Katrin Glatz Brubakk
Nahost

„Gaza ist eine stille Katastrophe“

Die Kinderpsychologin Katrin Glatz Brubakk war zwischen 2017 und 2023 zwölf Mal im berüchtigten Flüchtlingslager Moria auf Lesbos im Einsatz. Im August war sie zum ersten Mal in Gaza. Im Gespräch mit profil berichtet sie von ihren Erfahrungen in der Arbeit mit kriegstraumatisierten Kindern.

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Sie haben im Flüchtlingslager Moria mit traumatisierten Kindern zusammengearbeitet. Unter welchen Bedingungen leben diese Kinder?

Katrin Glatz Brubakk

Die Lebensbedingungen waren schrecklich. Vor allem im Herbst 2019, damals lebten mehr als 20.000 Menschen dort. In einem Lager, das ursprünglich für 3.000 Menschen gebaut wurde. Das sind siebenmal so viele Menschen, die Toiletten benutzen müssen, die sich Essen teilen müssen, die irgendwo wohnen müssen. An einem Punkt gab es kein System mehr, keine Infrastruktur, die das bewältigen konnte. Das heißt, Menschen schliefen in klitzekleinen Zelten, aus denen die Beine hinausgeschaut haben. Kinder schliefen auf Pappkartons, weil sie nichts anderes hatten. Man musste drei bis vier Stunden Schlange stehen, um duschen zu können. Zweihundert Personen mussten sich einen Wasserhahn teilen. Erwachsene Frauen schliefen zum Teil mit einer Windel nachts, weil sie nicht aufstehen wollten. Es gab viele Prügeleien, viele Konflikte. Kinder haben erzählt, sie essen so wenig wie möglich, damit sie nicht zu den Klos gehen müssen, die gestunken haben und dreckig waren. Ratten liefen zwischen den Zelten herum, überall lag Müll.

Hat sich das gebessert?

Glatz Brubakk

Im zweiten Lager, Kara Tepe, wurde es besser. Seitdem schlafen die Menschen in Wohncontainern, es gibt eine bessere Müllabfuhr, es ist nicht mehr so dreckig. Was aber ähnlich ist, sind die Leblosigkeit und dieses ewige Warten. Die Lager sind die Heimat vieler Kinder. So ein Flüchtlingslager gibt kein Gefühl der Sicherheit, kein Gefühl der Geborgenheit. Es gibt keine Schulaktivitäten, der ganze Tag besteht nur aus Warten. Man weiß nicht, wann es aufhört. Mit Unsicherheit zu leben, das können Menschen allgemein schlecht. Das führt dazu, dass die Traumasymptome verstärkt werden, es führt zu Depressionen und Angst.

Wie äußern sich diese psychischen Erkrankungen bei Kindern?

Glatz Brubakk

Grob gesagt teilt sich das in zwei Gruppen. Die eine Gruppe sind Kinder, die total unruhig werden. Ihre Unruhe äußert sich als Aggressionen gegen sich selbst oder gegen die Umwelt: Sie verletzen sich selbst, beißen sich, bis sie bluten, reißen sich die Haare aus. Sie haben Alpträume oder können nicht ruhig sitzen. Die andere Gruppe sind Kinder, die total kollabieren. Sie können nicht mehr reden, mit niemandem interagieren. Sie wollen nicht spielen, wollen am liebsten in einer Ecke sitzen und nichts tun. Manche essen gar nichts, sodass man sich medizinische Sorgen macht. Es ist, als wären sie von den Erlebnissen überwältigt. Die einzige Art, sich zu schützen, ist für sie der totale Rückzug. Ein Trauma für ein Kind heißt jedenfalls immer, dass seine Entwicklung gestoppt wird. Das hat einen massiven Einfluss auf das spätere Erwachsenenleben.

Wie sah Ihre Arbeit in Moria konkret aus?

Glatz Brubakk

Meine Arbeit bestand darin, Kindern und Jugendlichen psychologisch zu helfen. Das ist für die Menschen dort in Wirklichkeit wie ein kleines Pflaster auf einer Brandwunde, während sie noch im Feuer stehen. Was wir den traumatisierten Kindern bieten konnten, war so etwas wie eine psychologische Vitaminpille – wir wollten sie stärken. Besonders zurückgezogenen Kindern haben wir Einzeltherapie angeboten. Wir hatten außerdem mehrere Gruppen, auch für Kinder und Eltern – um ihnen zu erklären, wie sie mit ihren traumatisierten Kindern besser umgehen können. Was ich oft gemacht habe, ist, mit den Betroffenen Atemübungen zur Entspannung zu machen. Außerdem haben wir viel gespielt. Etwa Verstecken oder Seifenblasen blasen oder mit Ballons spielen, um so ihr Nervensystem zu beruhigen. Es hört sich etwas komisch an, dass ich in der Katastrophe mit den Kindern spiele, aber es gibt ihnen auch ein wenig Pause vom Kummer.

Wie alt sind die Kinder, mit denen Sie zusammenarbeiten?

Glatz Brubakk

Zwischen eineinhalb und 18 Jahren.

Ein Zelt in Gaza, Palästina
Katrin Glatz Brubakk im Einsatz in Gaza
Hier leben die Menschen in Gaza
Ein Zelt in Gaza, in dem gewohnt wird.
Das Zeltlager in Gaza, Palästina.
Das Zeltlager in Gaza, Palästina.

Sind viele dieser Kinder Waisen?

Glatz Brubakk

In Gaza, ja. Ich habe kein Kind getroffen, das überhaupt keine Familie hatte, aber es haben viele mindestens ein Elternteil verloren.

Wie sah die Situation in Gaza aus Ihrer Perspektive aus?

Glatz Brubakk

Alles, was ich gesehen habe, ist zerbombt. Alles hat eine ganz besondere Farbe von Grau – durch den Staub von zerbombten Gebäuden. Mein Alltag hat sich hauptsächlich im Nasser-Krankenhaus abgespielt, in der Nähe von Chan Younis. Das Krankenhaus ist voller verwundeter Menschen. Gebrochene Arme, amputierte Körperteile, überall Gips. Was besonders Eindruck macht, sind diese fast mumifizierten Kinder, die aufgrund von Brandwunden komplett in Bandagen eingewickelt sind. Es ist alles sehr dramatisch. Das Geräusch des Krieges sind für mich die Schreie der Kinder mit Todesangst. Sie sind so stark traumatisiert, dass jedes kleine Geräusch ihre Furcht wieder weckt. Das ist ein Extrem, das ich nirgendwo anders erlebt habe.

Wie war das Sicherheitsgefühl für Sie im Krankenhaus? Es werden immer wieder auch Spitäler bombardiert.

 Jedes Mal, wenn ich nach meiner Schicht nachhause ging und zu meinen Kollegen sagte: „Wir sehen uns morgen“, hat mindestens einer gesagt: „Ja, wenn wir noch am Leben sind.“

Katrin Glatz Brubekk, Kinderpsychologin in Gaza

Glatz Brubakk

Es vergeht kein Tag, an dem man keine Bombe hört. Es kommen dauernd Krankenwagen mit neuen Schwerverletzten und Toten, manchmal sind die Bombeneinschläge so nah, dass man sie wirklich fühlen kann. Aber man lernt, sich daran zu gewöhnen. Ich habe mich nie in Lebensgefahr gefühlt. Ein paar Mal war es nah, aber nie akut. Meine Kollegen vor Ort leben seit einem Jahr unter diesen Bedingungen. Sie wissen jeden Tag, wenn sie ins Krankenhaus kommen, nicht, ob sie ihre Familien wiedersehen. Jedes Mal, wenn ich nach meiner Schicht nachhause ging und zu meinen Kollegen sagte: „Wir sehen uns morgen“, hat mindestens einer gesagt: „Ja, wenn wir noch am Leben sind.“

Wer waren die Kinder, die Sie in Gaza behandelt haben?

Glatz Brubakk

Ausschließlich Kinder, die aufgrund von Verletzungen im Spital waren. Sie hatten Brandwunden, gebrochene Beine oder amputierte Arme.

Gibt es etwas, was die Kinder in Gaza und die in Moria verbindet?

Glatz Brubakk

Es ist das Niveau der Traumata. Was die Kinder in Gaza jetzt erleben, haben Kinder in Moria vor ihrer Flucht erlebt. Sie verbindet vor allem die Unsicherheit und die Frage, wann es aufhören wird. In Moria fragen die Kinder: Wann komme ich aus Moria endlich weg, damit ich zur Schule gehen, ein normales Leben leben kann und nicht mehr fürchten muss? In Gaza stellen sie sich die Frage, wann die Bombardierung endlich aufhört. Der große Unterschied zu Moria ist, dass Kinder in Gaza – zurecht – Angst haben, entweder selbst zu sterben oder Menschen zu verlieren, die sie lieb haben. Das Niveau der Todesangst in Gaza ist höher. In Moria hält einen die Hoffnung auf ein neues Leben in Europa am Leben. Ich habe sehr viele Kinder in Moria betreut, die aktiv versucht haben, sich umzubringen. Manchmal war der einzige Lichtblick: Irgendwann kommst du hier wieder weg.

Wie lange mussten diese Kinder im Schnitt in Moria bleiben?

Glatz Brubakk

Das ist ganz unterschiedlich. Manche drei Monate, manche vier Jahre. Man muss sagen, dass die Asylentscheidungen hier oft willkürlich getroffen wurden.

Bekamen viele von ihnen schließlich einen positiven Asylbescheid?

Glatz Brubakk

Etwa dreiviertel der Geflüchteten aus Moria gelang es, einen positiven Asylbescheid zu erlangen. Das heißt, dass einige von ihnen heute unsere Nachbarn sein könnten. Das Absurde ist, dass wir den Geflüchteten in Moria viele Traumata zugefügt haben, die wir jetzt ausbaden müssen, wenn diese traumatisierten Menschen nach Europa kommen und sich aufgrund ihrer Traumatisierung nicht integrieren können. Wir haben mit unserer Politik in Europa diesen Menschen Schaden zugefügt. Das ergibt auf vielen Ebenen keinen Sinn. Die große Verzweiflung dabei, auf Moria zu arbeiten, ist es, zu wissen, dass die Lebensbedingungen so gewollt waren. Alles wurde mit EU-Geldern finanziert. Wir könnten es anders machen, wenn wir wollten.

Katrin Glatz Brubakk im Einsatz
Katrin Glatz Brubakk vor dem Nasser-Krankenhaus
Katrin Glatz Brubakk bei ihrer Arbeit
Katrin Glatz Brubakk bei ihrer Arbeit.
Vielen Kindern mussten Arme oder Beine amputiert werden.

Zurück zu Gaza. Was müsste passieren, um die Lebensbedingungen der Kinder zu verbessern?

Glatz Brubakk

Waffenstillstand. Das ist das einzige, was hilft. Ich kann so viele psychologische Vitaminpillen verteilen, wie ich will. Das hilft vielleicht für einen kleinen Moment. Aber solange sie jeden Tag mit der Angst leben, sie könnten umgebracht werden, ist meine Arbeit wie ein Tropfen auf einen sehr heißen Stein.

Können einzelne Mitmenschen – etwa hier in Österreich – etwas tun?

Glatz Brubakk

So viel Druck machen, dass es zu einem Waffenstillstand kommt. Und solange wir darauf warten, brauchen Organisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“, „Rotes Kreuz“ oder „Save the Children“ Mittel, um zumindest ein bisschen helfen zu können. Jetzt steht der Winter vor der Tür. Die Menschen in Gaza leben in provisorischen Holzgerüsten, die mit Plastikplanen oder Teppichen überdeckt sind. Viele von den Plastikplanen sind jetzt – nach einem Jahr – zerfetzt. Da regnet es hinein, die Teppiche halten keinen Wind ab. Die Menschen in Gaza müssen jetzt durch den Winter. In diesen Bedingungen.

Sind die Bedingungen diesen Winter schlechter als im vergangenen Jahr?

Glatz Brubakk

Ja, weil alles mittlerweile zerfetzt und abgenutzt ist. Nachts hat es in Gaza im Dezember und Jänner um die zehn Grad. Wenn du dann nur noch einen nassen Teppich hast, um dich einzuwickeln, dann frierst du. Die meisten Kinder, die ich gesehen habe, gehen ohne Schuhe herum. Wir brauchen jetzt dringend Sachspenden für den Winter.

Kommen Sachspenden aus Europa an?

Glatz Brubakk

Sie kommen an, das Problem ist allerdings, sie nach Gaza hinein zu kriegen. Als ich da war, haben wir erst nach drei Monaten Seife bekommen. Die Freude, als es endlich Seife gab, war natürlich riesengroß. Es gibt allerdings viel zu wenig Lastwagen mit Sachspenden.

Was ist der stärkste Eindruck, den Sie aus Gaza mitgenommen haben?

Glatz Brubakk

Gaza ist eine stille Katastrophe. In europäischen Medienberichten hört man immer wieder davon, wie viele Bomben gefallen sind, oder wie viele Menschen gestorben sind. Aber diese stille Katastrophe ist auch, wie es den Personen vor Ort psychisch geht. Es gibt keinen einzigen Menschen in Gaza, der vom Krieg nicht irgendwie betroffen ist. Jeder hat jemanden verloren, jeder musste aus seinem Zuhause flüchten. Absolut alle leben in der Furcht, dass sie das nächste Opfer sein könnten.

Wie gehen Sie als Psychologin selbst mit all diesem Leid um?

Glatz Brubakk

Ich weiß es nicht richtig. Es ist eine Kombination daraus, dass ich es zulasse, an manchen Tagen zu heulen und einfach zu denken, dass alles tragisch und furchtbar ist. Es gibt aber auch einige Lichtblicke: Wenn ich zum Beispiel sehe, dass ein Kind, das monatelang nicht gesprochen hat, durch Therapie, endlich lächelt oder spielt. So etwas miterleben zu dürfen, ist ein Geschenk. Die schönen Momente sind auch da und ich darf sie miterleben.

Inside Moria

Wer ist Katrin Glatz Brubakk?

Die norwegische Kinderpsychologin und Trauma-Expertin ist Teil von „Ärzte ohne Grenzen“ und reist in unterschiedliche Krisengebiete, um mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Die Erfahrungen, die sie in den Jahren 2015 bis 2023 im Camp Moria/ Kara Tepe gemacht hat, hat sie in ihrem Buch „Inside Moria: Europas Verrat an Moral und Menschlichkeit“ beschrieben. 

Natalia Anders

Natalia Anders

ist Teil des Online-Ressorts und für Social Media zuständig.