Flüchtlingslager in Libyen: „Heute hilft ihnen niemand mehr“

Die zentrale Mittelmeerroute gilt als weitgehend geschlossen. Nur noch wenige Migranten und Flüchtlinge wagen die Überfahrt. Dafür ist Libyen für Tausende Menschen zu einer tödlichen Falle geworden.

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Vor kurzem haben die langjährigen profil-Mitarbeiter Anna Roxvall und Johan Persson das Flüchtlingslager in der libyschen Stadt Tajoura besucht, diese Woche wurde das Camp bombardiert, mehr als 40 Menschen kamen ums Leben, mindestens 130 wurden verletzt.

„Wir wollen raus aus dieser Hölle“, sagt Mounir. Er hat Tage voller Angst und Schrecken hinter sich, wie andere Menschen sie in einem ganzen Leben nicht durchstehen müssen. Mounir wurde in Eritrea geboren, einer ostafrikanischen Diktatur, in der sich der Staat lange das Recht herausnahm, die Männer nach Lust und Laune zu einem lebenslangen Militärdienst heranzuziehen und sie dort wie Sklaven zu behandeln. Aber seine wahre Hölle ist Libyen. Mounir kam, um von hier aus zu versuchen, mit einem Schiff über das Mittelmeer auf eine der nahegelegenen italienischen Inseln überzusetzen. Dieses Unterfangen ist an sich schon lebensgefährlich. Doch Mounir verfing sich auch noch in der libyschen Realität: Menschenschmuggler, die ihm Geld abpressten, Milizionäre, die ihn misshandelten. Im April wurde Mounir mit seiner Frau Malak, den beiden Kindern und 300 wildfremden Menschen in einem Hangar nahe dem Flughafen der Hauptstadt Tripoli eingesperrt. Die Familie war dort gelandet, weil sie ohne Papiere aufgefunden wurde. Es ist eines der „detention center“, was man mit Internierungslager übersetzen kann - oder auch mit Haftanstalt.

Dann brachen um die Stadt auch noch schwere Kämpfe aus. In Libyen bekriegt eine Miliz die andere, die Regierung hat das Land nicht unter Kontrolle. Als die Front sich dem Flughafen näherte, flohen die Wachen, die im Internierungslager Dienst versehen hatten. Mounir, Malak und die 300 saßen in der Falle, alleingelassen von jenen, die sie schützen sollten.

Kurz darauf standen bewaffnete Männer in dem Hangar. „Sie haben Geld und unsere Handys verlangt. Dann begannen sie, wild zu schießen. Menschen bluteten und schrien“, erzählt Malak. Nach diesem Zwischenfall hätten Mitarbeiter des UN-Flüchtlingshilfswerks darauf gedrängt, die verbliebenen Undokumentierten in ein anderes Lager westlich von Tripolis zu bringen. „Aber die Leute, die dort ankamen, warnten uns übers Telefon: ,Was auch immer ihr tut, kommt nicht hierher: Die Wachen schlagen uns, und wir bekommen kein Essen.'“

Mounir wartete lieber mit Malak, bis die Nacht kam. Dann nahmen die beiden ihre Kinder an der Hand und flüchteten zu Fuß in dunkle Straßen, aus denen ihnen Schüsse entgegenhallten. Mit viel Glück schafften sie es: Sie landeten in einem offenen Flüchtlingslager, das von der Hilfsorganisation Roter Halbmond betrieben wird. Es liegt in einer Schule nahe der Altstadt, einem der sichersten Viertel von Tripolis. Popcorn-Verkäufer rollen hier mit ihren Wagen über die Strandpromenade, Kinder können gegen Geld auf Ponys reiten, Palmen wehen im Wind. Ein paar Libyer kühlen sich im Meer ab. Doch die Front ist nur etwas mehr als einen Kilometer entfernt, am Himmel ist der schwarze Rauch der Kämpfe zu sehen. Wenn die Sonne untergegangen und das Abendgebet des Muezzins verstummt ist, wird wieder geschossen.

Die Geschichte von Mounir und Maklas ist nicht mehr als ein Schnappschuss aus dem nur schwer zu ertragenden Leben in einem Land, das sich seit acht Jahren in einer Dauerkrise befindet: Im Jahr 2011 wurde Langzeit-Diktator Muammar Gaddafi gestürzt. Danach fand Libyen nie zu echter Stabilität. Es gibt eine von der UN anerkannnte Regierung, eine Gegenregierung, daneben Milizen, kriminelle Banden und Terroristen wie den „Islamischen Staat“. Im April eskalierte die Krise zu einem Bürgerkrieg zwischen den Milizen aus dem ölreichen Osten und der schwachen Regierung im Westen. Über 70.000 Zivilisten mussten wegen der andauernden Kämpfe in den vergangenen drei Monaten ihre Häuser verlassen, Tausende wurden verletzt und über 500 getötet.

Mitten in diesem Chaos stecken Hunderttausende Menschen wie Mounir und Maklas fest: Sie haben keine gültigen Aufenthaltspapiere, sammeln auf den Straßen Müll ein, waschen Autos oder Geschirr, schrubben Treppen und schleppen bis in die Nacht schwere Zementsäcke. Wie viele es genau sind, weiß niemand, denn keine der Hilfsorganisationen, geschweige denn der Staat, hat die Ressourcen, um sie zu zählen. Nicht alle sind hierhergekommen, um über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Vor Gaddafis Sturz zog der ölreiche Wüstensstaat Hunderttausende Gastarbeiter aus der ganzen Welt an. Sie saßen mit Ausbruch der Revolution in der Falle. In Libyen dienen die Ausländer nun oft als Einnahmequelle: Sie werden entführt und nur gegen Lösegeld freigelassen. Selbst die von der UN anerkannte Regierung scheint die Migranten als Druckmittel verwenden zu wollen, um Geld zu erpressen: Seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges fordert Premier Fayez al-Sarraj europäische Unterstützung: Wenn seine Regierung zusammenbreche, könne niemand mehr die unzähligen Migranten im Land hindern, sich auf den Weg nach Europa zu machen.

Die meisten versuchen es im Sommer: Wenn die Europäer an das nördliche Mittelmeer strömen, um zu baden, versuchen im Süden Tausende Menschen, sich unter den etwas günstigeren Wetterbedingungen aus Libyen abzusetzen. Die Zahl derjenigen, die in Italien ankamen, hat aber in den vergangenen Jahren erheblich abgenommen: Im Jahr 2016 zählte das UN-Flüchtlingshilfswerk 181.436 Ankünfte - der höchste Wert in den wenigen Jahren, seit die Statistik geführt wird. Im vergangenen Jahr waren es nur noch 23.370

Dass die Zahlen sinken, kann an verschiedenen Faktoren liegen: am erweiterten Einsatzbereich der mit EU-Geldern ausgebildeten libyschen Küstenwache, die gerettete Migranten wieder in die libyschen Internierungslager inmitten des Krieges bringt; am erzwungenen Rückzug der NGO-Hilfsschiffe oder der staatlichen Retter der italienischen Küstenwache und der EU-Missionen, die bis dahin die meisten Migranten aus dem Mittelmeer geholt hatten. Zudem stieg in den vergangenen zwei Jahren die Zahl der Menschen, die eine Überfahrt über die Straße von Gibraltar zwischen Marokko und Spanien wagen.

Was auch immer der Grund für den Rückgang ist: Immer noch probieren es Tausende pro Jahr, auch wenn die Gefahr wohl immer größer wird, dass sie den Versuch mit ihrem Leben bezahlen. „Wenn wir nicht bald eingreifen, wird es ein Meer aus Blut geben“, sagte vergangene Woche eine italienische Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks.

Heute hilft ihnen niemand mehr. Die europäischen Rettungsschiffe sind verschwunden.

Younes Younes hört Hilfeschreie über Funk. Der Kapitän steht auf dem Deck des blau gestrichenen Holzbootes Neshnoush im Hafen von Tripolis und fingert an einer verhedderten Langleine herum. Seit 20 Jahren fischt der Libyer vor der Küste, von wo immer wieder panische Notrufe von Migranten in sinkenden Booten abgeschickt werden. „Heute hilft ihnen niemand mehr. Die europäischen Rettungsschiffe sind verschwunden“, sagt Younes. Im vergangenen Winter rettete er mit seiner Crew rund 200 Menschen, die in einem überladenen Schlauchboot nach Italien übersetzten. Der Wind blies heftig, die Wellen waren hoch. „Wir haben die Italiener angerufen, aber sie haben nicht geantwortet“, erzählt Younes: „Wir haben die Libyer angerufen, aber sie waren zu weit weg. Also mussten wir selbst hin und sie retten. Es waren so viele, dass sie kaum auf unser Boot passten.“

Wer von Kapitän Younes oder der libyschen Küstenwache aus dem Wasser gefischt wird, muss zurück in die gefürchteten Internierungslager. Eines liegt in Tajoura, ein paar Kilometer östlich von Tripolis, mitten im umkämpften Bürgerkriegsgebiet. 600 Menschen sind hier getrennt nach Geschlechtern in großen Hallen eingesperrt. Im Wellblechdach der Halle der Frauen klafft ein großes Loch. Nur wenige Tage zuvor schlug in der Nähe eine Bombe ein.

Wir schrien und riefen nur noch: 'Wir sterben, wir sterben!'

„Wir haben draußen Explosionen gehört. Plötzlich kam ein großes Metallstück geflogen“, sagt die 24-jährige Selimat aus Nigeria, die in dem Lager eingesperrt ist. „Es landete mitten unter uns auf dem Boden. Wir schrien und riefen nur noch:'Wir sterben, wir sterben!'“

Selimat hat den Schrecken überlebt. Doch in Sicherheit ist sie ebensowenig wie all die anderen Gefangenen, die sich in der Obhut jener regierungstreuen Milizen befinden, die auch von der EU unterstützt werden. Die hier inhaftierten Männer und Frauen dürfen kaum ans Tageslicht. Nur wenn wieder einmal eine der Hilfsorganisationen ins Lager kommt, versammeln sich die Menschen im Hof. Sie wirken eingeschüchtert und ängstlich. Ein Südsudanese, der seinen Namen nicht nennen will, beobachtet die bulligen Wachmänner aus dem Augenwinkel. „Wenn wir ihnen nicht gehorchen, werden wir geschlagen“, flüstert er: „Vor Kurzem musste ich mit Soldaten eines ihrer großen Maschinengewehre putzen.“ Der Mann berichtet, dass er bereits vor einem Jahr und sieben Monaten von der libyschen Küstenwache festgenommen wurde, als er versucht hatte, mit einem Boot nach Italien zu gelangen. Es soll andere geben, die noch länger in einem der Internierungslager ausharren. „Wir sind krank und bekommen nur ein Mal am Tag etwas zu essen. Aber das ist momentan nicht das Schlimmste“, sagt er. „Wir sind in einem Kriegsgebiet. Ich weiß nicht, ob wir das überleben werden.“ Ein Eritreer erzählt, dass er in der Nacht nicht schlafen kann. Er liege wach und versuche zu hören , ob die Schüsse, die Explosionen, das Geschrei näherrücken. In den Lagern stecken die Migranten in einer Falle, die Tore sind versperrt. Sie können nur hoffen, dass der Krieg nicht zu ihnen kommt und keine Bomben bei ihnen einschlagen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk forderte mehrmals, dass niemand mehr nach Libyen zurückgebracht werden darf.

Wir sind in einem Kriegsgebiet. Ich weiß nicht, ob wir das überleben werden.

Auf einer Matratze in der Ecke sitzen ein paar junge Frauen. Sie umklammern einander und weinen. Die Gruppe ist neu im Lager. Erst zwei Tage zuvor wurden sie von der libyschen Küstenwache in den Gewässern vor der Küstenstadt Bengasi festgenommen und hierhergebracht. Eine von ihnen ist Fatima Fofana aus dem westafrikanischen Land Guinea. Sie hält sich ihren schwangeren Bauch. Sie musste sich schon öfter übergeben, traut sich aber nicht, das Wasser im Lager zu trinken.

Neben ihr sitzt Aicha aus Sierra Leone, die eine zweijährige Tochter hat. „Ich wollte meinen Kindern eine Zukunft geben", sagt sie: „Aber alles Leiden war umsonst." Dann wischt sie sich mit dem Zipfel ihres Schleiers die Tränen aus den Augen. „Als auf dem Meer die Wellen größer wurden, hatte ich große Angst. Aber hier fürchte ich mich noch mehr.“

Mitarbeit: Christoph Zotter