Aktuelles zum Krieg in der Ukraine: Chaostage im Kriegsnebel
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RUSSLAND
Das Problem namens Jewgenij Prigoschin
Noch vor drei Wochen wollte er die militärische Führung des Kremls entmachten und marschierte mit seinen Soldaten Richtung Moskau, nun kann er sich offenbar frei im Land bewegen: Was hat Jewgenij Prigoschin vor – und wie mächtig ist der Anführer der Wagner-Gruppe wirklich?
Am 24. Juni war Prigoschin mit seinen Soldaten, die bisher aufseiten Moskaus in der Ukraine kämpften, in die russische Stadt Rostow eingefallen und hatte ein wichtiges Militär-Hauptquartier besetzt.
Danach waren sie Richtung Moskau marschiert – um dann rasch wieder umzukehren. Wladimir Putins Ankündigung, „die Verräter“ hart zu bestrafen, erfüllte er dann doch nicht. Stattdessen vereinbarte er einen Deal mit dem Wagner-Chef: Prigoschin solle mit seinen Leuten nach Belarus ziehen, dafür würden sie nicht strafrechtlich verfolgt. Doch der Kompromiss wurde nie umgesetzt. Wie sich vergangene Woche herausstellte, traf sich Putin bereits fünf Tage nach der bewaffneten Meuterei der Wagner-Gruppe mit Prigoschin und seinen Top-Militärführern. „Das Treffen war der Versuch herauszufinden, wie man mit Wagner weitermachen kann“, sagt Russland-Experte Gerhard Mangott. Putin kann es sich nicht leisten, Prigoschins Kämpfer zu verlieren: Die Wagner-Gruppe ist nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Afrika und im Nahen Osten der verlängerte Arm Moskaus.
Wie mächtig ist der Wagner-Chef also wirklich?
„Putin hat sich mit Prigoschin und seinen Leuten an den Tisch gesetzt. Das ist ein Zeichen von Schwäche und war eine Demütigung für Putin“, sagt Mangott. Prigoschins Stärke ist die Truppe, die er anführt – mindestens 25.000 Mann stehen unter seinem Kommando. Immer wieder ist auch davon die Rede, dass der Wagner-Chef noch etwas anderes in der Hand haben könnte, mit dem er Putin unter Druck setzt.
Der Ausgang der Meuterei ist immer noch offen, klar ist nur ihr erklärtes Ziel, nämlich die Absetzung der militärischen Führung in Moskau. Prigoschin trommelt seit Monaten für eine Auslieferung von Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow und hat sogar angekündigt, die beiden erschießen zu lassen.
Putins Kriegsherren
Schoigu und Gerassimow sind seit elf Jahren Putins wichtigste Männer im militärischen Kampf gegen Moskaus vermeintliche Gegner. In Moskau kursieren Gerüchte, Putin sei unzufrieden mit dem Kriegsverlauf in der Ukraine und mache die beiden dafür verantwortlich. „Jetzt aber kann er weder Schoigu noch Gerassimow entlassen“, sagt Mangott, „das würde aussehen, als ob Prigoschin Putins Personalpolitik diktiert.“
Schoigu und Gerassimow sind noch da, ob sie bleiben, wird vom Erfolg der ukrainischen Gegenoffensive abhängen. Aber wo ist General Sergei Surowikin? Am Abend der Revolte wandte sich der russische
Vize-Generalstabschef an die Wagner-Truppen und forderte sie auf, die Meuterei zu stoppen. Danach verliert sich seine Spur.
Wurde Surowikin die Nähe zu Prigoschin, mit dem er eng zusammenarbeitete, zum Verhängnis? Befindet sich der Vize-Generalstabschef in Hausarrest oder wurde er gar getötet? Das kann auch Experte Mangott nicht sagen, nur so viel: „Es kann sein, dass er zum Opfer der Meuterei wurde. Angeblich war er in die Pläne Prigoschins eingeweiht und hat nichts dagegen unternommen.“ In den Augen Putins wäre damit auch Surowikin ein Verräter. Der Vize-Generalstabschef ist, im Gegensatz zu Prigoschin, nicht durch Zehntausende Soldaten geschützt – und damit leichter loszuwerden.
Die Krux mit der Kampfmoral
Immer wieder heißt es in westlichen Medien, Russland würde in der Ukraine die Munition ausgehen. Meldungen über einen vermeintlichen Mangel an Marschflugkörpern gab es bereits vor einem Jahr. Zwar setzt Moskau in der Ukraine alles ein, was zur Verfügung steht – von ballistischen Lenkwaffen über Marschflugkörper bis hin zu Drohnen – und hat viele seiner modern ausgestatteten Panzer verloren. Doch gibt es keine Hinweise darauf, dass Putins Truppen das Material ausgehen könnte.
Aus der Sicht Moskaus ist das weit größere Problem die niedrige Kampfmoral der eigenen Truppen. „Viele der Kommandeure von Einheiten sind schlecht geschult, inkompetent und geringschätzig gegenüber den Soldaten“, sagt Mangott. Die Unzufriedenheit ist groß, das schwächt Putin und die Position Russlands.
Auch das, sagt Mangott, könnte eine Folge der Meuterei sein: „Die einfachen Soldaten haben den Eindruck, dass ihre Kommandeure unfähig sind und Leute in den Fleischwolf schicken.“ Prigoschin habe das stets angesprochen und bei den Soldaten Putins Sympathien geweckt. „Dass er gescheitert ist, hat die Kampfmoral der Truppen nicht erhöht.“
Zum Problem wird Putin auch, dass die Soldaten der Wagner-Truppe sich nach Russland und ins russisch besetzte Luhansk zurückgezogen haben – und nun bei der Gegenoffensive der Ukraine fehlen.
Die Schwächen Putins
Wie hat all das Putin geschadet?
Laut dem russischen Meinungsforschungsinstitut „Lewada-Zentrum“ wollen 68 Prozent der Befragten, dass Putin nach den Wahlen im kommenden Jahr Präsident bleibt.
„In der Meinung der Mehrheit der Bevölkerung hat Putin keinen Schaden davongetragen“, sagt Mangott. In den staatlichen Medien wird Putin nach wie vor als Macher dargestellt, der die Kontrolle zu keinem Zeitpunkt verloren hat. Anders sieht es mit seinem Standing in der Führungselite aus. „Dort ist Putin geschwächt“, sagt Mangott, „das Treffen mit der Wagner-Gruppe am 29. Juni ist ein Beleg dafür.“ Das Fazit des Experten: Putin ist angeschlagen, aber nicht angezählt; seine Macht ist nicht unmittelbar gefährdet, aber die Kontrolle ist nicht mehr so umfassend.
Die Angelegenheit mit Prigoschin hat zu einem Streit in der Führungsriege geführt. Unter anderen Umständen hätte Putin den Wagner-Chef wohl entfernt, doch das war offenbar unmöglich. Innerhalb des Militärgeheimdienstes GU scheint es Kräfte zu geben, die ihre schützende Hand über Prigoschin halten. Doch in der politischen und militärischen Elite ist der Wagner-Chef nicht mehrheitsfähig; niemand von Rang und Namen hat sich öffentlich hinter ihn gestellt. Allerdings hat sich auch fast niemand öffentlich hinter Putin gestellt – und das ist durchaus bemerkenswert.
Könnte einem anderen gelingen, woran Prigoschin gescheitert ist?
„Gut möglich, dass jemand anderer mehrheitsfähig ist“, sagt Mangott. Nur hat außer Prigoschin niemand 25.000 Soldaten hinter sich. Um Putin zu ersetzen, müsste es erst passende Umstände geben: eine Niederlage in der Ukraine etwa – mit dem Verlust der Krim. Einmal mehr wird klar: Putins politisches Überleben ist unauflösbar an die (erfolgreiche) Unterwerfung des Nachbarlandes geknüpft.
UKRAINE
NATO-Beitritt: Ja, später
Als Wolodymyr Selenskyj den NATO-Staaten ausrichtete, was er von ihrer Entscheidung hält, hatte der NATO-Gipfel in Vilnius noch nicht einmal begonnen. Es sei „absurd“, dass es keinen Zeitplan für einen Beitritt seines Landes gebe, twitterte der ukrainische Präsident vor seiner Abreise nach Litauen, und: „Unschlüssigkeit ist eine Schwäche.“
Kyiv will seit vielen Jahren Mitglied im Militärbündnis werden – und wurde stets vertröstet. Mit dem Angriff Russlands ist ein Beitritt der Ukraine noch riskanter geworden. Immerhin wäre die NATO dann offiziell im Krieg mit der Atommacht Russland. Die Beistandsklausel schreibt vor, dass die NATO einem angegriffenen Mitglied zu Hilfe kommen muss.
Und so gaben die NATO-Staaten der Ukraine beim Gipfel in Vilnius lediglich eine Beitrittsperspektive. Das war die gute Nachricht für Selenskyj: Die Ukraine wird der NATO betreten dürfen. Die schlechte: irgendwann; jedenfalls nicht vor Kriegsende.
Abgesehen davon müsse die Ukraine weitere Reformen bei demokratischen Standards und in der Sicherheitsstruktur zu Ende bringen, heißt es im Abschlussdokument. Selenskyjs Hoffnungen, einen konkreten Zeitplan für die Mitgliedschaft zu bekommen, hat sich nicht erfüllt. „Die NATO braucht uns, wie auch wir die NATO brauchen“, gab sich der ukrainische Präsident bei der Pressekonferenz mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg dennoch moderat.
Der Wandel in Selenskyjs Rhetorik liegt wohl auch daran, dass die G7-Staaten am Rande des Gipfels immerhin ein Abkommen zur langfristigen Unterstützung der Ukraine unterzeichnet haben. Dazu gehören garantierte Waffenlieferungen in den kommenden Jahren, damit sich die Ukraine künftig selbst verteidigen kann. Auch auf Ebene der Nachrichtendienste wollen die wichtigsten Industrienationen mit Kyiv kooperieren.
Mit ihrem Zögern hat die NATO eine historische Chance verpasst, dem russischen Imperialismus etwas entgegenzusetzen, sagen die einen, allen voran die Ukraine, aber auch Balten und Polen. Das Militärbündnis kann ein Land im Krieg unmöglich als Mitglied aufnehmen, meinen die anderen, darunter Deutschland und die USA.
Auf lange Sicht werden vage Versprechen Selenskyj nicht reichen. Im Moment aber muss sich der ukrainische Präsident damit zufriedengeben. Daheim in der Ukraine gilt für ihn nun, Erfolge bei der Gegenoffensive vorzuweisen.
Nummernspiel Gegenoffensive
Die Gegenoffensive der Ukraine war von Anfang an mit großen Hoffnungen verknüpft, die Erwartungshaltung groß. Doch sie schreitet nicht so schnell voran wie gewünscht, das hat auch Selenskyj angemerkt: „Trotzdem ziehen wir uns nicht zurück, wie es die Russen tun.“ Ein großer Durchbruch wie im September des Vorjahres in Charkiw, wo ukrainische Soldaten die Stellungen des Gegners durchbrachen und die russischen Truppen panisch ihre Positionen verließen, ist bisher nicht gelungen.
Es gibt eine Faustregel im Krieg: Der Angreifer verliert mehr Soldaten und Material und hat auch mehr Verwundete zu verzeichnen. Bisher hat sich die Ukraine verteidigt, jetzt greift sie an – und Russland ist in der einfacheren Position. Die Verluste aufseiten der Ukraine dürften entsprechend hoch sein. Manche Experten meinen gar, dass sie für eine Gegenoffensive nicht die nötige Truppenstärke hat.
Hinzu kommt, dass Russland in der Luft überlegen ist und die Ukraine nicht ausreichend Flugabwehrsysteme hat, um den Luftraum flächendeckend zu schützen. Auf dem Boden haben die russischen Truppen Minen verlegt. Um zu den gegnerischen Stellungen vorzudringen, müssen die ukrainischen Soldaten erst eine Bresche durch den Minenkorridor schlagen.
Es ist zu früh, um zu sagen, ob die Gegenoffensive gescheitert ist oder Erfolg hat.
Wie die Gegenoffensive im Detail läuft, ist schwer zu beurteilen.
Kyiv hat dazu eine Nachrichtensperre verhängt – und bei russischen Quellen ist Vorsicht angebracht. „Es ist zu früh, um zu sagen, ob die Gegenoffensive gescheitert ist oder Erfolg hat“, sagt Militärexperte Franz-Stefan Gady, „es geht jedenfalls langsamer und verlustreicher voran, als die Optimisten gehofft hatten.“ Vergangene Woche war Gady im Süden der Ukraine an der Front unterwegs und hat mit Soldaten gesprochen. Sie rechnen damit, dass die Offensive jedenfalls bis in den Herbst oder Spätherbst weitergeht.
Im Moment kämpfen sich die Ukrainer mithilfe bodengestützter Artillerie durch die russischen Verteidigungsstellungen. Experten bezeichnen dieses Vorgehen als „Abnützungsstrategie“: Man versucht, dem Gegner mehr Verluste zuzufügen, als man selbst verzeichnet. Gady: „Es ist ein Nummernspiel.“
Vor diesem Hintergrund wird auch klar, warum die Ukraine auf die Lieferung von international geächteter Streumunition pochte. Damit kauft sich Kyiv Zeit. Die USA, schätzt Gady, werden in den kommenden Wochen etwa 140.000 bis 200.000 zusätzliche Schuss liefern – und die Ukraine kann damit ihre Gegenoffensive verlängern.
Gefahr aus der Luft: (Streu-)Munition, Drohnen
Militärisch birgt Streumunition zweifellos Vorteile. Sie kann von Flugzeugen abgeworfen oder mit Raketen oder Artillerie verschossen werden. In der Luft öffnet sich der Sprengkopf und setzt viele kleine Sprengsätze frei, sogenannte Bomblets, die über ein größeres Gebiet verteilt werden und kurz vor dem Aufprall
explodieren. Das Problem: Als Blindgänger können diese kleinen Bomben viele Jahre im Boden bleiben und die Zivilbevölkerung noch lange gefährden. Deshalb haben mehr als 100 Länder ein Verbot von Streumunition unterzeichnet. Russland, aber auch die Ukraine und die USA, gehören nicht dazu.
Und so wird Streumunition seit Kriegsbeginn von beiden Seiten eingesetzt. Weil der Ukraine die Munition aus sowjetischen Beständen ausgegangen ist, sollen die russischen Stellungen nun mithilfe der Lieferungen aus den USA aufgebrochen werden.
„Das wird vielen ukrainischen Soldaten das Leben retten“, sagt dazu Militärexperte Gady. Entscheidend ist die Streumunition jedoch nicht: „Es gibt keine einzige Waffenart, die den Krieg entscheiden kann. Ausschlaggebend sind die Moral, die Zahl der Systeme und die Fähigkeit zum Kampf der verbundenen Waffen.“
Kriegsentscheidend sind zwar auch die Drohnen nicht. Doch steigt der Druck auf die Ukraine mit jedem einzelnen dieser ferngesteuerten Flugobjekte, die russische Truppen aufsteigen lassen. Die ukrainische Armee nutzt Drohnen seit Kriegsbeginn – und auch Moskau hat das Potenzial der Flieger erkannt.
Russland ging mit rund 2000 Drohnen in den Krieg, hat seither massiv aufgerüstet und nutzt iranische Kamikaze-Drohnen, um die ukrainische Zivilbevölkerung zu terrorisieren und um Panzer und Verbände anzugreifen. Drohnen sind günstig, einfach zu bedienen und vielseitig einsetzbar. Für die zivile Nutzung gedachte Modelle liefern Aufklärung und können für wenig Geld umgebaut oder mit Sprengkörpern versehen werden.
Um sich gegen die russischen Angriffe zu wehren und um selbst effektiver angreifen zu können, braucht die Ukraine mehr eigene Drohnen und mehr Flugabwehrsysteme, sagt Gady. Ulf Steindl vom Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik (AIES) ergänzt: „Die iranischen Drohnen kosten Russland 10.000 bis 50.000 Dollar pro Stück, die Ukraine schießt sie mit teils sehr teuren Flugabwehrraketen ab.“ Damit sind die Kosten für Moskau geringer als für Kyiv – und die russischen Drohnen tragen maßgeblich dazu bei, dass die Munitionsbestände der Ukraine geleert werden.
Desinformation: Falsche Bilder von der Front
Im Angriff Russlands auf die Ukraine ist der Nebel des Krieges besonders dicht. Was wirklich auf dem Gefechtsfeld geschieht, ist schwer zu eruieren, sicher ist nur: Alles, was von der Front an die Öffentlichkeit gelangt, dient einem bestimmten Zweck. Ob das Gezeigte den Tatsachen entspricht oder diese übertreibt oder gar verdreht, ist häufig auch für Medien schwer zu beurteilen. Russischen Angaben zu trauen, empfiehlt sich jedenfalls nicht. Zuletzt machte etwa die Meldung eines zerstörten ukrainischen Leopard-Kampfpanzers die Runde. Am Ende stellte sich heraus: Das kaputte Gerät auf den unscharfen Bildern war kein Panzer, sondern ein Traktor.
In der Verbreitung von Fake News geht es Russland um weit mehr als ein paar gefälschte Bilder oder darum, seine eigene Sicht auf den Krieg zu verbreiten. „Mit seinen Desinformationskampagnen im Westen will Moskau die Solidarität der Bevölkerung – und in Folge auch der Regierungen – mit der Ukraine brechen“, sagt Steindl. Das Narrativ: Die Ukraine ist schwach und damit nicht unterstützenswert, die Regierung in Kyiv ist korrupt; nicht Russland, sondern die NATO hat den Krieg begonnen.
Offenbar rechnet auch Moskau nicht mit einem raschen Ende des Krieges. Mit steter Desinformation, so das Kalkül, soll die Unterstützung für die Ukraine schleichend schwinden.