Gaza: Last Exit Rafah
Von Robert Treichler
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Riham Adwan weiß nicht, ob sie sich in Sicherheit gebracht hat oder in eine tödliche Falle gegangen ist. Die 28-Jährige, ihr Ehemann Mahmoud und ihre drei kleinen Kinder Hanan (6), Tawfiq (4) und Ayan (1) sind eine von Hunderttausenden palästinensischen Familien, die nach Rafah geflohen sind, in die südlichste Stadt des Gazastreifens und die letzte, die bisher nicht Ziel einer Bodenoffensive war. Insgesamt leben rund 1,4 Millionen Menschen hier, die meisten sind Kriegsvertriebene wie Familie Adwan. „Ich hoffe, dass wir eines Tages aus diesem Alptraum erwachen, bevor wir hier in Rafah sterben“, schreibt Riham. Ihre Angst ist begründet.
Wird Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Israelischen Streitkräfte (IDF) anweisen, Rafah anzugreifen, um die letzten Hamas-Truppen zu zerstören? Niemand weiß es, nicht einmal US-Präsident Joe Biden. Riham Adwan geht diese Frage jeden Abend beim Einschlafen durch den Kopf, und wenn sie aufwacht, ist sie froh, wenn kein Gefechtslärm zu hören ist. Dann weiß sie, dass der Angriff noch nicht begonnen hat. Doch ihre Tochter Hanan hat Halluzinationen und kann nachts nicht schlafen, und der vierjährige Tawfiq ruft immer: „Gott beschütze uns, ich will nicht sterben!“
Riham Adwan ist die Schwägerin von Wajiha Al-Abyad, über die profil seit Beginn des Krieges in Gaza mehrmals berichtet hat. Doch während Al-Abyad den Gazastreifen im Dezember des vergangenen Jahres mit ihren Kindern verlassen konnte („Der Weg nach draußen“, profil Nr. 3, 2024), sitzt Riham mit ihrer Familie in Rafah fest. Sie sendet Nachrichten über den Kurznachrichtendienst WhatsApp an profil. In den vergangenen Tagen hätten Bombardements durch Kampfhubschrauber der IDF in Rafah zugenommen, berichtet Riham. Die Nachrichtenagentur AFP meldet Mittwoch früh, dass in der Nacht eine heftige Explosion den Himmel über Rafah erleuchtet habe. Weil die USA eine Resolution des UN-Sicherheitsrates, die einen Waffenstillstand fordert, nicht verhindert haben, sagte Ministerpräsident Netanjahu das Treffen einer israelischen Delegation in Washington ab. US-Präsident Biden hatte die Zusammenkunft verlangt, um über Alternativpläne zu einer israelischen Bodenoffensive zu reden. Unter den Bewohnern von Rafah kursieren Gerüchte. Der Angriff könnte beginnen, wenn am 9. April der muslimische Fastenmonat Ramadan endet. Alte, Frauen und Kinder müssten dann in den völlig zerstörten Norden des Gazastreifens zurückkehren, heißt es.
„Gott beschütze uns, ich will nicht sterben!“
In den Ohren von Riham klingt das wie eine böse Drohung. Seit Kriegsausbruch ist ihr Alltag zu einem Kampf ums Überleben geworden, und manche aus ihrer Familie haben diesen Kampf bereits verloren. Der 7. Oktober hätte für die junge Familie ein Freudentag werden sollen. Riham hatte eine Torte für ihren Sohn Tawfiq gebacken, der zwei Tage zuvor seinen vierten Geburtstag hatte, an jenem Samstag sollte die Feier stattfinden. Doch dann verübte die Hamas den opferreichsten Terrorangriff der israelischen Geschichte, und der Krieg kam nach Gaza.
Rihams Familie wohnte in Gaza-Stadt, sehr zentral in einem Hochhaus im Stadtteil „Victory“. Riham arbeitete als Content-Autorin für ein Unternehmen in der Türkei, ihr Mann Mahmoud baute in Gaza ein Textilunternehmen auf. „Ich war glücklich“, schreibt Riham. Dann erzitterte das Gebäude unter den Artillerieangriffen, der Krach war ohrenbetäubend, und am 10. Oktober erreichte sie die Nachricht der IDF, Gaza-Stadt müsse evakuiert werden. Rihams Eltern leben etwas weiter im Norden des Gazastreifens. Ihr Haus wurde von Granaten getroffen, die Mutter verletzt, die Finger einer Hand abgetrennt. Rihams Großeltern leben ebenfalls im Norden, sie weigerten sich, vertrieben zu werden, und blieben. Nach Monaten des Krieges gab es dort nichts mehr, keine Lebensmittel und keine Medikamente. Riham bekam die Nachricht, ihre Großeltern seien gestorben. Ein Onkel begrub sie hinter dem Haus.
Krieg und Vertreibung ist in palästinensischen Familiengeschichten allgegenwärtig. Rihams Urgroßmutter lebt noch, sie ist 93 und hat die „Nakba“, die Vertreibung der Palästinenser rund um die Staatsgründung Israels im Jahr 1948, selbst miterlebt. Auch sie harrt im Norden aus. Der Vater ihres Ehemanns Mahmoud wurde beim Krieg im Jahr 2008 getötet. Ein israelischer Kampfhubschrauber nahm das Hochhaus, in dem die Familie wohnte, ins Visier, der Vater, er war 60 Jahre alt, starb vor den Augen seiner beiden Söhne. Sie waren damals zwölf und 14. Anders als ihre Eltern und Großeltern flohen Riham und ihre Familie im Oktober aus Gaza-Stadt, erst zum Haus eines Onkels ihres Mannes, später weiter nach Khan Junis, eine Stadt, die von den Israelis als sicher bezeichnet wurde. Doch der Krieg breitete sich aus.
Als Rihams Bruder Anas in Khan Junis Wasser holt, wird neben ihm ein Haus von einer Rakete getroffen. Sein Bein ist gebrochen, die nötige Operation kann in Gaza derzeit nicht durchgeführt werden, er kann nicht mehr gehen.
In Khan Junis ist das Leben bereits sehr hart. 30 Personen wohnen in einem Haus mit fünf Zimmern und einer Toilette. Die Mütter stehen von vier Uhr früh bis Mittag vor den Essensausgaben um Brot an, manchmal bekommen sie keines. Als der Krieg Khan Junis erreicht, schickt Israel Nachrichten an die Palästinenser: „Khan Junis wird als Kampfgebiet betrachtet. Geht nach Rafah, in das Gebiet von Tal al-Sultan!“ Die Familie packt wieder ihre Sachen und zieht erst in ein Zelt voll mit Insekten und schließlich weiter nach Rafah.
Hier drängen sich 38 Frauen und Kinder in einem Haus aneinander, die Männer müssen anderswo Unterschlupf finden. Im Gebäude nebenan wohnt ein Verkehrspolizist. Polizeibeamte werden von den Israelis als Mitglieder der Terrororganisation Hamas betrachtet, deshalb rechnen alle damit, dass sein Haus unter Beschuss genommen wird. Tatsächlich wird es eines Tages von einer Bombe getroffen, zum Glück bleibt das Haus, in dem Riham und die Kinder sind, unbeschädigt. Die Angst der Kinder wächst.
In Rafah ist die Versorgungslage bedrohlich. Riham registriert sich und ihre Familie bei einer der Verteilungsstellen der UN-Hilfsorganisation UNRWA. Diese steht im Zentrum eines Skandals, weil zwölf ihrer Mitarbeiter an dem Terrorangriff des 7. Oktober beteiligt waren. Mehrere Staaten, darunter Österreich, stellen ihre Zahlungen ein. Riham erhält an drei Tagen pro Woche Essensrationen von der UNRWA. Am Sonntag zwei Dosen Bohnen, am Dienstag eine Dose Thunfisch und eine Dose Bohnen, am Donnerstag zwei Eier. Das reicht natürlich nicht, schreibt sie, sie alle hätten an Gewicht verloren, doch sie sei froh, wenigstens das zu erhalten. Im Haus legen die Frauen alles zusammen und bereiten für alle gemeinsam das Essen zu.
Der Mangel an Trinkwasser ist ein noch größeres Problem. Das Wasser an den Füllstationen ist verunreinigt, Riham und die Kinder sind oft krank.
Hisham Mhanna ist Palästinenser und arbeitet seit 2019 für das Internationale Rote Kreuz in Gaza. Er sagt gegenüber profil, dass jeder in Rafah drei Liter Wasser pro Tag bekomme, doch davon seien zwei nicht trinkbar. Dies und die fehlende Gesundheitsversorgung schafften perfekte Bedingungen für übertragbare Krankheiten und Krankheiten des Verdauungsapparates. Im Norden sei es noch schlimmer, von dort gebe es Berichte, dass Kinder verhungert seien. Die jüngsten Initiativen, Hilfspakete aus der Luft oder über den Seeweg nach Gaza zu schaffen, seien zwar hilfreich, aber sie könnten die Lieferungen durch Lastwagen mengenmäßig nicht ersetzen. Die Lage sei noch nie so schlimm gewesen, seit das Rote Kreuz in den besetzten Gebieten tätig sei, sagt Mhanna, also seit 1967.
Abeer Etefa, Sprecherin des Word Food Programme (WFP), sieht eine Hungersnot näherrücken. „Wir brauchen einen sicheren Weg“, sagt sie, und die Voraussetzung dafür sei ein Waffenstillstand. Auch das WFP erreiche die Menschen in Nordgaza derzeit nicht.
Riham und all die anderen Vertriebenen haben richtig gehandelt, als sie nach Rafah flüchteten. Überall sonst ist es noch schlimmer. Am Dienstag der abgelaufenen Woche schreibt sie: „Ich muss etwas erzählen! Nach 171 Tagen Krieg haben wir heute zum ersten Mal Hühnchen gegessen!“
Die Angst vor einer Offensive in Rafah kann auch das nicht lindern. Am Mittwoch wird bekannt, dass Netanjahu nun doch ein Treffen einer israelischen Delegation mit der Biden-Administration vereinbaren will. Ist das ein Zeichen dafür, dass er einlenkt und bereit ist, auf die Offensive in Rafah zu verzichten? Oder will er im Gegenteil versuchen, grünes Licht aus Washington zu bekommen?
Riham schickt ein Video, auf dem ihre Tochter Hanan zu sehen ist. Sie weint und ist nicht zu beruhigen. Rimah schreibt, sie habe alles verloren, ihre Wohnung, ihre Arbeit, ihre Großeltern. Und was kommt nach Rafah?
Robert Treichler
Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur