Ausweg Mittelmeer

Rund 50.000 Geflüchtete harren derzeit in Griechenland aus.

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Um die Mittagszeit, wenn die Sonne genau senkrecht steht, sind die Birken und Palmen an der Strandpromenade die einzigen Schattenspender, hier in Patras, an der griechischen Westküste. Auch an diesem Freitag Anfang August sitzt Rachid im Schatten unter einer Palme, wie jeden Tag um die Mittagszeit und raucht eine selbstgedrehte Zigarette. Schwarze kurze Haare, leichter Bartwuchs, er ist 25 Jahre alt.

Etwas weiter die Strandpromenade hinunter liegt Grund dafür, dass er hier ist: der Hafen der griechischen Stadt Patras. Seit drei Monaten ist der junge Algerier schon in Griechenland – genau so lange will er weg. Er hat es über die Türkei bis nach Griechenland geschafft. Seit seiner Ankunft hat Rachid fünfmal versucht, in einem LKW versteckt an Bord einer Fähre zu gelangen. Bari, Ancona, Triest, Venedig – die Destination ist ihm egal, Hauptsache Italien.

Seitdem der neue, stadtauswärts gelegene Hafen im Juli 2011 in Betrieb genommen wurde, bekommen die Stadtbewohner nicht mehr viel davon mit von Rachid und den über 500 weiteren Männern, die Anfang August in Patras ausharrten. Mit dem Hafen sind auch die Flüchtlinge aus dem Stadtzentrum ausgezogen.

Die zahlreichen leerstehenden Fabrikgebäude, für deren Erhalt oder Abriss in Griechenland niemand Geld hat, dienen den Männern als Unterkunft. In den wenigsten gibt es Strom, noch seltener WCs oder Duschen. In den baufälligen Hallen sind die Männer auf sich gestellt. Sie fallen nur auf, wenn es gewalttätige Ausschreitungen gibt. NGOs gibt es hier keine, die griechischen Anrainer versuchen, die Gegend in der Dunkelheit zu meiden. Eines der aufgelassenen Lagerhäuser am Rande des alten Hafens, in denen Rachid und seine Freunde suchen, wird noch am selben Tag einstürzen. Einer seiner Bekannten wird sterben. Die wenigsten griechischen Medien werden darüber berichten.

Die eleganten Fähren, die im Hafen von Patras auf die braungebrannten Touristen warten, strahlen in der Nachmittagssonne. Superfast Ferries, Minoan Lines, Anek Lines - eine einfache Fahrt von Patras nach Venedig ist schon ab 70 Euro erhältlich. Noch bevor die Fahrzeuge auf die Fähren verladen werden, versuchen sich die Männer in die engen Zwischenräume unter den LKW-Aufliegern zu zwängen. Stundenlanges Ausharren, Hitze, Kälte, Erschöpfung, Verletzungen, kein Proviant. Manche schaffen es durch die Fahrzeugkontrollen, die immer öfters auch mit Röntgendetektoren erfolgen. Was Rachid vor hat haben schon viele probiert und nicht geschafft, hier in Patras, 200 km von der Hauptstadt Athen entfernt. Wer in Italien aufgegriffen wird, wird nach Griechenland zurückgeschickt.

Seine langen Beine angewinkelt, lehnt Rachid am Baumstamm und mustert die Badesandalen, auf denen sich die griechischen Nationalfarben in Streifen abwechseln. Blau, weiß, blau, weiß, blau. Dass die Sandalen zwei Nummern zu klein sind ist Rachid peinlich, sagt er. Aber die 37 Grad, die das Thermometer an diesem Freitag im August anzeigt, lassen sich in Sandalen einfach besser aushalten als in seinen schwarzen Nike-Sneakers. Festes Schuhwerk wird er erst dann brauchen, wenn er sich wieder einmal auf den hohen Stahlzaun, der das Hafenareal begrenzt, schwingt, darüber klettert und zu einem der geparkten LKWs sprintet.

"Lieber sterbe ich im Mittelmeer"

Seit Jahren geht das schon so, erklärt Dimitrios Kyriakoulopoulos, Chef der Küstenwache in der 200.000-Einwohner-Stadt. Doch in den vergangenen Monaten ist die Zahl der Asylsuchenden, die über die Ionische See nach Italien zu gelangen versuchen, stark gestiegen, bestätigt Kyriakoulopoulos. „Das liegt einerseits daran, dass Patras die wichtigste Verbindung zu Italien darstellt.“ Im April entdeckten seine Mitarbeiter 135 Menschen, die sich in Lastwägen gezwängt hatten. Im Juli waren es 327, also mehr als doppelt so viele: alles Männer, darunter viele unbegleitete Minderjährige, die meisten aus Afghanistan, Pakistan und dem Irak. Seitdem die Balkanroute Anfang 2016 geschlossen wurde harren 50.000 Menschen in ganz Griechenland aus. Für sie geht es derzeit weder vor noch zurück.

Die Chance es an Bord zu schaffen ist gering. Doch von seinem Vorhaben über Italien bis nach Frankreich zu kommen, lässt sich Rachid nicht abhalten. Ein Leben in Algerien, ein Land, das zwar auf dem Papier eine Demokratie ist, in dem menschenrechtliche Probleme aber nach wie vor andauern, kommt für Rachid nicht mehr in Frage. „Lieber sterbe ich im Mittelmeer, als dass ich nach Algerien zurückgehe.“ Laut Amnesty International kommt es in Algerien auch weiterhin zu Kämpfen zwischen bewaffneten Gruppen und den Sicherheitskräften, Kritik an hohen Amtsträgern ist unter Strafe gestellt, Frauen sind im Familienrecht gegenüber Männern rechtlich benachteiligt. Ein neues, besseres Leben – davon träumt Rachid.

Mitte August sitzt Rachid noch immer in Patras fest. „Ich habe den perfekten Truck gefunden“, schreibt er. Er wird sich alleine auf die Reise machen. Mitnehmen wird er eine Flasche Wasser und sein Handy, für mehr ist in den Verstecken kein Platz. Wann der Truck verladen wird, wo er ankommt und was ihn in Italien erwartet, weiß Rachid nicht. Nur dass er seit mittlerweile vier Monaten in Griechenland festsitzt, das weiß er. Denn genau so lange will er schon weg.