Demonstrierende stehen mit EU- und Georgien-Flagge vor einem Weihnachtsbaum vor dem Parlament.
Kaukasus

„Gestohlene Wahl“: Wie Georgien demonstriert

In Georgien wird seit acht Wochen gegen die Regierung protestiert. Augenzeugen erzählen von Polizeigewalt, Polarisierung und aufgestautem Frust.

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Sogar bei Kälte sind sie da: Seit über acht Wochen drängen sich in Georgiens Hauptstadt Tbilisi Menschen jeden Abend vor das Parlament. Sie protestieren gegen eine „gestohlene Wahl“: Georgiens Regierung vom rechtskonservativen Georgischen Traum kam bei den Parlamentswahlen im Oktober auf fast 54 Prozent. Nur dank Wahlbetrug, behaupten Georgiens vier größte Oppositionsparteien.

Doch brechen die Proteste wirklich das Rückgrat der Regierung, wie es die Opposition hofft? Was sagen Regierungsunterstützer zu den Demos? Und was macht es mit einer Gesellschaft, wenn jeden Abend Ausnahmezustand herrscht? profil sprach darüber mit fünf Georgiern und einem Abchasen.

Gigi Janashia auf einer Demo mit einem Protestschild

Demonstrierender Gigi Janashia

„Dieses Jahr gibt es auch zu Weihnachten keinen Urlaub. Wir leben auf den Straßen“, erzählt Gigi Janashia. Schon seit den Parlamentswahlen protestiere er unablässig, erzählt er: „Diese Wahlen wurden gefälscht.“ Der regierende Georgische Traum hätte laut Janashia nur dank eines Wahlbetrugs gewonnen: „Wir Georgier hatten nach der Wahl so etwas wie ein kollektives Hangover. Wir waren halb tot, halb lebendig.“ Die Proteste verlaufen zuerst ruhig, viele Demonstranten bleiben aufgrund von Temperaturen von etwas über Null Grad zuhause.

Dann platzt Ende November eine Bombe: Georgiens Premier Irakli Kobachidse (Georgischer Traum) kündigt an, dass die EU-Beitrittsverhandlungen auf 2028 verschoben werden. „Sogar Georgischer-Traum-Wähler fühlten sich verraten“, sagt Janashia. Ein EU-Beitritt gilt als Herzenswunsch vieler Georgier: 85 Prozent des Kaukasuslandes will laut einer Umfrage aus 2023 EU-Mitglied werden. Auch der rechtskonservative Georgische Traum, der sich mit den meisten großen Playern in der EU  über die Jahre zerstritten hat, warb mit einem EU-Beitritt auf „Augenhöhe“.

Warum ist die EU so wichtig für das Kaukasusland? Die EU schütze vor Russland, findet Janashia: „Wir wollen nicht, dass sich 2008 wiederholt.“ 2008 drangen russische Truppen tief in georgisches Territorium vor, nachdem Grenzgefechte zwischen Georgien und der mit Moskau verbündeten Separatistenrepublik Südossetien eskalierten.

Man sieht so viele glückliche Gesichter, es gibt ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl auf den Demos.

Demonstrierender Gigi Janashia

Die Proteste nehmen nach dem Aufschrei rund um die Verschiebung der EU-Beitrittsverhandlungen Fahrt auf. „Man sieht so viele glückliche Gesichter, es gibt ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl auf den Demos“, erzählt Janashia, der als Regisseur arbeitet. „Manche Leute bringen auch Tee oder Gekochtes mit.“ Doch auf den Demos fürchte man die ‚Robocops‘, ein Spitzname angelehnt an den 1987er Actionfilm „Robocop“, der in schwarz gehüllte Riot-Cops des Innenministeriums meint, erklärt Janashia: „Mit ihren Gesichtsverhüllungen sehen sie einfach aus wie ‚Robocop‘, daher kommt der Name.“ Ein Bekannter sei erst kürzlich auf einer der Demos zusammengeschlagen worden, erzählt er. Die Polizei habe nur zugesehen.

Fotojournalist Aleksandre Keshelashvili

Das Gesicht von Fotojournalist Aleksandre Keshelashvili ist in Bandagen eingehüllt. Er könne vielleicht etwas über eine Stunde am Tag arbeiten, erzählt er: „Die meiste Zeit liege ich im Bett.“ Quetschungen, Blutergüsse und mehrere Nasenbrüche zieren sein Gesicht. Polizisten haben den Journalisten vom Medium Publika krankenhausreif geprügelt. Er erzählt, wie es dazu kam.

Auch am 28. November pfeifen und rufen Demonstranten vor dem Parlament. In einer Nebenstraße der zentralen Rustaweli-Allee in Georgiens Hauptstadt steht Keshelashvili, zwei Kameras um den Hals, eng gedrängt mit anderen Journalisten. Hier soll es passiert sein, erzählt Keshelashvili. Er kann die Ereignisse fast minutiös rekonstruieren: „Polizisten in schwarzer Uniform und Sturmhauben krachten auf einmal in die Menge an Journalisten und packten mich.“ Die Angreifer hätten einen Kreis um den Fotojournalisten gemacht und sollen auf ihn eingetreten und -geschlagen haben. 

Mehr als 35 Journalisten wurden zwischen 28. und 29. November verletzt, so Zahlen der Internationalen Journalisten-Föderation. Georgien gilt als höchst polarisiert: Medien sind in Regierungs- und Oppositions-nahe gespalten. Die Nachrichtenkanäle des jeweils anderen gelten als Feindbild.

Als ich meine Augen wieder aufmachte, sah ich als erstes einen Stiefel, der auf mein Gesicht gedrückt wurde.

Fotojournalist Aleksandre Keshelashvili

„Mein Mund und meine Nase waren voller Blut“, so Keshelashvili: „Als ich meine Augen wieder aufmachte, sah ich als erstes einen Stiefel, der auf mein Gesicht gedrückt wurde“, schildert er. Polizisten sollen Keshelashvili gepackt und in einen Polizeiwagen gezerrt haben. „Ich konnte mir nie vorstellen in so einer Situation zu landen.“ Im Fahrzeug sitzen zwei andere Protestierende, ebenfalls übersät von Schlägen, sagt der Journalist: „Einer von ihnen war in einem echt schlechten Zustand.“

Zwischen 300 und 400 Demonstrierende sollen verhaftet worden sein. 300 Personen wurden laut der Opposition verletzt, Georgiens Innenministerium berichtet indessen von 150 verletzten Polizisten.

Keshelashvilis Abend endet im Krankenhaus. „Die Ärzte sagten mir, dass wenn ich in Zukunft weiter durch meine Nase atmen mag, eine Operation nötig wäre.“ Jetzt versucht er, seine Akte vor Gericht zu bringen, jedoch ohne viel Hoffnung. „Ich erwarte keine Gerechtigkeit“, sagt er.

Porträtfoto von Giorgi Mesxi

Student Giorgi Mesxi

„Du bist nicht mehr mein Freund, wenn du nicht zu den Protesten gehst.“ Die Instagram-Stories von Schulkollegen, Bekannten und Freunden waren voller Statements wie dieser, erzählt der Student Giorgi Mesxi profil. Manche hätten sogar gelogen, dass sie auf die Proteste gehen, um nicht von ihren Freundesgruppen verstoßen zu werden, sagt Giorgi: „Ich habe anderen auch dabei geholfen und ihnen gesagt, welche Bilder sie posten sollen, damit es aussieht, als wären sie auf der Straße.“

Die Lehrsäle seiner Uni hat Giorgi schon länger nicht mehr gesehen: Als die Proteste aufflammten machte die Universität dicht, erzählt er: „Das heißt, wir haben weniger freie Tage. Es ist einfach ein administratives Kopfzerbrechen. Sogar manche Studenten, die auf die Demos gehen, waren genervt.“ Unterrichtet wird jetzt wieder, jedoch nur online. Einige Privatunis Georgiens, darunter die Universität Georgiens (5.000 Studierende) und die Kaukasus-Universität (mehr als 1.000 Studierende), schlossen Ende November vorübergehend ihre Tore. 

Manche seiner Studienkollegen hätten die Uni schon vor der umstrittenen Wahl Ende Oktober boykottiert, erzählt Giorgi. Als die Demos begannen, habe er für vier Tage nicht geschlafen, erzählt Giorgi: „Ich hatte Angst, dass ein Putsch passiert. Mein Schlafrhythmus ist noch immer durcheinander.“ Für welche Partei er im Oktober gestimmt hatte, möchte der Student nicht sagen.

Anwalt Kakha Kozhoridze

„Ich habe ihm von dem Hungerstreik abgeraten“, sagt Anwalt Kakha Kozhoridze. Einer seiner Mandaten, der Oppositionspolitiker Vepkhia Kasradze von der sozialliberalen Partei Lelo, sitzt seit mehreren Wochen in Untersuchungshaft. „Er ist eine starke Person, Veteran des Krieges 2008 mit Russland und Vater von fünf Kindern“, so Kozhoridze. Wegen Gesundheitsproblemen musste er seinen Hungerstreik kurzzeitig aussetzen. „Aktuell trinkt er nur Wasser“, so sein Anwalt, der den Fall pro-bono bearbeitet. Dem Häftling wird vorgeworfen „Gruppengewalt“ geplant zu haben. Die Polizei verhaftete ihn bei einer Demo in Tbilisi.

Ihre Message ist: Egal wie gut deine Anwälte sind, egal wie viel Rückhalt du in der Bevölkerung hast, niemand kann dich retten.

Anwalt Kakha Kozhoridze

Der Anwalt spricht von einer „Absurdität“: „Die Anklage konnte mir keinen weiteren Namen dieser gewaltbereiten Gruppe sagen“, so Kozhoridze, der einst als Berater für den vom Georgischen Traum 2013 nominierten Präsidenten Giorgi Margwelaschwili gearbeitet hatte. Margwelaschwili zerstritt sich später mit der Regierungspartei. Es gehe darum, Protestierende einzuschüchtern, sagt Kozhoridze: „Ihre Message ist: Egal wie gut deine Anwälte sind, egal wie viel Rückhalt du in der Bevölkerung hast, niemand kann dich retten. Das soll Angst und Schrecken verbreiten.“

Omar Kharchlaa in Hemd vor einem Gebäude.

Abchase Omar Kharchlaa

Tipps möchte der Abchase Omar Kharchlaa den Demonstrierenden in Tbilisi nicht geben. „Bei uns ist die Protestkultur ganz anders“, erzählt er „Wir hören erst auf, wenn wir Resultate haben.“ Erst im November stürzten Proteste in der international isolierten Republik, die sich in den Neunzigern von Georgien unabhängig erklärt hatte, den Präsidenten Aslan Bschania. profil berichtete. Bschania hatte versucht, ein unbeliebtes Investment-Abkommen mit Russland durchzubringen, das russischen Oligarchen massive Steuererleichterungen gebracht hätte.

„Die georgischen Parteien haben keine Strategie“, sagt Omar „Flaggen auf TikTok schwenken mag zwar schöne Bilder bringen, aber es nicht genug.“ Abchasische Protestierende hatten das Parlamentsgebäude gestürmt. Polizei und Militär sah zu.

Die Polizeigewalt in Georgien verstört viele Abchasen, erzählt Omar weiter: „Unsere Polizei würde uns nie mit solcher Brutalität attackieren. Hier kennt jeder jeden.“ In der Küstenregion am Schwarzmeer, die als Urlaubsort beliebt ist, leben ungefähr 250.000 Menschen.

Die georgischen Parteien haben keine Strategie. Flaggen auf TikTok schwenken mag zwar schöne Bilder bringen, aber es nicht genug.

Abchase Omar Kharchlaa

In Abchasien verfolgt man die Proteste nur peripher, doch zumindest Omar wäre mit einem Sieg der Demonstrierenden zufrieden: „Ich kann längst nicht für alle sprechen, aber der Georgische Traum ist pragmatischer als die Opposition und für unsere Unabhängigkeit viel gefährlicher.“ Obwohl nicht offen pro-russisch, versucht der regierende Georgische Traum den großen Nachbar im Norden nicht zu verärgern.

Immer wieder gab es Gerüchte, Russland arbeite an einem Deal: Georgien kehrt in den russischen Orbit zurück, dafür gibt Moskau seine Unterstützung für Abchasiens Unabhängigkeit auf. Russland erkennt Abchasien seit 2008 als Staat an und stationiert dort um die 5.000 Soldaten. Man habe Angst, dass Russland Abchasien fallen lasse, sagt Omar: „Wir haben keine anderen Sicherheitsgarantien als die von Russland.“

Porträtfoto von Lizi Gogeshvili

Georgischer-Traum-Wählerin Lizi Gogeshvili

Studentin Lizi Gogeshvili hat den regierenden Georgischen Traum gewählt. Nicht weil sie zu 100 Prozent überzeugt von der Partei sei, sondern weil die Opposition ausländischen Interessen diene: „Sie wollen uns zu Marionetten des Westens und Georgien zu einer modernen Kolonie machen.“

Die Demos erinnert die Philosophiestudentin an die Maidan-Proteste in der Ukraine: „Sie werden direkt von den USA und der EU finanziert.“ Der „Euro-Maidan“ stürzte 2014 Ukraines pro-russischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch, nachdem dieser ein Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterschrieben hatte. Georgien steuere auf einen Bürgerkrieg, sagt Gogeshvili: „Oder wir Georgier provozieren damit einen Krieg mit Russland. Wir müssen uns beruhigen.“

Der Georgische Traum machte mit dem Ukraine-Krieg Wahlkampf: Plakate zeigten ausgebombte Städte in der Ukraine auf der einen Seite und neu eröffnete Schulen in Georgien auf der anderen Seite. Die vermeintliche Message: Wir garantieren Frieden, während die Opposition eine Ukraine 2.0 provozieren will. In Teilen der Bevölkerung fällt das auf fruchtbaren Boden: Die Erinnerung an den Krieg mit Russland 2008 und Angst vor neuer Gewalt sitzt noch tief.

Plakat mit einem zerstörten Gebäude auf der linken und einem neu gebauten Schwimmbad auf der rechten Seite.

„Ich bin nicht konservativ“, stellt Gogeshvili klar. Das Anti-LGBT-Gesetz, das der Georgische Traum im September durchs Parlament gebracht hatte und das gleichgeschlechtliche Ehen verbietet, lehne sie zum Beispiel ab. Doch einzig allein der Georgische Traum würde sich für die Souveränität Georgiens einsetzen, sagt sie.

Sie wollen uns zu Marionetten des Westens und Georgien zu einer modernen Kolonie machen.

Georgische-Traum-Wählerin Lizi Gogeshvili

Jung, urban und gebildet: Eigentlich passt Gogeshvili, die ein Semester lang in Klagenfurt studiert hatte, nicht in den klassischen Archetyp eines Georgischen-Traum-Wählers. Einst eine sozialdemokratische, pro-europäische Partei fährt der Georgische Traum heute ein kulturell-konservatives Programm, das besonders gläubige Orthodoxe ansprechen soll. Gerade am Land hatte der Traum damit Erfolg, auch weil hier viele Investitionen, wie neue Straßen, der Regierungspartei gutgeschrieben werden. In den großen Städte, wie Tbilisi und Kutaisi, hat die Regierungspartei jedoch mit ihrem EU-Kurs nahezu sämtliches Vertrauen verspielt.

Raphael  Bossniak

Raphael Bossniak

seit November 2024 Volontär im Digitalteam und im Ausland-Ressort.