Flug MH17: Die bizarre Normalität des Krieges in der Ukraine
Sollte es noch die geringsten Zweifel gegeben haben, was derzeit in der Ostukraine vorgeht, dann sind sie inzwischen endgültig ausgeräumt: Es herrscht Krieg - und anstatt sich um militärische Deeskalation zu bemühen, schlittern die Ukraine und Russland immer tiefer hinein.
Vergangene Woche wurden über dem Rebellengebiet erneut zwei Flugzeuge abgeschossen. Als die ukrainischen Kampfjets vom Typ Suchoi Su-25 östlich der Stadt Donezk zerschellten, waren an der Absturzstelle des Passagierflugs MH17 noch nicht einmal die Leichen aller Passagiere geborgen.
Gegenseitige Schuldzuweisung
Die ukrainische Regierung behauptete daraufhin, die Suchois seien von der russischen Luftwaffe zerstört worden. Umgekehrt erhebt Russland den Vorwurf, dass MH17 von einem ukrainischen Militärflugzeug angegriffen worden sei.
Beides gehört zum Propagandakrieg, der ebenso erbittert geführt wird wie die tatsächlichen Kampfhandlungen (siehe auch Kommentar von Georg Hoffmann-Ostenhof). Die Ursache für den Absturz des mit 298 Passagieren und Crew-Mitgliedern besetzten Fluges MH17 ist währenddessen weitgehend klar: Die Boeing 777 wurde von vorn durch den Splitterregen einer Rakete getroffen. Das lässt sich laut Experten wie Georg Mader, Korrespondent von "Janes Defence, am Schadensbild ablesen. Materialanalysen dürften bald Aufschluss darüber geben, ob das Geschoß tatsächlich von einer Luftabwehrbatterie des Typs Buk abgefeuert wurde: "Im Labor lässt sich anhand der Schrapnells sogar feststellen, wann genau der Sprengkopf gegossen wurde, sagt Mader.
Indizien, aber noch keine harten Beweise gibt es dafür, wo die Rakete abgefeuert wurde. Laut US-Angaben, die auf Satellitendaten, Geheimdienst-informationen und Angaben der ukrainischen Sicherheitskräfte beruhen, war das Geschütz nahe der Gemeinde Snizhne positioniert. Dokumente, die das belegen würden, wurden bislang aber nicht präsentiert.
Am wenigsten Aufschluss darüber, wer für den Abschuss von MH17 verantwortlich ist, wird der Flugschreiber der Boeing liefern: Aus den Daten auf der Black Box lässt sich der Ablauf der Katastrophe lediglich in technischer Hinsicht rekonstruieren.
"Es wird Tag für Tag schlimmer
Die Fotografin Maria Turchenkova berichtet seit mehreren Monaten aus der Ostukraine und hat auch die Absturzstelle besucht: "Sogar die hartgesottenen Rebellen hatten Tränen in den Augen, sagt sie gegenüber profil. Turchenkovas Momentaufnahmen fangen den Alltag im Krieg auf berührende Weise ein.
Die Fotografin Maria Turchenkova über das Grauen an der Absturzstelle von Flug MH17 und ihre Arbeit im ostukrainischen Bürgerkrieg.
profil: Sie waren an der Absturzstelle von Flug MH17. Wie war die Situation dort?
Maria Turchenkova: Ich kam wenige Stunden nach dem Abschuss an. Es wurde bereits dunkel, der Anblick war grauenhaft. Sogar die hartgesottenen, waffenfuchtelnden Rebellen hatten Tränen in den Augen. Die Rettungskräfte wussten nicht, was sie tun sollten. Es war nichts von der üblichen Hektik zu bemerken, die bei Katastrophen normalerweise herrscht - keine Hubschrauber, keine Polizeiabsperrungen, keine Hundertschaften von Sanitätern. Das Erstaunlichste für mich war die Stille. Wir sind bis zum nächsten Morgen im Trümmerfeld geblieben.
profil: Wie werden Sie von den Separatisten behandelt?
Turchenkova: Ich arbeite seit Monaten in der Ostukraine. Die ganze Zeit über wurde neben dem echten Krieg auch ein massiver Propagandakrieg geführt. Daher trauen die Aufständischen den ausländischen Medien nicht. Trotzdem ist es möglich, mit ihnen zu arbeiten. Ich versuche immer, offen und ehrlich zu sein. Das macht es meistens einfacher.
profil: Werden Sie schikaniert oder bedroht? Und spielen dabei auch die ukrainischen Streitkräfte eine Rolle?
Turchenkova: Wir können uns nicht frei bewegen, aber es ist immer noch möglich, zu arbeiten. In Donezk gibt es beispielsweise eine Ausgangssperre. Gemäß einem Dekret der Rebellen dürfen Journalisten auch keine Gegenden mehr betreten, in denen gekämpft wird. Vor Kurzem hatte ich Probleme bei einigen Checkpoints der Aufständischen. Die ukrainischen Streitkräfte sind tatsächlich auch ein Faktor: Gerade jetzt wird ein Teil von Donezk von ihnen mit Granaten beschossen.
profil: Wie würden Sie das, was derzeit in der Ostukraine vorgeht, charakterisieren?
Turchenkova: Es hat als politischer Konflikt begonnen und ist jetzt ein ausgewachsener Bürgerkrieg, der von einer Handvoll Truppenteilen auf beiden Seiten ausgetragen wird. Und es gibt einen Machtkampf zwischen verschiedenen Rebellenfraktionen.
profil: Was war die schlimmste Situation, in die Sie hineingeraten sind?
Turchenkova: Slowjansk, eine Hochburg der pro-russischen Milizen, wird seit April im Zuge einer Anti-Terror-Offensive der ukrainischen Regierung mit Granaten und Artillerie beschossen. Trotzdem sind die meisten Zivilisten in der Stadt geblieben. Sie wissen nicht, wohin sie gehen sollen, viele haben Slowjansk ihr ganzes Leben nicht verlassen. So richtig schlimm wurde es, als die Elektrizitäts- und Wasserversorgung zerschossen wurde und rund um die Stadt heftige Kämpfe tobten. Es gab keine Schutzräume, nicht einmal richtige Keller. Ich bin mit den Leuten auf der Straße geblieben, und wir haben von Moment zu Moment überlegt, wohin wir als Nächstes laufen sollen. Für mich waren das die schlimmsten Momente in den drei Monaten, die ich in Slowjansk verbracht habe. Aber die Zivilisten dort müssen das jeden Tag und in immer heftigerem Ausmaß durchmachen.
profil: Wie viel normales Leben ist in der Ostukraine noch möglich?
Turchenkova: In Donezk, einer Millionenstadt, dünnt das Leben immer mehr aus. Viele Bars, Restaurants und Kinos sind geschlossen, Geschäfte machen dicht. Die Verkehrsstaus, die früher an der Tagesordnung waren, gibt es nicht mehr. Untertags wirkt alles ganz normal. In der Nacht wird es sehr still. Du hörst nur das Geräusch von anfliegenden Grad-Raketen. Und es wird Tag für Tag schlimmer.
Zur Person
Maria Turchenkova: Die 26-Jährige berichtet seit Monaten als freie Journalistin aus dem Kriegsgebiet in der Ostukraine. Ursprünglich als Radioreporterin in Moskau tätig, begann sie 2009 zu fotografieren. In der Folge porträtierte sie unter anderem Oppositionsaktivisten und beschäftigte sich intensiv mit dem Konflikt im Nordkaukasus. Eines ihrer Langzeitprojekte betrifft den "Verborgenen Krieg in der russischen Republik Dagestan an der Grenze zu Georgien.