Flucht: Wie ein behinderter Afghane nach Europa getragen wurde
Auf den ersten Blick scheint die aufgelassene Fabrik leerzustehen. Unter dem Dach der riesigen Halle flattern Vögel, durch zerbrochene Fensterscheiben heult der Wind.
Aber da ist doch jemand: Im Dachgeschoß steigt Rauch aus einem kleinen Feuer. Auf einer zerschlissenen Schaumgummimatratze an der Wand kauert Riaz Abdullah*. Er ist völlig allein. Er weint.
Gestern kam die Polizei in die alte Ziegelbrennerei am Rand der Stadt Subotica im Norden Serbiens, in der Dutzende Flüchtlinge Unterschlupf gefunden hatten. Alle mussten im Hof Aufstellung nehmen und wurden abgeführt.
"Sie haben mich hier zurückgelassen"
Bis auf Riaz. Als die Beamten bemerkten, dass er nicht aufstehen konnte, ignorierten sie ihn einfach. "Sie haben mich hier zurückgelassen: Wie konnten sie das nur tun?“, fragt der junge Mann bitter. Seine Beine sind von Geburt an verkrüppelt, er hat nie gehen gelernt. Stehen konnte er zwar, auf einem Bein, die Hand an der Wand abgestützt, aber sobald er einen Schritt machen wollte, fiel er hin. Seine Mutter brachte ihn zum Arzt, doch keine Behandlung half. Jetzt ist er im Dachgeschoß der Fabrik gefangen. Er kann das Gebäude nicht verlassen. Er kann nicht einmal auf die Toilette gehen.
Geboren wurde Riaz in der westafghanischen Stadt Herat. Ale er zehn Jahre war, flüchtete seine Familie in den Iran und fand in der Stadt Karaj nahe Teheran eine Bleibe. Es war ein ärmliches Leben. Ein großer Teil des Einkommens ging für Steuern drauf, finanzielle Beihilfen für die Behinderung von Riaz gab es nicht. Aber er lernte so geschickt mit seinem Rollstuhl umzugehen, dass er sogar ein kleiner Basketball-Star wurde.
"Ich möchte in Europa Basketball spielen“, sagt er: "Ich möchte in Deutschland leben, einen Job haben und für mich selbst sorgen. Und ich möchte einen Arzt finden, der meine Beine operiert. Ich möchte aufstehen können.“
Als er vor zwei Jahren sagte, dass er nach Europa will, schüttelten seine Freunde nur den Kopf: Das sei schon für gesunde, fitte Leute schwierig genug. Wie er das schaffen wolle?
Riaz hörte sich ihre Einwände an, aber er hatte seinen Entschluss bereits gefasst. Er war 22. Sein Vater kam in die Jahre und konnte ihn nicht mehr so unterstützen, wie er es bislang immer getan hatte. Und der Wunsch, aufzustehen und für sich selbst zu sorgen, wurde immer stärker. In Europa könnte er in Erfüllung gehen, da war sich Riaz sicher.
Der Vater borgte von seinem Chef Geld für seinen Sohn aus. Und Riaz machte sich auf den Weg.
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Subotica liegt direkt an der ungarischen Grenze. Rund um die alte Ziegelei verstecken sich Flüchtlinge: im hohen Gras, unter Bäumen, am Fuße des Bahndamms - überall, wo die Polizei sie nicht sehen kann. Zitternd vor Kälte warten sie darauf, über die Grenze in die EU geschleust zu werden. Ihre Handys sind gleichzeitig ihre Lebensader; damit können sie ihre Schlepper und ihre Familien erreichen, um zu erfahren, wann wieder Geld unterwegs ist, das sie auf ihrem Weg ein Stück weiterbringt.
28.000 Asylanträge alleine im Jänner
Die Zahl der illegalen Grenzübertritte von Serbien in den Schengen-Raum steigt nach Angaben des UN-Flüchtlingshochkommissariats (Unhcr) an. Allein im vergangenen Jänner und Februar registrierten die ungarischen Behörden mehr als 28.000 Asylanträge. Im gesamten Jahr 2014 waren es 43.000 Fälle.
Ein Teil des Ansturms war auf die Massenauswanderung von Kosovo-Albanern in die EU zurückzuführen. Aber auch wenn diese Welle inzwischen wieder etwas abgeflaut ist, wird die Zahl der Flüchtlinge heuer deutlich über dem Vorjahr liegen.
"Ärzte ohne Grenzen“ sind eine der wenigen Organisationen, die gezielt nach Flüchtlingen suchen und ihnen Unterstützung anbieten. Sie entdecken Riaz in der Fabrik. Stuart Alexander Zimble, Projektkoordinator der NGO auf dem Balkan, nimmt Kontakt mit Sozialfürsorge-Organisationen auf: "Hier ist ein körperbehinderter Mann, er braucht Hilfe. Was können Sie für ihn tun?“
Flüchtlinge versammeln sich um die mobile Klinik von "Ärzte ohne Grenzen“, die im Hof der Fabrik parkt. Viele von ihnen sind bereits tage- oder gar wochenlang zu Fuß unterwegs, manche durch Bulgarien, andere durch Griechenland und Mazedonien. Ihre Füße sind wund, die Beine schmerzen, einige haben Erfrierungen. Der 22-jährige Rassoul aus Pakistan zieht sich frierend seine rote Haube über die Ohren, während er vor der Ziegelei auf und ab geht.
Er wartet auf Nachricht von den Schleppern, die ihn über die Grenze nach Europa bringen sollen. Sechs Tage lang hat er sich auf dem Areal der Fabrik verborgen, jetzt wirkt er teilnahmslos und voller Zweifel: "Weißt du, wenn wir irgendwo auf dem Weg nach Europa verrecken, sind wir kein Problem für euch in der EU. Das werden wir nur, wenn wir überleben“, sagt er.
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Wie flüchtet man, wenn man nicht gehen kann? Nachdem Riaz seine Familie verlassen hatte, reihte er sich in den endlosen Treck ein, der aus Zentralasien Richtung Westen unterwegs ist. Die Strecke führt über den Asian Highway 1, der quer durch den Iran in die Türkei verläuft: Teheran, Tabriz, Grenzübergang Bazargan, dann weiter über Erzurum nach Ankara. Überfüllte Busse, vollgestopfte Züge, kleine Autos mit zu vielen Insassen. Selbst ohne Behinderung ist die Reise mühselig - für jemanden wie Riaz umso mehr. Man braucht Helfer, die einen zu Haltestellen schleppen, Stufen hinaufhieven und in Sitzreihen wuchten; die auf das bisschen Gepäck aufpassen und am Ankunftsort für den Transport zum Nachtquartier sorgen.
Wenn ich Geld hatte, habe ich manchmal gezahlt, um getragen zu werden. Aber die meisten haben es aus Mitleid getan.
Riaz fand diese Helfer, vor allem unter seinen Landsleuten. In der Türkei blieb er zunächst in der Stadt Manisa nahe Izmir hängen, wo er mit einigen anderen Afghanen eine Unterkunft mietete. Als das Geld knapp wurde, weil er keinen Job fand, machte er sich auf den Weg über Griechenland Richtung Norden. Damit begann der schwierigste Teil seiner Flucht - jener, bei dem es kein Verkehrsmittel mehr gab, sondern nur mehr Fußwege.
Andere Flüchtlinge trugen ihn auf dem Rücken weiter. Illegal über die Grenze nach Mazedonien und quer durch das Land, illegal über die Grenze nach Serbien und wieder quer durch das Land bis nach Subotica. Insgesamt an die 800 Kilometer.
"Wenn ich Geld hatte, habe ich manchmal gezahlt, um getragen zu werden“, sagt Riaz: "Aber viele haben es einfach getan, weil sie Mitleid mit mir hatten.“
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"Ärzte ohne Grenzen“-Koordinator Zimble hat inzwischen Informationen von den serbischen Behörden bekommen. "Wenn Sie wollen, können Sie Hilfe im Flüchtlingslager Krjnaca bei Belgrad bekommen: Essen, ein Bett, eine Dusche und ein paar Tage Rast. Was meinen Sie?"
"Ja, ich möchte nach Krjnaca"
Nach Belgrad: Das heißt 200 Kilometer in die falsche Richtung, nach Süden statt nach Norden. Aber gleichzeitig ist Riaz in der Fabrik in einer unerträglichen Situation. Er denkt nach und nickt: "Ja, ich möchte nach Krjnaca.“
Am nächsten Tag ist das Dachgeschoß der Ziegelbrennerei voll mit Leuten. Wo Riaz allein saß, sind nun ungefähr 20 Menschen, darunter ein Vater und sein siebenjähriger Sohn - auch sie Afghanen auf dem Weg nach Deutschland, wo die Mutter und die kleine Schwester warten. Der Bub entzündet ein Feuer aus Papierfetzen, geschmolzenem Plastik und Holzstücken und facht es mithilfe eines abgewetzten Verbotsschilds an.
Währenddessen zeigt sein Vater Fotos, die er mit seinem Handy gemacht hat. Und plötzlich - eine Aufnahme von Riaz. Es stellt sich heraus, dass sich die drei ein paar Monate zuvor in Griechenland getroffen haben. Sie wollten ihre Reise gemeinsam mit einigen anderen Afghanen fortsetzen. Und sie hatten denselben Traum: Deutschland.
Sie schafften es, die berüchtigten griechischen Anhaltelager für Flüchtlinge zu umgehen und sich von Athen nach Mazedonien durchzuschlagen, verloren einander aber aus den Augen, als Riaz von der Polizei festgenommen und in die Hauptstadt Skopje gebracht wurde. Dort war er zwar nach kürzester Zeit wieder auf freiem Fuß, konnte die anderen aber nicht mehr finden und schloss sich einer anderen Gruppe von Flüchtlingen an, die ihn wieder huckepack nahmen und durch Serbien bis in die Ziegelfabrik von Subotica schleppten.
Als die Afghanen, die Riaz in Mazedonien verloren haben, von Riaz hören, ist die Aufregung groß: "Wirklich? Er war gestern hier? Wo ist er jetzt?“ Sie werden wütend, als sie erfahren, dass ihr Weggefährte nach Belgrad gebracht wurde: "Er will doch nach Deutschland! Belgrad ist die falsche Richtung. Wir werden ihm helfen. Schafft er es, hierher zu kommen, damit wir ihn weitertragen können?“
Plastikplane als Lager
Einige der Männer verlassen den Dachboden und schlendern zu ihrem Lager unterhalb des Bahndamms. Eine riesige Mistgrube, in der Aluminiumfolien und bunter Kunststoffmüll schimmern, weist den Weg. Das Lager besteht aus einer zwischen Bäumen aufgespannten Plastikplane, einem Lagerfeuer und ein paar Decken.
Es ist die notdürftige Heimstatt für ein Warten auf das Ungewisse.
Rassoul, der Pakistani mit der roten Mütze, ist immer noch hier. Für ihn ist ein weiterer Tag vergangen, ohne dass sich sein Schlepper gemeldet hätte. Er wirkt jetzt noch entmutigter. Er denkt an sein Haus in Pakistan, nahe der afghanischen Grenze. Es liegt in der gleichen Gegend, in der Malala Yousafzai in den Kopf geschossen wurde, weil sie sich dafür eingesetzt hatte, dass Mädchen zur Schule gehen dürfen. Hier haben die Taliban die Macht und nicht der Staat.
"Wo ich herkomme, ist es niemals ruhig. Auf Märkten explodieren Bomben, auf Schulen werden Terroranschläge verübt. 80 Tote an einem Tag, 30 am nächsten. Man kann dort nicht leben, man kann dort nur sterben.“ Er liegt auf einer Decke und blickt in die Flammen des Lagerfeuers.
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200 Kilometer südlich von Subotica ist Riaz im Flüchtlingslager von Krjnaca angekommen. Wütende Asylwerber stehen am Eingang. Die vorangegangene Nacht mussten sie im Freien verbringen, nachdem es Auseinandersetzungen um zu laute Musik gegeben hatte.
Hallo. Hier ist Riaz. Ich komme in zwei Wochen nach Schweden. Wünscht mir Glück.
Ein Aufseher weiß sofort, wer Riaz ist: "Aber er ist nicht mehr hier. Vor ein paar Tagen ist er verschwunden.“
Mostafa Mosaffari, der ebenfalls aus Afghanistan kommt und im gleichen Zimmer wie Riaz untergebracht hat, weiß ein wenig mehr: "Er ist wirklich ein besonderer Mensch: Den ganzen Weg hierher zu bewältigen, ohne gehen zu können! Er ist jemand, um den man sich kümmert.“
Und das tat Mosaffari. Er half Riaz, sich zu duschen und die Toilette zu benutzen; er sorgte dafür, dass er zu essen bekam.
Doch nach nur einem Tag bekam Riaz einen Anruf von Freunden, die er in Griechenland getroffen hatte. Sie holten ihn ab und halfen ihm Richtung Norden weiter. "Seit er weg ist, habe ich nur ein Mal von ihm gehört“, sagt Mosaffari: "Da war er noch immer in Serbien. Ich hoffe aber, er hat es über die Grenze nach Ungarn geschafft.“
Er nimmt sein Handy und versucht, Riaz anzurufen. Keine Verbindung. Mosaffari zuckt mit den Schultern: "Weiß Gott, wo er jetzt ist.“ Aber so unklar ist das gar nicht, wie sich bald herausstellt. Auch Flüchtlinge sind heutzutage online. Eine schnelle Suche auf Facebook, ein Treffer: Riaz ist eingeloggt.
Es ist ihm tatsächlich gelungen, nach Ungarn zu kommen. Er sei in Budapest, schreibt er, und die Ortsangabe auf Facebook verrät auch den Bezirk - Var, das Burgviertel der Stadt. Und er schreibt, dass er weiter unterwegs ist, aber mit neuem Ziel: "Hallo. Hier ist Riaz. Ich komme in zwei Wochen nach Schweden. Wünscht mir Glück.“
Übersetzung: Martin Staudinger