Lubyanka FSB Moskau
Krieg in der Ukraine

Geheimdienste im Ukraine-Krieg: Die Stunde der Agenten

Selten standen Nachrichtendienste so im Rampenlicht wie beim Angriff Russlands auf die Ukraine.

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Der Morgen des 27. Dezember 1979. Am Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul landeten sowjetische Truppen, gleichzeitig wurde die politische Führung vergiftet. Ein Agent des KGB war als Koch getarnt in den Präsidentenpalast geschmuggelt worden. Nun fügte er dem Frühstück der Politiker Schlafmittel hinzu.

Es war der Beginn der sowjetischen Invasion Afghanistans, die zehn Jahre dauern und Hunderttausende Todesopfer fordern sollte. Eine Spezialeinheit des russischen Militärgeheimdienstes tötete Präsident Hafizullah Amin noch am selben Tag. 

Zuvor hatten Agenten des KGB seinen Palast ausgespäht – und wichtige Hinweise für den späteren Überraschungsangriff geliefert.

So oder so ähnlich hätte es wohl auch beim Angriff auf die Ukraine laufen sollen. „Das Vorgehen Moskaus beginnt meist mit dem Versuch, das Zentrum der Macht auszuschalten“, sagt Thomas Riegler. Der Wiener Historiker und Geheimdienstexperte weist darauf hin, dass die Sowjets auch in Prag 1968 die wichtigsten Regierungsstellen besetzten, lange bevor die Panzer kamen.

Ähnliche Vorbereitungen hat es auch in der Ukraine gegeben. Während Russlands Präsident Wladimir Putin seine Truppen an den Grenzen in Formation brachte, sickerten russische Agenten ins Land ein. Sie sollten die ukrainische Führung lokalisieren, Sabotageakte durchführen und strategisch wichtige Punkte besetzen, um den Invasionstruppen einen schnellen Vorstoß nach Kiew zu ermöglichen und alles für den „Enthauptungsschlag“ vorzubereiten: die rasche Gefangennahme oder Ermordung von Präsident Wolodymyr Selenskyj und die Ausschaltung seiner Regierung. Laut einem Bericht des britischen Forschungsinstituts Royal United Services Institute (RUSI) wurden dafür rund 200 Agenten des KGB-Nachfolgers FSB in der Ukraine abgestellt.

„Der ukrainische Sicherheitsapparat war aber schon zuvor infiltriert von russischen Agenten“, sagt Nathalie Vogel von der Prager Denkfabrik „European Values Center for Security Policy“. Das sei schon lange eine Herausforderung für die Regierung gewesen. „Es gab Schläfer, die jetzt wieder zum Einsatz kamen.“

Zu ihren Aufgaben gehörte offenbar auch, wichtige strategische Ziele zu markieren. Kurz nach dem Einmarsch der russischen Truppen rief Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko die Bevölkerung auf, die Polizei über Markierungen auf den Dächern von Hochhäusern und anderen Gebäuden, auf Straßen und Grünanlagen zu informieren. „Die geheimdienstliche Aufklärungsarbeit der Russen diente zur Ausforschung von wichtigen politischen Akteuren und von Zielen für Bombenangriffe“, sagt Riegler. Für Moskau wäre es ein Propaganda-Coup gewesen, Selenskyj wenige Stunden oder Tage nach Beginn der Invasion in Handschellen oder gar tot vorzuführen.

„Das Vorgehen Moskaus beginnt meist mit dem Versuch, das Zentrum der Macht auszuschalten.“

Thomas Riegler, Geheimdienstexperte

Doch dazu kam es nicht. Der Widerstand der ukrainischen Soldaten und der Zivilbevölkerung dürfte Putins Truppen überrascht haben, auch der Vorstoß auf einen wichtigen Flughafen westlich von Kiew scheiterte. „Die Chance für einen Handstreich gleich in der Anfangsphase der Invasion, als die ukrainische Verteidigung noch improvisiert war, war damit vertan“, sagt Riegler. Die russischen Geheimdienste hatten sich verkalkuliert.

Anders die Amerikaner.

CIA-Chef William Burns machte sich schon Anfang des Jahres auf, um die Verbündeten der USA zu warnen. Im Jänner traf er Selenskyj in Kiew, danach reiste er zu Bundeskanzler Olaf Scholz nach Berlin. Putin plane einen Angriff auf die Ukraine, berichtete Burns seinen europäischen Partnern. Die Vorbereitungen dafür seien so gut wie abgeschlossen.

Die Nachrichtendienste der USA haben Putins Angriff nahezu auf den Tag genau vorhergesagt. Immer wieder legten US-Präsident Joe Biden und Außenminister Antony Blinken ihre Erkenntnisse vor laufenden Kameras offen, gleichzeitig konnte die ganze Welt in Echtzeit dabei zusehen, wie die Truppenstärke an den Grenzen zur Ukraine zunahm. Es war eine ungewöhnliche Informationsoffensive, der kaum jemand Glauben schenkte. Selbst ausgewiesene Experten waren bis zuletzt der Überzeugung, dass Putin nicht so weit gehen würde, das ganze Land einschließlich der Hauptstadt Kiew anzugreifen. Die wirtschaftlichen und politischen Kosten dafür wären schlicht zu hoch, sagte auch der österreichische Russland-Experte Gerhard Mangott im Interview mit profil – und entschuldigte sich später auf Twitter für diese Fehleinschätzung.

Doch damit war er nicht allein. So erhielt profil noch zwei Tage vor dem Überfall Putins auf die Ukraine Informationen aus Kreisen des britischen und deutschen Geheimdienstes. Demnach würde sich der russische Präsident zwar nicht mit Teilen der selbst ernannten Volksrepubliken zufrieden geben, sondern diese zur Gänze besetzen. Aber mit flächendeckenden Luftschlägen und einem Eroberungsfeldzug auch gegen Kiew und Charkow hatte beim MI6 wie beim BND niemand gerechnet. Wie blind Europa für den Tabubruch Putins war, zeigte sich auch am 24. Februar. Als die Invasion begann, war ausgerechnet der Chef des deutschen Bundesnachrichtendienstes (BND) für Gespräche in Kiew. In einer aufwendigen Aktion musste Bruno Kahl über den Landweg aus der Ukraine in Sicherheit gebracht werden.

Der Europäische Auswärtige Dienst, meint Vogel, habe die Warnungen der USA zuletzt für Alarmismus gehalten. „Man kann schon einmal danebenliegen“, sagt die Expertin für Nachrichtendienste, „aber so dermaßen daneben – das ist nicht mehr normal.“

Vogel spricht von einer „Kastrierung“ des BND in den vergangenen Jahren. Weil der Nachrichtendienst Analysen lieferte, die politisch nicht umsetzbar wären, sei daraus eine Riesenbehörde geworden, die möglichst nicht stören wolle. „Man hat eine Agenda und sagt: Dazu möchten wir Erkenntnisse“, sagt Vogel, „aber so funktioniert das nicht.“ Will man verlässliche Prognosen, dann sei man auf stete Informationsflüsse angewiesen – und die habe Deutschland, anders als die USA, nicht gehabt. „Man muss proaktiv sein, Quellen suchen und sichern. Das ist eine Kunst, die Deutschland schlecht beherrscht.“

Hätte Putin anders entschieden, wenn die Welt die Erkenntnisse der Nachrichtendienste ernst genommen hätte? Wohl kaum, immerhin war von Anfang an klar, dass der Westen keine Soldaten in die Ukraine schicken würde. „Die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse haben Putin zwar nicht gestoppt“, sagt Riegler, „sie haben aber dazu beigetragen, dass der Westen in der Lage war, Optionen für Sanktionen und weitere Maßnahmen vorzubereiten.“ Nach den Niederlagen der vergangenen Jahrzehnte, angefangen bei den Terroranschlägen in den USA vom 
11. September 2011 über den Einmarsch in den Irak 2003 bis zuletzt in Afghanistan, sollten die USA diesmal recht behalten.

Möglich wurde das durch klassische Aufklärung der Truppenbewegungen an den Grenzen zur Ukraine – per Satellit und durch Kommunikationsüberwachung. Dabei helfen dürfte, dass die russischen Soldaten selbst im Gefecht auf private Handys zurückgreifen müssen, weil der Funk nicht funktioniert.

Dass der Westen über einen Informanten im Kreml Zugang zu Putins engstem Kreis hat, ist laut Riegler unwahrscheinlich.

Für den Westen wäre ein „Verräter“ in Moskau freilich Gold wert. So ließe sich etwa herausfinden, wie es um die körperliche und geistige Gesundheit Putins bestellt ist. Der Präsident wirkte zuletzt fahrig, sein Gesicht ist aufgedunsen, Gesprächspartner hält er auf Distanz. Gerüchte von einer möglichen schweren Erkrankung machen auch in Geheimdienstkreisen die Runde.

„Der Gesundheitszustand von Autokraten war immer von Interesse“, sagt Riegler. Immerhin sei die Frage, ob mächtige Despoten bald sterben und wer ihr Nachfolger sein könnte, zentral für die strategischen Pläne des Gegners.

Riegler erinnert daran, wie es dem BND 1973 gelang, bei einem Besuch Leonid Breschnews in Bonn eine Stuhlprobe des damaligen sowjetischen Präsidenten zu ergattern. Ähnliches geschah später in Kopenhagen, wo der französische Nachrichtendienst den Urin Breschnews aus dem Abflussrohr eines Hotels barg, um die Probe nach Paris zu schicken. Das Ergebnis der Untersuchung: schwere Leberschäden. Breschnew starb wenig später, im November 1982, an „plötzlichem Herzstillstand“. Die französischen Agenten hatten ganze Arbeit geleistet.

In Österreich ist das Heeresnachrichtenamt für Nachrichtendienste im Ausland zuständig – allerdings „oft auf der Empfängerseite“, sagt Riegler, Informationen würden nicht aktiv beschafft. Schlüsse werden aber gezogen, auch vor dem Risiko einer Eskalation im Ukraine-Konflikt wird seit Jahren gewarnt.

Wien, im Kalten Krieg bekannt als Stadt der Spione, sei nach wie vor einer der wichtigsten Stützpunkte des russischen Militärnachrichtendienstes GRU. Die Botschaft in Wien sei eine der größten Auslandsvertretungen Moskaus, bei etlichen Diplomaten dürfte es sich um getarnte Spione handeln. Russischen Agenten im Westen fiele nun eine zentrale Aufgabe zu: die Beschaffung und der Schmuggel von mit Sanktionen belegten Gütern, allen voran Ersatzteile und technische Komponenten, auf die die russische Kriegsmaschinerie nicht verzichten kann. Wichtig sei auch die Aufklärung von Nachschubwegen in die Ukraine, um die Waffenlieferungen des Westens zu sabotieren – und den Krieg damit schnellstmöglich zu gewinnen.

Westliche Nachrichtendienste haben freilich das Gegenteil als Ziel. Sie wollen die Schlagkraft der ukrainischen Armee stärken, damit der Sieg für Putin ausbleibt.

„Die Ukraine soll für Russland eine Art zweites Afghanistan werden“, sagt Riegler. Dem Einmarsch der Sowjets 1979 folgten zehn Jahre Krieg gegen die vom Westen unterstützten islamistischen Mudschaheddin. Am Ende gab die Sowjetunion auf. 1989 zog die Rote Armee ab, wenig später endete der Kalte Krieg. Mit dem Zerfall der Sowjetunion entstand in den Jahren danach eine neue Weltordnung. Nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine dürfte nun auch diese Ordnung Geschichte sein.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.