Kann dieser Mann Europa retten?
Ferdinand von Schirach hat einen Traum.
Der deutsche Strafverteidiger, Autor und Dramatiker fordert neue Grundrechte für die Menschen in der Europäischen Union. In seinem Buch "Jeder Mensch",das am 13. April erscheint, schlägt der 56-Jährige eine Erweiterung der europäischen Grundrechte um sechs Artikel vor. Sie liefern Antworten auf die größten Herausforderungen unserer Gegenwart.
Es geht um Umweltschutz und Globalisierung, um digitale Selbstbestimmung und künstliche Intelligenz, um Wahrheit und, schlussendlich, um das Recht eines jeden Menschen, Verletzungen dieser Rechte einzuklagen.
Das klingt utopisch. Doch genau das macht Ferdinand von Schirachs Vorschlag so faszinierend.
Auch die "selbstverständlichen Wahrheiten" in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten seien im Widerspruch zur damaligen Realität gestanden, in der die Menschen lebten, schreibt von Schirach. "Alle Menschen sind gleich geschaffen", heißt es in der Erklärung von 1776. Unterzeichnet wurde sie von Männern, die Sklaven hielten.
Doch die Utopie setzte sich am Ende durch. So könnte es auch diesmal sein.
Vielleicht hat Schirach genau den richtigen Hintergrund für so einen Kraftakt. Einer seiner Vorfahren war ein Gründervater der Vereinigten Staaten, sein Großvater einer der schlimmsten Kriegsverbrecher des Nationalsozialismus. Als Reichsstatthalter von Wien war Baldur von Schirach für die Deportation der österreichischen Juden verantwortlich.
Es scheint, als fühle sich Ferdinand von Schirach gewissermaßen verpflichtet, eine bessere Zukunft zu gestalten. So muss auch seine Idee für neue Grundrechte gesehen werden: Die sechs Artikel sollen dazu beitragen, dass sich Bürgerinnen und Bürger der EU wieder für die Mitgestaltung der Politik interessieren. So wissen etwa nur zwölf Prozent der Menschen, was die im Dezember 2000 verabschiedete EU-Grundrechtecharta überhaupt ist. Schirach ruft dazu auf, die Petition auf jedermensch.eu zu unterschreiben.
An prominenten Unterstützern für das Projekt mangelt es nicht. Neben zahlreichen Juristen haben sich ihm etwa der Satiriker Jan Böhmermann und die Vizepräsidentin des Europaparlaments Katarina Barley angeschlossen. Auch die ehemalige österreichische Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein unterstützt das Vorhaben.
Vielleicht ist das genau der Schwung, den es in Zeiten der allgemeinen Politikverdrossenheit so dringend braucht. Doch was bedeuten die sechs Artikel - und wie könnten sie umgesetzt werden?
ARTIKEL 1: Umwelt
"Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben."
Braucht es ein Grundrecht auf Umweltschutz? Diese Debatte wird seit Jahrzehnten geführt. "Der Klimawandel ist die größte Herausforderung unserer Zeit, wenn die Pandemie bewältigt ist", sagt der Verfassungsjurist Ulrich Karpenstein, der die Initiative unterstützt: "Aber derzeit können wir die Rechte zukünftiger Generationen nicht einklagen." Man kann sich lediglich auf körperliche Unversehrtheit und, unter Umständen, auf das Recht auf Leben berufen - etwa wenn man von Hochwasser oder sinkenden Grundwasserpegeln betroffen ist. Die Langzeitfolgen schlechter Luftqualität sind hingegen nicht klagbar. Dabei, so Schirach, müsse man schon heute die Möglichkeit haben, für zukünftige Generationen einzuschreiten.
ARTIKEL 2: Digitale Selbstbestimmung
"Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten."
Politiker geben das Gros ihres Werbebudgets längst nicht mehr für Plakatwände aus. Stattdessen investieren sie vor Wahlen in personalisierte Werbung-und nutzen dafür eine Flut von Daten, darunter jene von Facebook-Profilen.
Es gibt zwar in der EU bereits ein Recht, dass Menschen selbst entscheiden können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß.
Artikel 2 geht über reinen Datenschutz hinaus: Die Nutzung persönlicher Daten für politische Werbung, etwa von Facebook-Profilen, soll verboten werden, um Manipulation zu verhindern.
Aber was genau ist Manipulation? Eine allgemeine Formulierung lässt sich bei Grundrechten wohl nicht verhindern. Darüber wird man noch debattieren und womöglich auch streiten müssen.
ARTIKEL 3: Künstliche Intelligenz
"Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen."
Das Wirken von künstlichen Intelligenzen hatten die Mütter und Väter der Europäischen Menschenrechtskonvention und der EU-Charta naturgemäß noch nicht auf dem Schirm. Heute bestimmen diese aber mehr und mehr unser Leben. In Estland sollen bei bestimmten Rechtsstreitigkeiten nicht mehr Richter, sondern künstliche Intelligenzen Urteile fällen. Und in Dänemark helfen Algorithmen den Ärzten dabei, Diagnosen zu stellen.
Im Sinne der Transparenz fordert von Schirach, dass die Quellcodes von Algorithmen veröffentlicht werden müssen, damit diese überprüft werden können. Sie sollen zudem fair sein, denn Strukturen von Diskriminierung in der realen Welt setzen sich in den Algorithmen fort.
All das ist nicht neu: Über die Frage, was Maschinen dürfen, wird in der EU schon lange diskutiert. So beinhaltet die EU-Grundrechteverordnung auch das Recht, keinen Entscheidungen unterworfen zu sein, die nur von Algorithmen getroffen werden. 2020 hat die EU-Kommission einen Rechtsrahmen angekündigt, um die Grundrechte der Bürger in Zukunft zu wahren. Bisher ist dies aber noch nicht verbindlich-es handelt sich lediglich um einen Vorschlag.
ARTIKEL 4: Wahrheit
"Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen."
Man stelle sich vor, Politiker würden nicht lügen. Es wäre eine andere Welt. Eine Welt, in der ein abgewählter US-Präsident nicht ungestraft gegen jede Realität behaupten könnte, die Wahlen in Wirklichkeit gewonnen zu haben. Nach Artikel 4 könnte jeder Mensch gegen systematisch verbreitete Unwahrheiten klagen. Die Gefahr des Missbrauchs sehen die Juristen, die das Projekt unterstützen, nicht: Die Gerichte in der EU hätten die nötige Erfahrung und das Regelwerk, Lügen und Desinformationskampagnen von schlichter Unkenntnis zu unterscheiden. Allerdings müsste dafür erst ein entsprechender Straftatbestand eingeführt werden. Zudem bräuchte es wohl eine Aufhebung der Immunität von Amtsträgern. Das sehen viele Juristen kritisch: Die Immunität schützt in erster Linie die Opposition in den Parlamenten vor politisch motivierter Strafverfolgung-und damit das öffentliche Interesse an einem pluralistischen und offenen Diskurs.
ARTIKEL 5: Globalisierung
"Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden."
Kurz gesagt stellt dieser Artikel die Menschenrechte vor die unternehmerische Freiheit. Nur: Können sich etwa Textilarbeiterinnen in Bangladesch überhaupt auf europäische Grundrechte berufen? Und wenn ja: Haben sie die nötigen Ressourcen, diese Rechte einzuklagen?
Die Antwort lautet: wohl kaum. Deshalb schlägt Schirach vor, das Grundrecht jenen zu geben, die Zugang zu den Gerichten der EU haben: den Menschen in Europa. Sie könnten Verstöße etwa gegen die Kernarbeitsnormen der International Labour Organization klagen-und Kinderarbeit und moderne Sklaverei so juristisch bekämpfen. Dienstleistungen sind hier miteinbezogen: Immerhin unterliegen auch sie ähnlichen Risiken, etwa in asiatischen Callcentern.
Um niedrige Löhne geht es dabei nicht, sagt Jurist Karpenstein, sondern vielmehr darum, Mindeststandards zu erfüllen: geregelte Arbeitszeiten, Gewerkschaften und Betriebsräte.
Neu ist auch diese Idee nicht. In etlichen Ländern gibt es bereits sogenannte Lieferkettengesetze: Unternehmen, die menschenrechtswidrig produzieren, können geklagt werden. Neu ist der Fokus auf die Konsumenten. Artikel 5 würde den Verkauf solcher Waren in der EU verbieten. Die Umsetzung dürfte allerdings schwierig werden, denn es läge an den europäischen Staaten, weltweit Produktionsbedingungen zu überprüfen.
ARTIKEL 6: Grundrechtsklage
"Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben."
Grundrechte werden erst dann relevant, wenn sie effektiv einklagbar sind. Aber wie soll das alles nun in Recht gegossen werden? Dafür braucht es entweder eine Anpassung der bestehenden Verträge, also der EU-Grundrechtecharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Oder es wird ein neuer Vertrag beschlossen-den die nationalen Parlamente dann billigen und alle EU-Staaten ratifizieren müssten. Klingt schwierig? Ist Ferdinand von Schirach ein Träumer? Verfassungsjurist Karpenstein stellt das gar nicht in Abrede, aber: "Mit einem guten Traum kann man sehr viel bewegen." Ferdinand von Schirach mag ein Träumer sein. Ein Spinner ist er nicht.
Jeder Mensch von Ferdinand von Schirach erscheint am 13. April im Luchterhand Verlag. 32 Seiten, 5,20 Euro