Griechenland: Reise durch ein Land voller Missverständnisse
Wir sind die Nordländer, wir sind die Geber, wir sind die Eltern und die Kinder der Institutionen (vormals Troika). Wir verlangen von der griechischen Regierung eine Liste, die präzise anführen soll, wer dank welcher Maßnahmen wie viel Geld an den griechischen Staat abliefern muss. Steuern, Abgaben, Einsparungen, wir kennen das. Lange Zeit bekamen wir keine Antwort aus Athen, jedenfalls keine befriedigende.
Die griechische Regierung zierte sich, blieb vage. Erst am Freitag vergangener Woche kam sie der Bitte nach und stellte eine Liste mit Reformvorschlägen fertig. Es ist nach bisherigen Erfahrungen sehr wahrscheinlich, dass die Geldgeber an der Liste und deren Umsetzung herummäkeln werden und dass die Griechen das ungeliebte Papier demnächst wieder zerschnipseln werden.
Es ist also der Wurm drin. Liegt es an unserer Frage oder an der Antwort der Griechen? Ist es gar ein philosophisches Problem? Wenn dem so ist, dann kann eine Reise zur Wiege des abendländischen Denkens im Allgemeinen und der Ethik im Besonderen nicht falsch sein.
Man darf eine Reportage in Griechenland ausnahmsweise auch einmal da beginnen, wo es schön ist. Zum Beispiel auf der kleinen, reichen, teuren Insel Hydra. Vielleicht wohnt hier ja ein winziger Teil der 3,7 Millionen Griechen, die dem Staat insgesamt 76 Milliarden Euro an Steuergeld schulden? Die Überfahrt mit der Fähre von Piräus nach Hydra dauert zwei Stunden und kostet hin und retour 50 Euro.
Ein unglückseliger Unfall
Es sei ein Unfall gewesen, sagt der Bürgermeister von Hydra, George Koukoudakis, ein wenig gequält, "ein unglückseliger Unfall“. Er verstehe überhaupt nicht, setzt er entschlossen fort, weshalb man heute noch darüber sprechen müsse, wo die Sache doch bereits zwei oder drei Jahre zurückliege. Das Hafen-Restaurant, in dem sich das Missverständnis zugetragen habe, als das man das Ganze auch bezeichnen könne, sei für die ausgezeichnete Qualität seiner Küche bekannt. An jenem Tag sei außerdem viel los gewesen, und da habe man wohl irrtümlich vergessen, den Gästen die Rechnung zum Tisch zu bringen, als sie zahlen wollten. Sie habe läppische sechs oder sieben Euro betragen.
Dummerweise waren die Gäste Finanzbeamte aus Athen, die überprüften, ob auf der Insel Hydra Steuern hinterzogen würden; und die plötzlich den - unglückseligen - Eindruck hatten: Ja, das werden sie tatsächlich. Das war der Beginn einer Kette von Missverständnissen, die mit einem Aufruhr endete, wie er für Hydra durchaus untypisch ist. Mehr möchte der Bürgermeister dazu eigentlich nicht sagen.
Es war aber jedenfalls so, dass die Dame, der das Lokal gehörte, zum Verhör in die Polizeistation mitgenommen wurde; dass sich daraufhin eine wütende Menge versammelte; dass die Zeitungen über die Meuterei berichteten. Bürgermeister George Koukoudakis stemmt sich gegen den bösen Verdacht: "Die Leute auf Hydra zahlen Steuern!“ Er schiebt eine Einschränkung nach: "Wir erleben harte Zeiten. Viele können sich die Steuern nicht leisten.“ Dann schließt er triumphierend: "In Wahrheit sind wir überbesteuert!“
Die kleine Insel, 75 Kilometer von Athen entfernt gelegen, ist ein Hort seliger, störrischer Gelassenheit. In den wenigen Gassen des Hafenörtchens dürfen keine privaten Autos und Mopeds fahren; außer den Fahrzeugen der Müllabfuhr verkehren hier nur Mulis. Neue Häuser zu bauen, wo nicht schon vorher welche standen, ist verboten. Oder gar ein Hotel! Der Letzte, der dies versuchte, war der britische Milliardär Richard Branson. Er musste einsehen, dass es einfacher ist, Satelliten ins All zu schießen. Das macht er jetzt auch.
Die knapp 2000 Einwohner sind nicht weltabgewandt. Ihre Insel lebte einst vom Handel und in neuerer Zeit vom Tourismus. Sie wollen nur ein Wörtchen mitreden, was so alles übers Meer zu ihnen kommt. Zum Beispiel diese Finanzbeamten, damals. Gern wird erzählt, dass die Lokalbesitzer und Geschäftsleute gut darüber informiert sind, wann die Steuerschnüffler vom Festland anrücken. Dann bleiben die Rollläden unten. Nicht umsonst heißt eines der beliebtesten Lokale im Ort "The Pirate Bar“.
Hydra ist keine Hochburg der linksradikalen Syriza-Partei, die seit knapp zwei Monaten Griechenland in einer Links-rechts-Koalition regiert. Die Insel wählte mehrheitlich die konservative Partei Nea Demokratia. Aber die Erwartungen an die neue Regierung sind groß. Man will keine Steuerschulden begleichen, sondern niedrigere Steuern zahlen. Die Tourismus-Saison ist kürzer geworden, die Tagesausflügler aus Athen wurden weniger. Die Häuser auf Hydra und die Grundstücke, auf denen sie stehen, sind wertvoll. Aber viele Eigentümer können sich derzeit nicht einmal die Instandhaltung ihrer Häuser leisten.
Die Oktopusse in dem kleinen Restaurant, das aus guten Gründen nicht genannt werden soll, hat der Besitzer selbst gefangen. Die Kühltruhe ist voll davon. Wenn die Finanzbeamten kommen sollten, wird er sagen, dass er die alle selbst isst. Rechnung stellt die Kellnerin keine aus. Es ist ein wunderbarer Abend, ein kalter Wind pfeift über die Insel, und niemand denkt an den unglückseligen Unfall.
Unsinnige Präzision und ein Sesamkringel
Die Ecke Kolonou-Straße und Leonidou-Straße ist kein besonders einladender Ort in Athen. Die Häuser sind mit mehr oder weniger originellen Graffiti besprayt, in den Geschäften der Umgebung die nicht längst wegen Bankrotts geschlossen haben, wird Ramsch verkauft. Hier befindet sich eines der Parteilokale der Syriza. In der obersten Etage liegt eine dürftig sortierte Kantine mit Terrasse. Yiannis Bournous, Mitglied des Politischen Sekretariats der Partei, trinkt einen Milchkaffee, Natascha Theodorakopolou, Repräsentantin der Syriza in der Europäischen Linken, isst einen Sesamkringel.
Bournous, 35, jobbte früher als DJ und Englisch-Nachhilfelehrer, Theodorakopolou, 60, ist pensionierte Bankangestellte und durchlief des ganze linksradikale Spektrum: Kommunistische Partei, Sozialforum, Solidaritätsbewegung "Nein zur EU-Verfassung“ der französischen Linken. Die beiden verströmen ehrliche Begeisterung über die Chance, Griechenland und Europa von der neoliberalen Ideologie zu befreien. "Die Reichen müssen zahlen!“, triumphiert Bournous am Ende eines Exkurses über die bisherige Krisenbewältigung.
Warum aber hat die neue Regierung noch kein umfassendes Reformprogramm vorgelegt? Bournous lächelt nachsichtig. Diese Frage geht bei den Syriza-Politikern ins Leere. Sie denken in großen Zusammenhängen, nicht in detaillierten Maßnahmen. Nieder mit dem Neoliberalismus! Die Frage der Krise muss internationalisiert werden! Wachstum muss her! Dass ihr Finanzminister Yanis Varoufakis kritisiert wird, weil er keine mit Zahlen belegten Vorschläge nach Brüssel mitbringt, finden Bournous und Theodorakopolou geradezu lächerlich. Erst müsse der politische Rahmen ausdiskutiert werden.
Was den Eurogruppe-Geldgebern als nervtötend schwache Ausrede für feiges Lavieren erscheint, ist zum Teil der Theorieverliebtheit marxistischer Bewegungen geschuldet - und vielleicht auch einer Weisheit, die griechischen Ursprungs ist: Aristoteles erläutert in einer der bedeutendsten seiner Schriften, der "Nikomachischen Ethik“, dass die Suche nach Präzision ein intellektueller Irrweg sein kann: "Es zeichnet einen gebildeten Geist aus, sich mit jenem Grad an Genauigkeit zufrieden zu geben, den die Natur der Dinge zulässt, und nicht dort Exaktheit zu suchen, wo nur Annäherung möglich ist.“ Die Frage "Wie viele Sesamkörner braucht es für einen Sesamkringel?“ ist unsinnig. Ebenso wie: "Wie viel Steueraufkommen braucht es für ein ausgeglichenes Budget?“
Annäherung statt Exaktheit! Kapiert das endlich, Pfennigfuchser der Eurozone! Yiannis Bournous und Natascha Theodorakopolou nennen die hartnäckige Verweigerung all dessen, was ein Jeroen Dijsselbloem, Vorsitzender der Euro-Gruppe, "belastbares Zahlenmaterial“ nennt, stolz das "Primat der Politik“. Theodorakopolou, die in ihrem langen politischen Leben wohl nicht damit gerechnet hatte, einmal Mitglied einer Regierungspartei zu sein, legt fröhlich ihren Sesamkringel beiseite und geht eine Zigarette rauchen.
Die Barbaren kommen!
Konstantinos Kavafis (1863-1933) ist laut "Oxford University Press“ der beliebteste moderne griechische Poet. In neu erscheinenden Anthologien ist er regelmäßig vertreten. Im Jahr 1904 verfasste er das Gedicht "Warten auf die Barbaren“. Darin beschreibt er eine Gesellschaft, die sich selbst zur Untätigkeit verdammt hat, weil sie sich nur auf die Ankunft der Barbaren vorbereitet. Alles versammelt sich auf dem Marktplatz und wartet. Niemand handelt. Die Senatoren beschließen keine Gesetze - mit der Begründung, dies würden ohnehin die Barbaren übernehmen.
Ersetzt man "Barbaren“ durch "Eurozone“ (oder "Deutsche“), zeichnet das Gedicht ein frappierend treffendes Bild der aktuellen Situation. Die aktuelle Regierung wagt nicht, ein umfassendes Reformprogramm zu präsentieren, wie sie es für richtig hält. Die Angst vor den übermächtigen Geldgebern lähmt sie. (Und dass sie die Austeritätsprediger für Barbaren hält, ist kein Geheimnis.)
Auch deshalb bleibt die wesentliche Frage unbeantwortet: Wer soll den griechischen Staat finanzieren? Die Reichen, sagen die Syriza-Funktionäre - oder, besser noch: die Superreichen. 404 Millionen Euro mutmaßlicher griechischer Steuersünder wurden auf Schweizer Konten bereits blockiert, und das waren nur die Konten von 17 Personen, jubelt die Partei. Doch wie viel Geld wird der Staat am Ende davon bekommen, und vor allem: wann?
Schließlich wären da noch die reichen Reeder und die nicht minder reiche orthodoxe Kirche, der größte Grundbesitzer nach dem Staat - und beide gelten als bevorzugtes Ziel einer links geführten Regierung. Doch auch da bleibt die Regierung passiv. In einem Interview mit dem französischen Satire-Magazin "Charlie Hebdo“ sagt Finanzminister Yanis Varoufakis Erstaunliches: "Die Reeder sind sehr mobil, und es ist wahrscheinlich, dass ihre Einkünfte das Land verlassen würden, wenn sie besteuert werden sollten.“ Und über die Orthodoxe Kirche: "Das Problem ist, dass der enorme Reichtum, den sie besitzt, kein sehr hohes Einkommen abwirft, das besteuert werden könnte.“ Das klingt mehr resigniert als linksradikal - und stark nach Warten auf die Barbaren.
Kavafis Gedicht nimmt eine überraschende Wendung: Die Barbaren kommen nicht. Am Ende heißt es: "Und nun, was sollen wir ohne Barbaren tun? Diese Menschen waren immerhin eine Lösung."
Die Regierung von Alexis Tsipras hat Glück. Schäuble, Dijsselbloem und Draghi werden kommen.
Drei Tassen Kaffee und ein paar dunkle Ahnungen
Ein kleines, billiges Tagescafé in Athen, an einem Freitag Vormittag. Aus der Stereo-Anlage dröhnt Rockmusik. Wer um diese Zeit hier ist, hat mutmaßlich keinen Job. Die meisten haben Sympathien für die neue Regierung - und dunkle Vorahnungen von deren Ende. Nach drei Tassen Kaffee öffnet sich die griechische Seele.
"Wozu soll Griechenland eine Liste liefern? Sie wird ohnehin in Brüssel zerrissen.“
"Die EU versteht nicht, dass Steuererhöhungen nichts bringen, wenn ein Großteil der Leute längst aus dem System gekippt ist. Die muss man langsam wieder reinholen, sonst werden sie nie etwas zahlen.“
"Varoufakis ist arrogant, aber er hat gute Ideen.“
"Er hat wenig Zeit. Er weiß, dass ein griechischer Finanzminister im Schnitt 16 Monate im Amt bleibt.“
"Die EU wollte diese Regierung jetzt, um sie bis zum Sommer wieder aus dem Weg zu haben. Danach kommt wieder Samaras.“
Noch einmal Hydra
Im Frühstückraum des "New Hotel“ nahe dem Syntagma-Platz in Athen hängt eine Installation der US-amerikanischen Konzept-Künstlerin Jenny Holzer aus dem Jahr 1984. Es handelt sich um ein Leuchtband, auf dem unter anderem der Satz aufscheint: "Welches Land soll man adoptieren, wenn man arme Leute hasst?“
Weil weder Aristoteles noch Varoufakis noch Tsipras der Eurozone die Forderung nach einer Liste von konkreten Maßnahmen ausreden können, gibt es nun also eine. Syriza-Anhänger befürchten das Schlimmste. Allein die Tatsache, dass Athen zur Aushändigung eines verbindlichen Dokuments gezwungen worden ist, gilt ihnen als neoliberale Folter des griechischen Volkes.
Eine der Maßnahmen, die vergangene Woche durchsickerte, ist eine Registrierkassenpflicht für Geschäfte und Restaurants. Auch über die Streichung des 30-prozentigen Rabatts bei der Mehrwertsteuer für die griechischen Inseln wurde spekuliert.
Unglückselige Unfälle auf Hydra sind nicht auszuschließen.