Griechenland: Muss sich Europa vor einem Tsipras-Sieg fürchten?
Der griechische Hirtengott Pan soll der Sage nach durch einen lauten Schrei ganze Herden in eine sinnlose Massenflucht getrieben haben. Der untenrum mit einem Ziegenkörper ausgestattete Sohn des Hermes darf deshalb für sich in Anspruch nehmen, die Panik erfunden und etymologisch begründet zu haben. (Dass er nebenbei auch die erste Panflöte konstruierte, macht sein Vermächtnis um nichts besser.) Alexis Tsipras ist ein würdiger Nachfahre des griechischen Gottes. Der Chef der linksradikalen Syriza braucht nicht einmal laut zu schreien; es genügt die bloße Wahrscheinlichkeit, seine Partei könnte bei Wahlen die Mehrheit erringen, und Herden von Politikern und Kommentatoren geraten in Panik. So geschehen um den Jahreswechsel, als gescheiterte Präsidentenwahlen eine Neuwahl des Parlaments erzwangen, die am 25. Jänner abgehalten wird. Der Internationale Währungsfonds stellte umgehend seine Zahlungen an Athen ein, der deutsche "Spiegel titelte "Jetzt fängt die Euro-Krise erst richtig an, griechische Sparer stürmten die Banken, um ihr Geld in Sicherheit zu bringen. Und das alles wegen Tsipras Ideen, wie man Griechenland aus der Krise holen sollte. Ist es denn wirklich so schlimm?
Nun, zunächst muss Syriza erst die Wahlen gewinnen - nach derzeitigen Umfragen liegt sie rund drei Prozentpunkte vor der bisher regierenden konservativen Nea Demokratia. Danach benötigt Tsipras voraussichtlich einen oder mehrere Koalitionspartner, und schließlich wird er, falls er Premier wird, in Verhandlungen mit der EU treten. Darauf warten die Anhänger einer linken Alternative zur herrschenden Austeritätspolitik schon lange. Frankreichs linke Regierung enttäuschte, jetzt soll Tsipras ran.
Doch Erwartungen wie auch Ängste könnten sich gleichermaßen als übertrieben erweisen. Die Griechen legitimieren eine nationale Regierung, nicht aber eine völlige Kehrtwende der EU-Wirtschafts- und Finanzpolitik. Tsipras wird als Vertreter einer Zehn-Millionen-Nation in Brüssel vorsprechen. Er kann drohen, keine Schulden mehr zurückzuzahlen und aus dem Euro auszutreten, doch diese Optionen erschienen den Griechen selbst - bisher zumindest - nicht ratsam. Der griechische Ökonom Yanis Varoufakis, der nicht ausschließt, in eine Syriza-geführte Regierung einzutreten, erläutert im profil-Interview, wie Griechenland und Europa gemäß unverfälschter linker Lehre agieren sollten, bleibt aber realistisch: Es werde Kompromisse geben. Mit anderen Worten: Am Ende wird es wohl nicht viel schlimmer als, sagen wir, ein Panflötenkonzert.
Ökonomische Analphabeten
Yanis Varoufakis, wichtigster Wirt schafts-berater der linksradikalen Syriza-Partei, präsentiert Pläne für eine völlig neue Krisenpolitik in Griechenland und Europa und bezeichnet das bisherige Vorgehen als "monumental idiotisch.
Interview: Anna Giulia Fink
profil: Das linke Syriza-Bündnis könnte bei den kommenden Wahlen stärkste Kraft in Griechenland werden. Sie werden immer wieder als möglicher Finanzminister einer von Syriza geführten Regierung gehandelt. Könnten Sie der nächsten Regierung angehören?
Yanis Varoufakis: Ich habe mich lange geweigert, in die Politik zu gehen. Angesichts der dramatischen Umstände würde ich inzwischen allerdings gerne an den Bemühungen teilnehmen, Krisenpolitik neu zu denken.
profil: In den Ohren europäischer Politiker klingen die neu gedachten Ansätze wie gefährliche Drohungen: Syriza-Chef Alexis Tsipras will laut eigenem Bekunden die Kreditverträge mit dem Internationalen Währungsfonds und der EU "zerreißen. Selbst der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer, nicht eben ein Neo-Liberaler, spricht von einem "hohen Risiko, dass Linkssozialisten an die Macht kommen könnten. Können Sie diese Sorgen zerstreuen?
Varoufakis: Europa steckt seit dem finanziellen Kollaps von 2008 mitten in einer systemischen Krise. Genauso lange allerdings weigert sich die EU, sich einzugestehen, dass Europa ein strukturelles Problem hat. Deshalb taucht die Krise seither auch in jeweils unterschiedlichen Formen immer wieder auf: in einem Quartal als Deflationskrise, im nächsten Jahr als Schuldenkrise, in Spanien als Immobilien-, in Irland als Bankenkrise und so weiter. Wir Europäer weigern uns eisern, anzuerkennen, dass wir eine Währungsunion geschaffen haben, die schlichtweg nicht dazu in der Lage ist, sich gegen eine Krise wie jene von 2008 zu wappnen. Und während wir die Augen davor verschließen, wächst die Krise zu einer veritablen Gefahr für Europa und für die Ideale und Werte, für die Europa steht. Wäre die Syriza an der Regierung, würde sie zumindest den Anstoß für eine Diskussion geben, die Europa schon längst führen müsste.
profil: Das Syriza-Bündnis will zwar den Euro beibehalten, kündigt aber gleichzeitig Schritte an, die letztlich widerum zu einem Austritt Griechenlands aus der Eurozone führen würden. Wie soll das funktionieren?
Varoufakis: Das ist momentan noch sehr hypothetisch, aber bitte: Ihre Frage geht von zwei Voraussetzungen aus. Erstens: Die Eurozone und der Euro seien zukunftsfähig. Zweitens: Syrizas eigenwillige Ideen führten zu einem Ausstieg Griechenlands aus dem Euro. Meine Interpretation der Situation ist hingegen folgende: Der Euro ist nicht zukunftsfähig. Die Art und Weise, wie die EU diese Krise anging, war monumental idiotisch. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat die Situation nicht unter Kontrolle, Europas Bankensystem bleibt weiterhin fragmentiert, und wir bewegen uns eher in Richtung Nationalisierung der Politik als in Richtung Fiskalunion. Wenn wir Europas Probleme weiterhin so behandeln wie bisher, dann wird es in ein paar Jahren keinen Euro mehr geben.
profil: Diese Prognose ist nicht neu. Wie lautet Ihr Gegenvorschlag?
Varoufakis: Wie wäre es zunächst einmal mit ein bisschen Logik und Offenheit, wenn es darum geht, die tatsächlichen Probleme der Eurozone zu diskutieren? Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In den kommenden Monaten wird sich die griechische Regierung 6,5 Milliarden Euro von der Troika (EU-Kommission, EZB, IWF, Anm.) ausborgen müssen, um der EZB Kredite zurückzuzahlen - Geld, das die EZB idiotischerweise für griechische Staatsanleihen ausgegeben hat, um Griechenland vor der Staatspleite zu bewahren. Ohne Erfolg. Das hat es in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben: dass ein souveräner Staat sich Geld von einer Zentralbank ausborgt, um der Zentralbank Geld zurückzugeben, während der Staat gleichzeitig weiterhin Schulden macht. Und das Ganze wird darüber hinaus anschließend als Sparmaßnahme verkauft. Das ist eines der anschaulichsten Beispiele für die Irrationalität, mit der Europa hier vorgeht. Gleichzeitig gibt es weiterhin keinen Zugang zu Krediten, der gesamte Geldkreislauf ist zusammengebrochen, dem privaten Sektor wurde die Luft zum Atmen genommen. Wie sollen auf diese Weise Schulden abgebaut werden? Wenn jemand eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit bestimmter Maßnahmen führen möchte, ist das nicht gleichbedeutend mit EU- oder Euro-Feindlichkeit, ja, es bedeutet noch nicht einmal, dass man besonders links sein muss.
profil: Selbst wenn Tsipras tatsächlich Premierminister werden würde - gewisse Sparmaßnahmen müsste auch er umsetzen, um an Geld zu kommen.
Varoufakis: Natürlich, auch Syriza will Schulden abbauen. Aber das jetzige Sparprogramm funktioniert schlichtweg nicht. Das sieht jeder ökonomisch gebildete Mensch.
profil: 2014 konnte die griechische Wirtschaft erstmals nach sechs Jahren wieder ein wenig Wachstum vorweisen. Waren die Jubelmeldungen verfrüht?
Varoufakis: Lassen Sie es mich ohne beschönigende Umschweife formulieren: Nur ökonomische Analphabeten können allen Ernstes glauben, dass sich die griechische Wirtschaft erholt habe. Im dritten Quartal von 2014 ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 0,7 Prozent im Vergleich zum Vorquartal gewachsen. Das stimmt, allerdings betrifft das nur das reale und nicht das nominale Wirtschaftswachstum, das mit den aktuellen Marktpreisen berechnet wird. Denn die Durchschnittspreise sind in der Zwischenzeit um zwei Prozent gefallen, die Inflationsrate liegt also bei minus zwei Prozent. Das heißt also, dass das nominale Wirtschaftswachstum in dem betroffenen Quartal zurückgegangen ist - die große Erholung der griechischen Wirtschaft ist also gar keine.
profil: Alle internationalen Medien sprechen angesichts der Neuwahlen von einer Rückkehr der Krise. Für Griechenland ist das nicht angenehm.
Varoufakis: Es ist bloß die Fortführung einer Krise, die niemals, nicht einmal in Ansätzen, überwunden worden ist. Die Art und Weise, wie man der Krise begegnete - vor allem das Kürzen von Einkommen und Löhnen -, hat dazu geführt, dass sie noch verschärft wurde. Irgendwann holt einen die Wahrheit nun einmal ein.
profil: Was wird sich unter Syriza ändern? Tsipras will den Schuldendienst einstellen, wogegen sich zahlreiche EU-Staaten, allen voran Deutschland, wehren. Syriza führt zwar in den Umfragen, kommt aber nicht auf eine regierungsfähige Mehrheit.
Varoufakis: Man muss schon fanatisch sein, um zu denken, dass man Verhandlungen zu einem erfolgreichen Ende führen kann, ohne dabei Kompromisse eingehen zu müssen. Die Frage ist also nicht, ob es Kompromisse geben wird, sondern welche Kompromisse Syriza bereit sein wird, einzugehen, um Griechenland wieder zu einem zukunftsfähigen Land zu machen.
profil: Syrizas Versprechen reichen zur Zeit von Gratis-Elektrizität über die Anhebung der Pensionen und der Einkommen bis zur Kündigung von EU-Verträgen. Es ist der Syriza also selbst klar, dass sie einige Wahlversprechen, die sie jetzt macht, nicht einhalten können wird?
Varoufakis: Die Anhebung der Pensionen würde all jene betreffen, die auf unter 700 Euro im Monat kommen. Beim Einkommen wären all jene, die weniger als 700 Euro im Monat verdienen, betroffen. Es geht also um Menschen, die ihr Essen aus Mülltonnen fischen. Das sind humanitäre Gesten, die kein anständiger Europäer allen Erstens als steuerlich unverantwortlich bezeichnen kann. Insgesamt würden diese Schritte die Regierung weniger als eine Milliarde Euro im Jahr kosten - und das in einem Land, das Jahr für Jahr viele Milliarden Euro ausborgt, um die maroden Banken auf Vordermann zu bringen. Jeder Wähler muss es am Ende seinem eigenen Urteilsvermögen überlassen, ob er der Meinung ist, dass Tsipras und seine Partei das moralische Rückgrat haben werden, klare Grenzen für Kompromisse zu ziehen.
profil: Wieso tut sich die europäische Linke so schwer mit der propagierten "sozialen Alternative?
Varoufakis: Wenn man sich das Programm der Syriza ansieht, findet sich bis auf den Namen nicht allzu viel, was radikal links wäre. Die Idee, dass Menschen sich im Notfall auf ein soziales Rettungsnetz verlassen können, widerspricht schließlich nicht der sozialen Marktwirtschaft - auch nicht in anderen Teilen Europas. Syriza handelt verantwortungsvoll, wenn die Partei sagt, dass Griechenland nicht mehr Geld unter Konditionen ausborgen sollte, unter denen das Land es niemals zurückzahlen kann. Die bisherigen Konditionen sind schlichtweg inakzeptabel - schon deshalb, weil Griechenland Kredite aufnahm, als es insolvent war. In den vergangenen vier Jahren hat es in Griechenland keine ernsthaften internationalen Investitionen gegeben. Was Investoren denken, kümmert mich also nicht, denn die Investoren sind schließlich nicht im Land. Wir sind pleite, also brauchen wir auch keine Angst vor den Märkten zu haben. Und genau deshalb könnte es auch Griechenland sein, das auf europäischer Ebene eine Diskussion darüber initiiert, wie Europa seine größten Probleme in den Griff bekommt.
profil: Wo liegen diese Ihrer Meinung nach?
Varoufakis: Auf kurze Sicht bräuchten wir keine fundamentalen institutionellen Veränderungen. Fürs Erste würde es ausreichen, jene Institutionen und Instrumente zu nutzen, die uns ohnehin schon zur Verfügung stehen, um die drei größten Baustellen anzugehen: erstens die öffentliche Verschuldung, die in den vergangenen drei, vier Jahren zugenommen hat und auch weiterhin zunimmt. Vor allem Italien entwickelt sich allmählich zu einer großen Katastrophe. Europa muss verstehen, dass wir eine veritable Schuldenkrise haben, für die es mehrere Lösungsansätze gibt
profil:
wie etwa die Vergemeinschaftung der Schulden, wogegen sich vor allem Angela Merkel wehrt.
Varoufakis: Es gibt mehrere Ansätze, vor allem im Bereich der öffentlichen Finanzierung, und zwar auch solche, bei denen Deutschland keinen einzigen Cent garantieren müsste. Das zweite große Problem ist, dass wir so tun, als hätten wir eine Bankenunion. Was wir haben, ist die Farce einer Bankenunion - was lächerlich ist für eine Währungsunion im Jahr 2015. Wir brauchen nicht italienische, deutsche und griechische Banken, sondern Euro-Zonen-Banken, die nicht nur EU-weit überwacht werden, sondern für die EU-weite Haftungen und Garantien existieren. Schließlich Punkt drei: Wir brauchen ein seriöses Investitionsprogramm, das über EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Junckers mickrige Pläne hinausgeht. Die EZB müsste etwa in großer Menge Anleihen der Europäischen Investitionsbank (EIB) aufkaufen.
profil: Sie setzen demnach also wenig Hoffnung in den Investitionsplan des neuen EU-Kommissionspräsidenten?
Varoufakis: Juncker ist sehr smart, und sein Investitionsplan ist per se ja durchaus begrüßenswert. Wenn man sich aber die Details ansieht, dann bleibt nicht viel übrig, was Anlass zur Hoffnung gibt.
Zur Person
Yanis Varoufakis (53) ist Professor für Ökonomische Theorie an der Universität Athen. Er ist Autor des Buches "Der Globale Minotaurus. Amerika und die Zukunft der Weltwirtschaft und war zuletzt Gastdozent an der University of Texas. Varoufakis bloggt regelmäßig unter yanisvaroufakis.eu.