Frankreich-Wahl: Vier Kandidaturen und ein Ernstfall
Am Sonntag, den 23. April, abends um Punkt 20 Uhr, ist ungläubiges Staunen nicht ausgeschlossen. Das Ergebnis des ersten Wahlgangs der französischen Präsidentschaftswahlen könnte nämlich ganz anders ausfallen als erwartet. Seit Monaten war das Rennen so gut wie gelaufen: Marine Le Pen, Kandidatin des rechtspopulistischen Front National, und Emmanuel Macron, Kandidat der von ihm gegründeten Bewegung En Marche!, schienen uneinholbar vorne zu liegen. In der darauffolgenden Stichwahl wiederum wäre Le Pen gegen Macron wohl chancenlos gewesen. Ein Match also zwischen einer Anti-Ausländer-, Anti-EU-Kandidatin und einem weltoffenen Pro-Europäer - mit sicherem Vorteil zugunsten von Letzterem.
Doch die Dynamik der letzten Wochen vor dem Wahltag könnte die Gewissheit als voreilig entlarven. Eine Umfrage von Ifop-Fiducial, veröffentlicht im Magazin "Paris-Match" sieht zwar Le Pen (22,5 Prozent) und Macron (23,5 Prozent) vorne, doch beide haben im Vergleich zu ihren Werten vor einem Monat verloren. Die beiden Verfolger François Fillon (19,5 Prozent) und Jean-Luc Mélenchon (18,5 Prozent) rücken näher, wobei vor allem der Linkssozialist Mélenchon deutlich dazugewinnt und Fillon in anderen Umfragen bereits überholt hat.
Das bedeutet, niemand kann mit Sicherheit sagen, welche beiden Kandidaten es in die Stichwahl schaffen. Das vorausgesagte Rennen zwischen Le Pen und Macron bleibt das wahrscheinlichste, doch andere Paarungen sind möglich.
Das Einzige, was uns überraschen sollte, ist, dass es noch Dinge gibt, die uns überraschen können (François de la Rochefoucauld, 1613-1680).
Es könnte sein, dass beim entscheidenden Wahlgang am 7. Mai nur Rechte vertreten sind (Le Pen - Fillon), nur Kandidaten, die keiner etablierten Partei angehören (Macron - Mélenchon), oder, der Katastrophenfall für Europa, nur Verfechter eines EU-Austritts (Le Pen - Mélenchon). Die vier Favoriten im Kurzporträt.
Emmanuel Macron, 39
Partei/Bewegung: En Marche! (auf Deutsch: "Vorwärts". Gegründet von ihm selbst 2016) Bisherige Präsidentschaftskandidaturen: keine.
Ist er rechts oder links? Ein Versuch, den Shootingstar der französischen Politik im vertrauten Schema einzuordnen, bringt ein zwiespältiges Ergebnis: Als junger Mann war er Mitglied der Sozialistischen Partei, später bekannte er, "kein Sozialist" zu sein. Als Wirtschaftsminister von 2014 bis 2016 in der sozialistischen Regierung wurde er zu einer der Hassfiguren der Parteilinken, weil er gegen ihren Widerstand eine liberale Arbeits-und Gewerbereform durchboxte. Was Macron von der Idee des abtretenden Präsidenten François Hollande hielt, einen Einkommensteuersatz von 75 Prozent einzuführen, zeichnet ihn zumindest als schlagfertigen Rhetoriker aus: "Das ist wie Kuba ohne Sonne!"
Macron selbst bezeichnet sich weder als rechts noch als links und nahm deshalb auch an keiner der Vorwahlen teil. Unter seinen Unterstützern finden sich ehemalige konservative und sozialistische Minister, Liberale und Kommunisten.
Auch seine Vorhaben als Präsident folgen keiner traditionellen Parteilinie: Der 39-Jährige ist der einzige Präsidentschaftsanwärter, der das von der EU vorgegebene Ziel von drei Prozent Defizit (relativ zum BIP) bereits in diesem Jahr einhalten und danach jährlich weiter senken möchte - Linke nennen das abfällig Austerität. Gleichzeitig möchte Macron Geringverdiener entlasten, 50 Milliarden zur Wirtschaftsankurbelung investieren und 120.000 Beamtenstellen abbauen. Außerdem soll die sogenannte Solidaritätssteuer auf Vermögen nur noch auf Immobilien eingehoben werden, nicht aber auf Aktien. Der Steuerertrag wäre damit halbiert. Das kanadisch-europäische Freihandelsabkommen CETA befürwortet der wirtschaftsliberale Ex-Rothschild-Banker auch. Angela Merkels Flüchtlingspolitik zollte er Anerkennung: "Sie hat unsere kollektive Würde gerettet."
Macron ist es gelungen, sich trotz seiner Minister-Vergangenheit als unabhängiger Freigeist zu positionieren. Die Ehe mit seiner um 27 Jahre älteren ehemaligen Lehrerin charakterisiert ihn als Mann, dem Konventionen wenig bedeuten. Sein Gegner François Fillon arbeitet freilich hartnäckig daran, Macron als herkömmlichen Sozialisten zu punzieren. Er nennt ihn "Emmanuel Hollande".
Marine Le Pen, 48
Partei/Bewegung: Front National Bisherige Präsidentschaftskandidaturen: 2012 (dritter Platz mit 17,9 Prozent)
Sie ist - nach eigener Definition - die Anti-System-, Anti- EU-, Anti-Merkel-Kandidatin. Paradoxerweise strahlt Marine Le Pen gleichzeitig Stabilität aus, denn unter den vier aussichtsreichsten Kandidaten ist sie die Einzige, hinter der geschlossen eine alteingesessene Partei steht -und zwar die derzeit wahrscheinlich stimmenstärkste.
Le Pen hat die Ekelschranke gegenüber ihrer Politik durchbrochen. "Franzosen zuerst" klingt nicht schlimmer als "America first", und "Raus aus der EU" wurde mit dem Brexit enttabuisiert. Doch das einstige Schmuddelkind hat ein Problem: den zweiten Wahlgang. Ihre Stammwähler nehmen es Le Pen nicht übel, dass sie und ihr Umfeld mehrere Verfahren am Hals haben, etwa wegen mutmaßlicher Scheinbeschäftigungen im Europäischen Parlament. Sie finden die Aussicht auf ein EU-Austrittsreferendum ebenso verlockend wie die Vorstellung geschlossener Grenzen, Strafsteuern für die Beschäftigung von Ausländern und eine Rückkehr zum Franc. Bloß: In der Stichwahl reicht diese Stammwählerschaft nicht aus, um über die 50-Prozent-Marke zu kommen.
Egal wer Le Pens Gegner wäre, "Marine" (wie sie sich auf Plakaten nennt) zöge gegen Macron, Mélenchon und Fillon den Kürzeren, jedenfalls laut allen Umfragen. Le Pen und ihr Team wollen davon nichts wissen und verweisen auf überraschende Wahlergebnisse der jüngsten Zeit, etwa auf Donald Trumps Sieg im vergangenen November.
Vergangene Woche rief Le Pen mit einer wohlgesetzten Provokation die Erinnerung an den Geschichtsrevisionismus ihres Vaters wach. Sie behauptete, Frankreich sei nicht für die Massenverhaftungen von Juden während des Zweiten Weltkrieges verantwortlich gewesen, sondern "die, die damals an der Macht waren", also das Vichy-Regime, das jedoch nicht Frankreich repräsentierte. Ähnlich hatten in der Vergangenheit die Staatspräsidenten Charles de Gaulle und François Mitterrand argumentiert.
Weshalb sie das Thema in den Wahlkampf zerrt, obwohl ihr Standpunkt heute alles andere als mehrheitstauglich ist, weiß nur Le Pen. Ist es Nervosität?
François Fillon, 63
Partei/Bewegung: Die Republikaner Bisherige Präsidentschaftskandidaturen: keine
Am 27. November des vergangenen Jahres schien der Gewinner der Präsidentschaftswahlen so gut wie festzustehen: François Fillon, Ex-Premier (2007-2012) unter Präsident Nicolas Sarkozy, gewann bei den Vorwahlen der Republikaner, und wer sollte ihm den Sieg streitig machen? Die Umfragen waren eindeutig: Le Pen lag hinter Fillon, Macron grundelte bei 14 Prozent, die Sozialisten völlig chancenlos. Die deutsche Wochenzeitung "Die Zeit" betitelte damals ein Porträt des Präsidenten in spe "Der Aufstieg des Saubermanns".
Der Wahlkampf versprach Langeweile, zu brav und zu anständig sei Fillon, der schon sechs Ministerämter in seinem Lebenslauf ausgeübt hatte, ohne jemals besonders aufgefallen zu sein.
Doch im Jänner schlug die Wochenzeitung "Le Canard Enchaîné" mit einer Enthüllung zu: Fillon habe seine Ehefrau Penelope jahrelang als parlamentarische Assistentin beschäftigt. Das ist zwar nicht verboten, allerdings, so der Verdacht, hat Penelope Fillon den Job nie ausgeübt, sondern lediglich das Gehalt bezogen. Die Staatsanwaltschaft eröffnete eine Untersuchung wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder und führt Fillon als Beschuldigten.
Plötzlich schien die Kandidatur obsolet, der Angepatzte wurde gedrängt, einem Parteifreund Platz zu machen. Fillon blieb jedoch, behauptet seither störrisch, es handle sich um eine Verschwörung und präsentiert sich als Mann des Volkes, der von Justiz und Medien gejagt wird. Sein Programm - eine radikale Verschlankung des Staates, Abbau von einer halben Million Stellen im öffentlichen Dienst, Ende der 35-Stunden-Woche -geht dabei naturgemäß ein wenig unter. Gelobt wird es - wie auch jenes von Emmanuel Macron - vom Arbeitgeberverband.
Immer wieder kommen neue Details der Fillon'schen Affären ans Tageslicht, begleitet von Zitaten aus vergangenen Tagen des Ex-Saubermanns: das große Problem Frankreichs sei "die gesunkene Moral im politischen Leben", tönte er noch im September des Vorjahres.
Jean-Luc Mélenchon, 65
Partei/Bewegung: Das aufständische Frankreich (gegründet von ihm selbst im Februar 2016) Bisherige Präsidentschaftskandidaturen: 2012 (unterstützt von mehreren Links-Parteien; vierter Platz mit 11,1 Prozent)
Die Europäische Union starrt gebannt auf die Umfragewerte von Marine Le Pen, doch sie sollte auch ab und an ein Auge auf jene von Jean-Luc Mélenchon werfen. Dessen Verhältnis zur EU ist von sehr ähnlicher Qualität, und ein Überraschungssieg des 65-Jährigen wäre nicht minder bedrohlich für die Union. Ebenso wie Le Pen möchte der ehemalige Trotzkist die derzeit gültigen -gemeinsam vereinbarten -Regeln vor allem im Wirtschaftsbereich aufkündigen und "neu verhandeln". Sollte dies nicht möglich sein, sieht Mélenchons "Plan B" einen Austritt aus der EU vor.
Auch als US-Präsident Donald Trump kürzlich als Antwort auf einen Giftgasangriff syrischer Truppen eine Luftwaffenbasis der syrischen Luftwaffe bombardieren ließ, verurteilten dies zwei Kandidaten: Le Pen und Mélenchon -wie übrigens auch beide lieber auf die USA schimpfen als auf Russland.
Dem brillanten Redner ist es gelungen, alle anderen linken Kandidaten (einschließlich Benoît Hamon, den offiziellen Kandidaten der Sozialistischen Partei) bei den Wählern vergessen zu machen und als einziger aussichtsreicher Ur-Linker das Lager hinter sich zu vereinen. Dabei erweist sich der Veteran als äußerst dynamisch und sein Team als kreativ: Ein Computerspiel mit dem Titel "Fiskal Kombat" setzt Mélenchon als unbarmherzigen Eintreiber gegen böse Steuerflüchtlinge in Szene. Nach Angaben der Macher haben sich bereits 435.000 Personen als Fiskal-Fighter versucht.
Und weil der einzig wahre Linke nicht überall gleichzeitig sein kann, um sein "kommunistisches" Programm (der Vorwurf stammt von François Fillon und Emmanuel Macron) zu verbreiten, wird er bei Wahlkampfveranstaltungen vor Tausenden Anhängern als Hologramm sichtbar gemacht.
Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 16 vom 14.4.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.