Feilschen nach den Wahlen: Wer mit wem im EU-Parlament?
Von Siobhán Geets
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Die Wahlergebnisse sind noch keinen Tag bekannt, da beginnt es im Europäischen Parlament in Brüssel zu rumoren. Es ist ein altbekanntes Spiel: Die politischen Fraktionen, in denen sich die nationalen Parteien sammeln, werben nach den Europawahlen um neue Mitglieder. Es geht um Geld, Posten und Einfluss.
Mindestens 23 Abgeordnete aus nicht weniger als sieben Mitgliedstaaten braucht es für die Bildung einer Fraktion. Von der Größe der politischen Gruppen hängt ab, wie viele Mitarbeiter, finanzielle Mittel und Redezeit sie erhalten. Je mehr Mandatare eine Fraktion unter ihrem Dach vereint, desto besser stehen die Chancen auf wichtige Posten im EU-Parlament, darunter Ausschussvorsitze, Berichterstatter – und das Amt des Parlamentspräsidenten sowie dessen Stellvertreter.
Doch die Postenschacherei geht über das Europäische Parlament hinaus. Neu besetzt werden auch das Amt der EU-Kommissionspräsidentin und deren Stellvertreter sowie der Posten des Ratspräsidenten und des Außenbeauftragten. Zentral ist dabei, dass die politischen Spitzen in Brüssel die Kräfteverhältnisse widerspiegeln: Austariert werden muss die Machtbalance zwischen Parteienfamilien und Mitgliedstaaten, zwischen Ländern des Nordens und des Südens, dem Osten und Westen, zwischen Männern und Frauen.
Wenn etwa die Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei (EVP), die Deutsche Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission bleibt, kann gemäß einer der vielen ungeschriebenen Regeln kein zweiter Deutscher einen der anderen Top-Jobs übernehmen.
Postenpoker
Berücksichtigt werden müssen vor allem die Parteifarben. „Das große Personalpaket wird zwischen der Europäischen Volkspartei, den Sozialdemokraten und Liberalen verhandelt“, sagt Paul Schmidt von der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik.
Weil mit Parlamentspräsidentin Roberta Metsola eine maltesische Konservative eine zweite Amtszeit anstrebt, sind die übrigen Spitzenposten für andere Fraktionen reserviert.
Als mögliche Ratspräsidenten gehandelt werden António Costa und Mario Draghi. Der Sozialdemokrat Costa war bis vor Kurzem Premier Portugals; der parteilose italienische Technokrat Draghi stand während der Eurokrise an der Spitze der Europäischen Zentralbank. Draghi hat gute Kontakte zu Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron, auch unter Sozialdemokraten genießt er Ansehen.
Das Amt des Außenbeauftragten der EU könnte diesmal an einen Liberalen gehen. Und Polen, so heißt es in Brüssel, darf wohl als Dank für die Unterstützung von der Leyens den Verteidigungskommissar bestellen.
Je mehr, desto besser
In den Verhandlungen um die Spitzenposten dienen die Fraktionen im Europäischen Parlament als eine Art Hebel. Die christdemokratische EVP, die sozialdemokratische S&D, Grüne, Liberale, Linke und die beiden Rechtsaußen-Fraktionen EKR und ID – sie alle buhlen um neue Mitglieder oder wollen sich gar mit anderen Fraktionen zusammenschließen.
Das Interesse Webers wecken vor allem Eintagsfliegen ohne klares politisches Programm aus volatilen politischen Landschaften.
EVP-Chef Manfred Weber arbeite seit Jahren an der Rekrutierung neuer Mitglieder, heißt es aus EVP-Kreisen: „Das Interesse Webers wecken vor allem Eintagsfliegen ohne klares politisches Programm aus volatilen politischen Landschaften.“
Die Hürden für die Aufnahme sind denkbar niedrig. Für Europa, für den Rechtsstaat und für die Ukraine müssen neue Mitglieder sein. Es ist der kleinste gemeinsame Nenner, den Manfred Weber nicht müde wird zu wiederholen.
Zur EVP dazustoßen könnten die liberal-konservative „Demokratische Bürgerpartei“ (ODS) aus Tschechien und die libertäre „Liberal Alliance“ aus Dänemark. Als wahrscheinlich gilt ein Beitritt der Partei „Respekt und Freiheit“ des ungarischen Oppositionspolitikers Péter Magyar und der populistischen „Bauer-Bürger-Bewegung“ aus den Niederlanden.
Auch die Abgeordneten der erst 2023 gegründeten niederländischen „New Social Contract“ (NSC) werden sich wohl der EVP anschließen. Deren zentrale Botschaft: Kein niederländisches Geld für die Länder Südeuropas. An Kontakten zur EVP mangelt es nicht: NSC-Spitzenkandidat Dirk Gotink war bis vor Kurzem ein enger Mitarbeiter von EVP-Chef Manfred Weber.
In Summe könnten die Konservativen mit den neuen Mitgliedern ihre Macht im Europäischen Parlament weiter ausbauen – und künftig häufiger Mehrheiten rechts der Mitte anstreben.
Alles, was rechts ist
Europas Rechtsparteien sind im EU-Parlament auf zwei Fraktionen aufgeteilt. In der EKR versammeln sich Nationalkonservative und Rechtspopulisten, zu den Mitgliedern gehören neben den postfaschistischen Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni Abgeordnete der klerikal-konservativen PiS aus Polen und der rechtspopulistischen Vox aus Spanien.
Ganz rechtsaußen steht die Fraktion „Identität und Demokratie“ (ID), der auch die FPÖ angehört. Das Sagen hat der französische Rassemblement National von Marine Le Pen, bis vor Kurzem war auch die AfD Teil der Familie. Weil deren Spitzenkandidat Maximilian Krah in einem Interview die SS verharmloste, warf Le Pen die AfD kurzerhand aus der Fraktion.
Seither sind deren Abgeordnete fraktionslos – und haben damit deutlich an Einfluss verloren.
Laut dem Online-Medium „politico“ arbeitet Krah bereits an einer neuen Allianz, noch weiter rechts als die ID.
Die Versuche, alle Parteien rechts der Mitte in einer einzigen „Superfraktion“ zu vereinen, sind bisher misslungen. Angetrieben wurden sie zuletzt vom Wegfall der britischen Tories aus dem EKR und dem Austritt der ungarischen Fidesz aus der EVP. Vor Kurzem hat Marine Le Pen Giorgia Meloni vorgeschlagen, eine gemeinsame Fraktion zu bilden – und künftig die zweitstärkste Gruppe im EU-Parlament zu stellen. In diesem Fall könnten Europas Rechte nicht wie bisher von wichtigen Ämtern und Funktionen ausgeschlossen werden.
Die Rechten sind zerstrittener denn je, vermeintlich nationale Interessen und nationale Wahlen gehen immer vor.
Doch die Differenzen zwischen den Parteienfamilien wiegen schwer. Während die EKR auf europäischer Ebene im Sinne einer Veränderung der EU von innen zumindest mitarbeitet, betreibt die ID-Fraktion Fundamentalopposition und lehnt kategorisch alles ab, was aus Brüssel kommt. Inhaltlich trennen die beiden Parteienfamilien Welten. Es spießt sich an den Positionen zur NATO und zu Russland – und am Ausmaß der Radikalisierung.
Hinzu kommt, dass Nationalisten rasch in Konkurrenz mit Gleichgesinnten aus anderen Ländern geraten. „Eine nationalistische Internationale ist kaum möglich“, sagt EU-Experte Schmidt. „Die Rechten sind zerstrittener denn je, vermeintlich nationale Interessen und nationale Wahlen gehen immer vor.“
Wahrscheinlicher als ein Zusammenschluss aller Rechten unter einem Dach sind Verschiebungen zwischen den beiden Parteienfamilien.
Denkbar ist etwa eine „konstruktive“ EKR unter der Führung Melonis; die ID würde in diesem Szenario weiter an den Rand gedrängt. Ihr anschließen könnten sich etwa Ungarns Fidesz sowie Parteien, die bisher dem radikaleren Flügel in der EKR angehörten.
profil hat Abgeordnete der ID sowie der EKR um Gespräche gebeten, ohne Erfolg.
Flexible Mehrheiten
Die proeuropäische Mehrheit im EU-Parlament bleibt erhalten, sagt Experte Schmidt: „Um mehrheitsfähig zu sein, müssen EVP und S&D zusammenarbeiten. Darüber hinaus wird es thematische Ad-hoc-Koalitionen geben.“
Im Zusammenspiel mit Rechten kann die EVP etwa Vorhaben in der Sozial- und Klimapolitik blockieren, bei der Migration wird die Unterstützung radikaler Vorschläge wahrscheinlicher. Gegenüber Italiens Regierungschefin zeigt sich EVP-Chef Weber schon lange offen. Mit Meloni würde Weber gern neue Mehrheiten rechts der Mitte schaffen, heißt es aus der EVP.
Das ist ihm bisher schon ganz gut gelungen. Europas Konservative fanden in der ablaufenden Legislaturperiode verlässliche Partner rechts der Mitte. Zuletzt machte die EVP vor allem in der Verwässerung des „Green Deal“ gemeinsame Sache mit rechten Kräften: Bei 340 Abstimmungen zum Green Deal hat die EVP eine Mehrheit mit EKR und ID gefunden, wie eine Analyse der Grünen-Fraktion zeigt.
Setzt sich der Kurs fort, dann könnten die Gegner Europas in den kommenden fünf Jahren mächtiger werden als je zuvor. In sieben von 27 Mitgliedstaaten, darunter Italien, Schweden und Ungarn, sitzen Rechte und Rechtspopulisten bereits in der Regierung oder unterstützen diese. Bald kommen die Niederlande dazu, und in Österreich führt die FPÖ in Umfragen zur Nationalratswahl.
Die Positionen der extremen Rechten rücken weiter in die Mitte.
Siobhán Geets
ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.