Gastbeitrag: Wenn der Westen mit den Taliban spricht
Ich begleitete den Weg und den Widerstand der afghanischen Frauen schon während des ersten Taliban-Regimes, als sie versuchten, mit Untergrundschulen den Alltag aufrecht zu erhalten. Die Ankunft der internationalen Truppen 2001 war trotz andauernder Instabilität eine Zeit der Hoffnung und des Aufbaus der Demokratie. Frauen trugen diesen Wandel maßgeblich mit. Seit dem Fall von Kabul im August 2021 sind viele Frauen im Untergrund, auf der Flucht und im Exil. Mit einigen von ihnen führe ich seither fortlaufende Gespräche. Wir müssen ihre Stimmen hören, die Welt muss an ihrer Seite stehen.
Die Taliban haben eine strikte Gender-Apartheid verordnet. Mit diesem Begriff beschreibt der österreichische UN-Hochkommissar für Menschenrechte Volker Türk die dramatische Situation des Ausschlusses der Frauen aus dem öffentlichen Leben. Ihre Bewegungsfreiheit ist drastisch eingeschränkt. Nur in männlicher Begleitung dürfen sie das Haus verlassen. Die drakonischen Verhaltens- und Kleidungsvorschriften werden überwacht. Der Besuch von Bildungseinrichtungen über die Grundstufe hinaus ist nicht mehr erlaubt. Frauen sind aus dem Arbeitsleben verbannt.
Die Taliban haben eine strikte Gender-Apartheid verordnet.
„Brot, Arbeit, Freiheit“
Der Westen, also die USA und ihre NATO-Verbündeten, hat sich im Sommer vor zwei Jahren nach einem Milliardeninvestment schlagartig aus Afghanistan zurückgezogen. Die Bilder von damals haben sich im globalen Bewusstsein verankert: der Sturm auf den Flughafen nach dem Fall von Kabul und der Aufstand der jungen Frauen, die mit dem Slogan „Brot, Arbeit, Freiheit“ durch die Straßen quer durch die großen Städte gezogen sind. Sie wurden von den Taliban mit Gewehrkolben gestoppt. Sie wurden bedroht, verschleppt, vergewaltigt.
Es waren diese jungen Frauen, die jeden Tag um Bildung und Gerechtigkeit gekämpft haben. Sie haben das Fenster, das sich in den letzten zwei Jahrzehnten nach dem Sturz des ersten Taliban Regimes 2001 geöffnet hat, genützt und sich mit Entschlossenheit einen Platz in der Verwaltung, dem Parlament, der Universität und der Polizei erkämpft. Sie sind der Kompass für ein Afghanistan der Freiheit und Hoffnung. Sind ihre Stimmen verstummt?
Gestrandet in Katar: die Geschichte von Wahida
Eine der führenden Aktivistinnen war Wahida. Sie hat studiert und 2018 in der Presseabteilung von Präsident Aschraf Ghani gearbeitet. Sie hat ihre Kindheit unter dem ersten Taliban-Regime verbringen müssen und sich ihren Bildungsweg hart erkämpft. „Meine Familie war sehr streng. Ich hatte keine Freiheiten. Aber mit der gesellschaftlichen Öffnung nach dem Sturz der Taliban 2001 haben sich viele Familien verändert, auch meine. Meine Welt waren die Bücher. Ich plante, landesweit Bibliotheken aufzubauen. Das Lesen hat mir gezeigt, wie rückständig wir als Gesellschaft sind, und ich war entschlossen, junge Menschen zu motivieren, durch Lesen unsere Gesellschaft zu verändern.“
Nach dem Fall von Kabul und dem Chaos hat Wahida ihre Kolleginnen organisiert, um gegen das neue Regime zu protestieren. Sie hatte keine Angst vor der Konfrontation mit den Taliban auf der Straße.
Doch sie zahlte einen hohen Preis dafür. Sie kam wie so viele der protestierenden Frauen ins Gefängnis und musste danach untertauchen. Ich erreichte sie im Februar 2022 über Zoom in ihrem Versteck im Ausland. Wahida wirkte resigniert. Die Depression und das Gefühl, alles verloren zu haben, vor allem die Unterstützung der Welt, waren die ganze Zeit spürbar.
Die 34-Jährige ist in Katar gestrandet, wo sie um ihr Visum in die USA bangt. Sie steckt in einem Limbo fest, kann nicht nach vorn und nicht zurück.
War all das ihren persönlichen Einsatz wert?
Wahida antwortet: „Die Tatsache, dass ich Widerstand geleistet habe, gibt mir Energie. Ich habe es für mich und mein Land getan. Ich war im Taliban-Gefängnis und hatte einen psychischen Zusammenbruch, aber ich habe niemals aufgehört zu protestieren. Auch heute geht es weiter. Wir brauchen dafür nur ein Blatt Papier und einen Stift.“
Wahida ist bis heute davon überzeugt, dass die wiederkehrenden Proteste der Frauen mit ein Grund sind, warum das Regime der Taliban von der internationalen Gemeinschaft bis heute nicht diplomatisch anerkannt wird.
Aber: Anders als im Iran, wo sich Männer mit Frauen bei den Protesten im vergangenen Jahr solidarisch zeigten, stehen Frauen in Afghanistan allein an vorderster Front.
Also, wo bleiben die Männer? Das fragt sich auch Wahida: „Wenn unsere Menschen wirklich an demokratische Werte glauben würden, wären heute Hunderttausende auf den Straßen. Demokratie muss in die Köpfe der Menschen, und das dauert.“
Wahida denkt darüber nach, was Frauen den Mut gab, alles zu riskieren. Sie erzählt von den Schwierigkeiten, die Proteste fortzusetzen. Die Angst vor Spionen des Regimes ist allgegenwärtig, sogar in der Familie. Die Menschen gehen so weit, ihre Familienmitglieder zu verraten, um sich ernähren zu können. „Wir können die wenigen aufgeschlossenen Frauen, die wir noch im Land haben, nicht auf die Straßen schicken und sie der Gefahr aussetzen, dass sie eingesperrt und gefoltert werden. Wir brauchen sie in der Zukunft“, sagt Wahida.
Mit den Taliban verhandeln?
Die gebildeten Frauen sind das Kapital der Zukunft Afghanistans. Sie leben auf der ganzen Welt verstreut und sind doch ständig miteinander verbunden. Eine von ihnen ist Nargis Nehan, 42. Sie wurde in Kabul geboren und war zuletzt zwei Jahre lang Ministerin für Minen, Erdöl und Industrie, bis sie im August 2021 nach Norwegen evakuiert wurde. Sie galt als fähige Politikerin und leidenschaftliche Frauenrechtlerin.
Der Abzug der NATO-Truppen im Jahr 2021 war für sie ein Schockmoment, ja mehr noch, ein Schlüsselereignis. Seit damals weiß Nehan, dass sich Frauen in Afghanistan nicht auf Unterstützung von außen verlassen dürfen, sondern auf Eigeninitiative eine Front gegen die Taliban bilden müssen.
„Die Politik von Abwarten und Beobachten hat nichts gebracht“, resümiert sie. Trotz der Fehler, die der Westen gemacht hat, bleibt er die letzte Option für die Frauen in Afghanistan.
Warum? „Weil die Länder im Westen eine offene und demokratische Politik verfolgen. Ja, sie machen Fehler, sie haben uns im Stich gelassen, aber trotzdem. Es ist Zeit für die Welt, das zu verstehen und mit uns, mit den Frauen und der Jugend zu kooperieren.“
Die Radikalisierung der jungen Generation in den Madrassas, den islamischen Schulen der Taliban, sieht sie als globale Bedrohung. Die Buben wachsen mit einem Curriculum auf, das sie anleitet, Ungläubige im Namen des Islam zu bekämpfen. Und über Social Media erreichen diese Vorstellungen von paradiesischen Versprechen auch junge Menschen im Westen, die empfänglich sind für radikale Ideologien.
Und wie wird es weitergehen? Nargis stellt eine rhetorische Frage: „Glauben Sie, dass die Taliban uns unser Land tatsächlich friedlich zurückgeben werden? Es wird nicht ohne Blutvergießen gehen. Und dafür ist die Welt direkt verantwortlich. Und jetzt sollen wir mit den Taliban eine friedliche Lösung finden? Haben die Taliban auf die Proteste der tapferen jungen Mädchen reagiert?“
Während die erste Taliban-Ära (1996 bis 2001) von Saudi-Arabien, Pakistan und den Vereinigten Arabischen Emiraten anerkannt wurde, hat sich bislang kein einziges Land entschließen können, das derzeitige Regime offiziell anzuerkennen. Die Taliban sind eine radikale islamistische Bewegung, deren politische Ziele auf die Etablierung eines Gottesstaates ausgerichtet sind. Damit tun sich selbst Länder mit muslimischer Mehrheit schwer.
Fawzia Koofi: Ex-Abgeordnete im Exil
Auch Fawzia Koofi glaubt, dass es mit den Taliban keine Kompromisse geben kann. Die 47-Jährige ist eine Kämpferin der ersten Stunde. Sie kam als sechstes Kind in der Provinz Badakhshan auf die Welt, unerwünscht, da sie ein Mädchen war. Sie musste jeden Tag beweisen, dass sie mehr als nur ein halbes menschliches Wesen ist. „Ich weiß, was es bedeutet, das Haus nicht verlassen zu dürfen. So ging es mir, als die Taliban zum ersten Mal kamen und meine ganze Welt düster wurde. Ich dachte, nun war mein Zimmer meine Welt, und da draußen gab es keinen Platz mehr für mich“, sagt sie. Aus Fawzia wurde die erste weibliche Vize-Sprecherin des afghanischen Parlaments. Auch sie lebt heute im Exil, in England.
Nach Treffen zwischen den Taliban und westlichen Delegationen in Oslo, Genf und Kabul gab es Ende Juli eine Zusammenkunft in Doha zwischen Vertretern des US-Außenministeriums und den Taliban. Bei den Gesprächen geht es immer um dasselbe. Die Taliban drängen auf finanzielle Unterstützung, um die katastrophale humanitäre Lage abzufedern. Der Westen fordert die bedingungslose Rücknahme der massiven Einschränkung der Frauen- und Menschenrechte. Aber genau das passiert nicht. Nach ihrer Rückkehr nach Kabul verkündeten die Taliban,, dass der Schulbesuch für Mädchen, der bis zur sechsten Klasse erlaubt war, ab sofort um zwei Jahre herabgesetzt wird. Eine klare Machtdemonstration.
Wie sieht Fawzia diese Treffen der Taliban mit westlichen Delegationen? „Die Taliban haben ein gutes Training in Verhandlungstechniken bekommen. Sie setzen sich durch, und das auf Kosten der Frauen“, sagt sie. Sie blickt kritisch auf die letzten 20 Jahre zurück. Die Frauen Afghanistans haben mit internationaler Unterstützung viel erreicht, aber das hatte auch seinen Preis: „Je mehr sie sich einsetzten, die Demokratie zu schützen, umso mehr wurden sie Zielscheibe militanter Gruppen. Jetzt ist es Zeit, auf sie zu hören. Wir sind nicht Opfer, sondern Kämpferinnen, und wir wissen, wo die Lösungen herkommen.“
Während die Taliban Dialogangebote bekommen, in die Schweiz, nach Norwegen und Doha fliegen, gibt es immer noch keine Plattform für die afghanischen Frauen.
Während die Taliban Dialogangebote bekommen, in die Schweiz, nach Norwegen und Doha fliegen, gibt es immer noch keine Plattform für die afghanischen Frauen. „Wir werden von einer Konferenz zur nächsten eingeladen, aber es gibt keine politischen Angebote, wie sie den Taliban unterbreitet werden. Wir bitten all diese Länder, den Frauen eine internationale Plattform zu ermöglichen. Ist das wirklich zu viel verlangt?“
Die Frauen Afghanistans haben den Blick auf eine offene Gesellschaft gerichtet. Sie sehen, was sie, ihre Familien und ihr Land gewinnen können. Dieser Sehnsucht stehen die autokratischen Strukturen der Taliban entgegen. Der Angriff auf die Frauenrechte in Afghanistan ist nicht das private Problem der Frauen, auch kein ausschließlich afghanisches Problem. Es geht uns alle etwas an.
Edit Schlaffer, geboren 1950, ist Gründerin von Women without Borders, einer internationalen Organisation, die weltweit Bildungsprogramme mit dem Schwerpunkt Prävention von gewalttätigem Extremismus und Beteiligung von Frauen an Friedensdialogen umsetzt.