eine systematische Verfolgung von Ex-Soldaten würde es nicht geben.
Keine Gnade für Ex-Soldaten
Rafeh Safi ist ganz sicher, dass er nicht auf Gnade zu hoffen braucht. Während Politiker wie Farooq Wardak in Kabul hofiert werden, bleibt er in seinem Versteck. "Ich verlasse das Haus selten, und wenn, dann nicht allein", sagt er. Einst führte Safi ein ganzes Bataillon im Kampf gegen die Taliban. Heute verbringt er viel Zeit mit Haus- und Gartenarbeit. In den Karzai-Jahren absolvierte Safi die Militärakademie in Kabul und schloss sich den bewaffneten Streitkräften an, die von den USA und anderen NATO-Staaten bewaffnet und ausgebildet wurden. Er arbeitete sich hoch und landete schließlich bei den Spezialkommandos-Eliteeinheiten, die die "Drecksarbeit" erledigen. Safi und seine Kameraden operierten in Regionen, die bereits von den Taliban erobert worden waren oder kurz vor dem Fall standen. Sie agierten dort als Himmelfahrtskommando. "Wir gingen unserer Pflicht nach und riskierten unser Leben, doch man hat uns einfach fallengelassen", sagt Safi bedrückt.
Wir gingen unserer Pflicht nach und riskierten unser Leben, doch man hat uns einfach fallengelassen"
Besonders übel nahmen ihm die Taliban seine Frömmigkeit. "Warum kämpfst ausgerechnet du gegen uns?", fragten sie ihn während der Feuerpausen über Funk. Irgendwann tauschte Safi sogar die Handynummer mit seinen Feinden aus. Es war der Versuch, einander zu verstehen. Mitunter führte Safi stundenlange theologische Diskussionen mit den Taliban. "Ich konnte ihre Ideologie nicht akzeptieren", sagt er, "sie war für mich falsch. Heute weiß ich allerdings, dass auch der Armee viele Unwahrheiten erzählt wurden." In den letzten Jahren fanden Zehntausende junge Männer wie er den Tod. Die Opferzahlen der afghanischen Sicherheitskräfte waren meist um ein Vielfaches höher als jene von Zivilisten. Selten wurden sie gezählt oder gar gewürdigt. Umso tragischer ist die Tatsache, dass Soldaten wie Safi oftmals gegen ihre eigenen Bekannten, Nachbarn oder Verwandten kämpfen mussten. "Die Taliban sind unsere fehlgeleiteten Brüder", sagte Hamid Karzai einst während eines viel zitierten Interviews mit dem afghanischen Privatsender "Tolo". Und tatsächlich gibt es auch in Safis Heimatstadt Geschichten von Brüdern, die einander bekämpften. Während sich der eine den Taliban anschloss, ging der andere zur Armee. So war es auch in Safis Familie. Vor rund drei Jahren zog sein jüngerer Bruder aus und schloss sich Taliban-Kämpfern in seiner Heimatregion an. Erst nach mehreren Monaten und zahlreichen Überredungsversuchen seiner Geschwister kehrte er nach Hause zurück. Dass es für den Bruder auch anders enden hätte können, zeigt ein Blick auf die Friedhöfe des Landes. Hier schmücken sowohl die Flagge der afghanischen Republik als auch jene des Taliban-Emirats die Gräber. Meist handelt es sich um die gefallenen Söhne derselben Familie. Auch Safis Bruder ist den Extremisten treu geblieben. Er gehört mittlerweile zu den ersten Absolventen der Polizeiakademie der Taliban in Kabul.
Der nächste Kampf wartet
Safi hat die Taliban bis zum Fall der Republik bekämpft. In der Provinz Balkh, wo unter anderem auch die Deutsche Bundeswehr stationiert war, leistete er gemeinsam mit einem Freund Widerstand bis zur letzten Kugel. Hochrangige Taliban-Kommandanten versuchten, sie zur Aufgabe zu zwingen, doch Safi und sein Kamerad töteten sie mit dem letzten schweren Gerät, das ihnen zur Verfügung stand. Erst später erfuhren sie, dass ihr Widerstand längst zwecklos gewesen war. Präsident Ashraf Ghani hatte das Land mitsamt seinem korrupten Zirkel verlassen.
Es war der 15. August 2021. Dass das korrupte Regime in Kabul fiel, bevor der letzte US-Soldat das Land verlassen hatte, machte dessen Schwäche deutlich. "Das war für uns ein schwarzer Tag. Ich wünschte, ich hätte ihn nicht erlebt", sagt Safi. Alles, wofür er gekämpft habe, sei an diesem Tag verloren gegangen. Der Ex-Soldat macht dafür in erster Linie seine einstige Regierung verantwortlich, die das Land verkauft habe. Wie viele Afghanen bezieht sich auch Safi auf ein Gemenge aus Fakten, Mutmaßungen und Verschwörungstheorien.
Weit verbreitet ist etwa die Annahme, dass die Ghani-Regierung hinter den Kulissen mit den Taliban zusammengearbeitet und diesen praktisch kampflos das Feld überlassen hätte. Wegen des zunehmenden Ethno-Nationalismus wird auch von einem "paschtunischen Plot" gesprochen. Demnach hätte sich der Ex-Präsident, ein Paschtune, mit den mehrheitlich paschtunischen Taliban verschworen, um nichtpaschtunische Akteure zu schwächen. Tatsächlich sprechen die Fakten gegen eine solche Verschwörung. Vielmehr führte eine Reihe von Umständen, die seit Jahren bekannt waren, zum Fall der afghanischen Republik, allen voran die Korruption innerhalb des Militärapparats. So wanderten etwa die Gehälter sogenannter Geistersoldaten, die nur auf dem Papier existierten, in die Taschen korrupter Offizieller, während die echte Armee in einen desolaten Zustand geriet und Soldaten oft das Nötigste fehlte-von Munition bis zur Nahrung.
Auf politischer Ebene trugen am Ende ausgerechnet die Friedensgespräche zur raschen Rückkehr der Taliban bei. Geführt wurden sie zwischen der Trump-Administration und den Taliban-die Regierung in Kabul und andere afghanische Akteure waren ausgeschlossen. Der 2020 im Golfemirat Katar unterzeichnete Abzugsdeal kann nicht nur als Appeasement gegenüber den Taliban gelesen werden, sondern führte auch zu einer überschätzten Selbstwahrnehmung der Extremisten, während die Moral der Gegenseite erheblich geschwächt wurde. Bemerkbar machte sich das auch auf dem Schlachtfeld. "Kurz nach dem Deal wurden 5000 Taliban-Mitglieder aus den Gefängnissen entlassen", erinnert sich Safi. "Natürlich war das ein herber Schlag für uns, vor allem, weil viele dieser Männer direkt auf das Schlachtfeld zurückkehrten und uns bekämpften."
Safi bezweifelt, dass sein Kampf nun endgültig vorbei ist. Obwohl die Taliban das Gewaltmonopol haben, gibt es weiterhin Widerstand. In den Provinzen Baghlan und Panjsher haben sich Anti-Taliban-Milizen der Nationalen Widerstandsfront (NRF) formiert. Sie bestehen hauptsächlich aus Überbleibseln des zerfallenen Militärs und Milizen dominanter Warlords. Einige von Safis Kameraden haben sich den bewaffneten Gruppen bereits angeschlossen. "Wir haben den Kampf gelernt. Auch wir können uns in den Bergen verschanzen und den Taliban Probleme bereiten", sagt er. In den vergangenen 20 Jahren waren es vor allem die Taliban, die sich dem Guerillakrieg verschrieben hatten. Doch mittlerweile hat sich die Konstellation gedreht. Während sich die einstigen Guerillas im Regieren versuchen, greifen ehemalige Soldaten des afghanischen Heeres aus dem Hinterhalt an.
Wie effektiv der Widerstand ist, lässt sich schwer sagen. Die offiziellen Sprecher des Widerstands gegen die Taliban sitzen allesamt im Ausland und fallen in erster Linie durch die Verbreitung von Falschinformationen und Gerüchten auf. Gleichzeitig zensieren die Taliban Nachrichten aus den Regionen. Die Geschichte hat immer wieder verdeutlicht, dass Guerillakämpfe in Afghanistan ohne Unterstützung aus dem Ausland kaum Aussicht auf Erfolg haben. Die islamistischen Mudschaheddin der 1980er-Jahre erhielten ihre Stinger-Raketen für den Kampf gegen sowjetische Militärhubschrauber von den USA. Die Taliban konnten sich zuletzt dank der Unterstützung aus Pakistan reorganisieren und dabei auch auf die Hilfe anderer regionaler Akteure setzen, denen die US-Präsenz ein Dorn im Auge war. Im Gegensatz dazu ist die NRF weitgehend auf sich allein gestellt. Die internationale Staatengemeinschaft scheint sich mit dem Status quo am Hindukusch abgefunden zu haben.
Ich will nicht mehr kämpfen. Die meisten Menschen im Land sind kriegsmüde und wünschen sich einen ehrlichen Frieden, der auch von den Taliban respektiert wird"
"Ich will nicht mehr kämpfen. Die meisten Menschen im Land sind kriegsmüde und wünschen sich einen ehrlichen Frieden, der auch von den Taliban respektiert wird", sagt Safi, während er auf einem Hügel in der Nähe seines Hauses steht und in die Ferne blickt. Er liebt die Natur und würde gerne wandern und alle Berge seiner Heimat besteigen. Doch draußen wartet nur der Kampf auf ihn.
*Der Name ist aus Sicherheitsgründen geändert.
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Der eine schaffte es raus, der andere nicht
Zwei Schicksale nach der Machtergreifung der Taliban in Afghanistan vor einem Jahr: ein ehemaliger Soldat, der sich seither versteckt hält, und ein NGO-Gründer, der ausgeflogen wurde.
Lesen Sie hier die Geschichte von Abdul Ghafoor, der der Taliban an Bord einer deutschen Militärmaschine entkam: