Am Parkplatz des Nova-Festival wurden Autos der getöteten Festival-Besucher:innen und Geiseln hinterlassen.
Nahost

„Diese Wunde wird nie zugehen“

Heute jährt sich der Hamas-Angriff auf Israel. Philipp Brokes war bei seiner jährlichen Israelreise am 7. Oktober 2023 im Land – und kehrte zum Gedenktag an die Orte des Terrors zurück. Protokoll einer Gedenk-Reise.

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„Vor einem Jahr war ich am 6. Oktober in Jerusalem. Es war ein Freitagabend. Zu Schabbat hat üblicherweise immer alles geschlossen. Dieses Mal sah ich Leute draußen sitzen und Bier trinken. Niemand regte sich auf. Innerlich war ich euphorisch. Es hatte was Progressives an sich.

Ich trank mein Bier aus und wurde am nächsten Morgen vom Raketenalarm aufgeweckt. Normalerweise wird Jerusalem nie angegriffen und da wusste ich: Diesmal ist etwas anders. Sofort öffnete ich Twitter und las die Nachrichten. Ich fuhr mit einem Taxi nach Tel Aviv. Ein Wind des Entsetzens wehte durch die Straßen – Tel Aviv, die Stadt, in der normalerweise immer etwas los ist, war komplett still. Alles war zu, kaum Menschen auf den Straßen zu sehen, alles war fürchterlich anders. Das Einzige, was man hörte, war der wiederkehrende Raketenalarm. Einige Tage später reiste ich ab.

Dieser Tag hat mich sehr geprägt und das ganze Jahr beschäftigt. Ich beschloss, dieses Jahr wieder zu dieser Zeit nach Israel zu fliegen. Ich wollte die Orte sehen, die am 7. Oktober angegriffen worden waren.

Bedrückend stilles Gedenken

Ich habe letzte Nacht in einem Kibbuz an der Grenze zum Gazastreifen verbracht. In der Gegend, aus der vor einem Jahr viele Geiseln verschleppt worden sind. Viele Menschen in dieser Region leben nach wie vor in Hotels, die Kinder sind seit einem Jahr im Homeschooling. Heute habe ich das Nova Festivalgelände besucht, auf dem vor einem Jahr 370 Menschen ermordet worden sind. Ich bin über den großen Parkplatz gegangen, wo die ganzen Autos von letztem Jahr noch stehen.

Die Autos am Parkplatz sind mit Schusslöcher übersät. Fotos von den Todesopfern und von Geiseln, die immer noch nicht zurückgekehrt sind, hängen auf dem ganzen Gelände. Vor ihnen stehen Verwandte, nahestehende Personen und uniformierte Soldaten. Sie weinen. Es ist so bedrückend und herzzerreißend.

Um 6:25 Uhr begann die Gedenkfeier heute Morgen am Nova-Festival. Die letzten Klänge der Musik wurden durch Lautsprecher gespielt, um 6:29 Uhr wurde die Schweigeminute für die Opfer abgehalten. Da wurde jenes Lied zu Ende gespielt, das vor einem Jahr so jäh unterbrochen worden war durch den Angriff. Um 6:31 begannen Raketen aus Gaza in der Nähe des Geländes einzuschlagen.

Normalerweise, wenn eine Rakete einschlägt, dann schaut man nach oben oder an den Ort, an dem sie detoniert ist. Aber die trauernden Menschen auf dem Nova-Gelände ließen sich in diesem Moment ihr Gedenken nicht nehmen. Sie blickten nicht auf. Sie hielten die Hände der Angehörigen, umarmten sich. Es gab hier kein Gefühl von Wut, von Rache oder Ärger, sondern es herrschte überwiegende Trauer. Man sieht, wie tief verwundet die Menschen sind.

Wenn ich mir anschaue, wie die israelischen Städte heute aussehen, in denen überall Bilder der Geiseln oder Opfern hängen, merkt man, dass der Tag sich eingebrannt und den Alltag verändert hat. In dem Cafe zum Beispiel, in dem zwei Mitarbeiter getötet wurden. Sie sind dort in Lebensgröße auf Fotos zugegen. Schweigend. Darunter die Bons ihrer letzten Bestellungen.

Der Angriff des 7. Oktober war ein Stich mitten ins Herz. Davor gab es dieses Vertrauen in die Abwehrsysteme und in den Grenzschutz. Dieses Sicherheitsgefühl ist weg. Daran ändern auch die verstärkten Sicherheitsvorkehrungen, die Schlösser an den Bunkern, die Betonblöcke vor Kibbuz-Eingängen und die neue Grenzmauer im Norden nichts. 

Die Verunsicherung bleibt. Und das wird sie noch länger. Vielleicht wird sich das Land von diesem Angriff des 7. Oktober nie vollständig erholen. Diese Wunde wird nie zugehen.“

Protokoll: Celeste Ilkanaev