Guantanamo: Ein Leben nach sieben Jahren im US-Militärgefängnis
Immer wenn es kälter wird, kann er Guantanamo im kleinen Finger spüren. Dann zieht sich ein Schmerz aus dem Knöchel der linken Hand seinen Arm hinauf bis in die Schulter und lässt ihn tagelang nicht schlafen. Im Krankenhaus haben die Ärzte gesagt, sie könnten da nicht viel tun. Man müsste den Finger wohl noch einmal brechen, ihn fachgerecht einrichten. Doch dafür hat Mustafa Ait Idir kein Geld. Also beißt er die Zähne zusammen, wenn es Herbst wird, die Temperaturen fallen und ihm die Erinnerung aus der Hölle durch den Arm zuckt.
Ende September, ein karg eingerichtetes Büro in Idliza, einem Vorort der bosnischen Hauptstadt Sarajevo. Mustafa Ait Idir zählt auf, was ihm neben dem von US-Soldaten gebrochenen kleinen Finger der linken Hand sonst noch geblieben ist: die Nieren sind kaputt von der braunen Brühe, die er wochenlang aus dreckigen Eimern trank, in denen Frösche dümpelten. Das rechte Bein blieb etwas steif, nachdem er mehrere Stunden bei Minusgraden auf der Landebahn eines türkischen Flughafens sitzen musste, bevor sie ihn über den Atlantik in die Bucht von Guantanamo brachten. Wenn er sich mit den Händen über das Gesicht fährt, fühlt es sich auf jeder Seite anders an. Die US-Soldaten haben ihm Nervenstränge verletzt, als sie ihn zu Boden warfen, seinen Kopf in spitze Kieselsteine drückten und ihn danach blutend zurück in seine Zelle schleppten. Nicht jeder hätte das alles überlebt, da ist sich Mustafa Ait Idir sicher.
Gescheitertes Experiment
Wie bei allen Erzählungen von Häftlingen aus Guantanamo ist heute nur schwer zu prüfen, ob das alles wirklich so passiert ist. Eigentlich sollte das skandalumwitterte Militärgefängnis aber schon längst geschlossen sein. Acht Jahre lang ließ der ehemalige US-Präsident Barack Obama die Zellen auf der von US-Truppen besetzten Bucht auf Kuba leeren. Von den knapp 800 Gefangenen, die in das Lager gebracht wurden, sitzen heute noch 41 dort. Nur acht wurden vom dortigen Militärtribunal verurteilt, Hunderte wieder freigelassen. Das Experiment, Terrorverdächtige als "feindliche Kämpfer“ zu behandeln und ihnen wesentliche Rechte vorzuenthalten, galt weithin als gescheitert. Bis Donald Trump im Wahlkampf sagte, dass er Guantanamo wieder mit "bösen Typen“ füllen wolle. Diesen Sommer besuchte US-Justizminister Jeff Sessions das Gefängnis und befand, dass die Kritik daran "vollkommen übertrieben“ und der Zellenkomplex ein "absolut vertretbarer Platz“ für Gefangene sei. Es scheint, als wären die USA gewillt, an einem der dunkelsten Kapitel ihrer jüngeren Geschichte weiterzuschreiben. Eine Geschichte, die für Mustafa Ait Idir nie so ganz zu Ende gegangen ist.
Wer den 47-Jährigen heute auf der Straße trifft, würde kaum vermuten, dass er einmal Zelle an Zelle mit den prominentesten Terrorverdächtigen der Welt saß. Dunkle Anzugshose, kariertes Hemd, rasierter Kopf, Wohlstandsbauch: Der gebürtige Algerier sieht eher aus wie ein Handyverkäufer oder ein Versicherungsvertreter denn wie ein Dschihadist, sein Bosnisch ist akzentfrei. "Ich schreibe mir nicht hinten auf meinen Pullover: ‚Ich war in Guantanamo‘“, sagt er. Nur in seine E-Mail-Adresse hat er trotzig die Zahl 10004 aufgenommen, die Gefangenennummer, mit der er von den Wärtern statt seines Namens jahrelang angesprochen wurde.
Sieben Jahre und drei Monate. So lange war er dort. Mustafa Ait Idir war einer der Ersten, die im "Guantanamo Bay detention camp“, kurz Gitmo, landeten. Sie steckten ihn in einen hüfthohen Hundezwinger unter freiem Himmel. Am Tag verbrannte ihm die Karibiksonne die Haut, in der Nacht kamen Schlangen und Skorpione, die Notdurft verrichtete er in einen Kübel. Auf dem Foto aus seiner Akte trägt er einen wilden Bart, mit dem er aussieht wie ein Dschihadist - die Kommandeure in Guantanamo verboten allen, sich das Gesicht zu rasieren. Über die Jahre erduldete der gebürtige Algerier Schläge, Beschimpfungen, Pfefferspray, Psycho-Folter, Hunderte Verhöre und Isolation, Tausende Kilometer von seiner Frau und den drei Söhnen entfernt. Sein jüngstes Kind kam zur Welt, als er in Kuba um sein Leben kämpfte.
Am Ende erklärte ein US-Gericht, es gebe keinerlei Beweise dafür, dass Mustafa Ait Idir je Terrorist gewesen sei oder geplant hätte, einer zu werden. Nach sieben Jahren und drei Monaten legten sie ihm die Handschellen an und flogen ihn zurück nach Sarajevo, wo er vor der Verhaftung mit seiner Familie gelebt hatte.
Fast genauso lange ist er nun schon wieder draußen. Er hat seine Geschichte im Fernsehen und im Radio erzählt, er wurde zu Menschenrechtskongressen eingeladen, und er schrieb zusammen mit einem Freund und zwei US-amerikanischen Autoren ein Buch, das dieses Jahr auf Englisch erschienen ist ("Witnesses of the Unseen: Seven Years in Guantanamo“, 2017).
Es ist später Nachmittag, und Mustafa Ait Idir fährt mit seinem Kombi eine schmale Straße einen grünen Hügel hinauf. Er möchte sein neues Leben herzeigen, das am Ende der regennassen Fahrbahn liegt. Aus dem Nebel tauchen Reihen weißer Apartmenthäuser auf, mehr als 200 Familien können hier wohnen. Es gibt einen Reitstall, eine Moschee, ein Restaurant, eine eigene Wachmannschaft - und ein Ferienresort für reiche Araber, die immer häufiger im mehrheitlich muslimischen Bosnien Sommerfrische machen, seit es in ihren ehemaligen Feriendestinationen Syrien und dem Libanon ungemütlich geworden ist. Sie kaufen sich auch in der Hauptstadt ein, errichten in Sarajevo riesige Einkaufszentren und Bürotürme mit Glitzerfassaden und verbringen die heißen Monate des Jahres in den grünen Wäldern rund um die Stadt. Hohe Beamte würden hier urlauben, Parlamentarier, Militärs und Minister, sagt Ait Idir. Details will er aber lieber nicht preisgeben, das könnte schlecht fürs Geschäft sein.
Vom Häftling zum Marketingdirektor
Seit ein paar Monaten ist der ehemalige Guantanamo-Häftling der Marketingdirektor einer Firma, die einem Investor aus Kuwait gehört und eines der Resorts auf dem Hügel betreibt. Ein alter Bekannter aus der Zeit vor Guantanamo habe ihn weiterempfohlen, weil er Bosnisch und Arabisch spricht. Mit dem arabischen Geld könne er nun endlich seine Rechnungen zahlen. Sein Chef wisse, dass er sieben Jahre in einem US-Gefängnis gesessen ist, sagt er. Er habe ihm alles erklärt. Kein Problem, habe der Chef zu ihm gesagt, ich glaube dir, Mustafa.
Dabei gehört der Fall von Mustafa Ait Idir und fünf weiteren Algeriern wohl zu den absurdesten, die aus Guantanamo bekannt sind. In den frühen 1990er-Jahren kam der gelernte Computertechniker nach Kroatien, eine arabische NGO hatte dort einige offene Stellen ausgeschrieben. Am Balkan wurde in jenen Tagen noch gekämpft, doch Ait Idir führte ein Leben, das so normal wirkte, wie es nur möglich war: Er spielte Fußball, trainierte Karate, wurde sogar regionaler Meister. Unter bosnischen Flüchtlingen lernte er damals seine Frau kennen. Weil er sich in Kroatien um bosnische Kriegswaisen gekümmert hatte, ermöglichte es ihm die bosnische Regierung, sich um eine Staatsbürgerschaft zu bewerben, die er 1995 erhielt.
Er sei ein respektierter Mann gewesen, hätte sogar Polizisten im Kampfsport unterrichtet, sagt Mustafa Ait Idir. Bis am 11. September 2001 zwei Flugzeuge in die Türme des New Yorker World Trade Centers krachten. Plötzlich geriet alles unter Verdacht, das er zuvor getan hatte.
In geleakten Akten aus Guantanamo ist nachzulesen, wie das Leben von Mustafa Ait Idir in den Augen der US-Militärs aussah. Auf 14 Seiten legen sie dar, warum sie den gebürtigen Algerier mit bosnischem Pass für einen zentralen Akteur im globalen Netzwerk von Al-Kaida hielten. Die arabischen NGOs, für die er arbeitete, seien verdeckte Financiers von Terrorgruppen gewesen. Er habe die bosnische Staatsbürgerschaft nur bekommen, weil er im Krieg als Karatetrainer für eine Mudschahedin-Truppe gedient hätte. Außerdem soll er zu den sogenannten "Algerian Six“ gehören, einer Gruppe, die einen Anschlag auf die US-Botschaft in Sarajevo geplant habe - eine Verschwörung, die der damalige US-Präsident George W. Bush am 29. Jänner 2002 in seiner Rede an die Nation erwähnte. Das Aktenkonvolut ist ein Mahnmal aus einer Zeit, in der das mächtigste Land der Welt in Paranoia versank und seine eigenen Prinzipien vergaß.
"Bevor all das passiert ist, dachte ich, dass es Gerechtigkeit gibt“, sagt Ait Idir. Als sie ihn zum ersten Verhör brachten, sei er noch guter Dinge gewesen, habe geglaubt, dass er alles erklären könnte, die Missverständnisse ausräumen: "Aber wie hätte ich beweisen sollen, dass ich kein Terrorist bin?“
Heute sagt er, dass er nicht mehr an irgendeine Gerechtigkeit glaube. Er werde sich im Leben vor niemandem mehr rechtfertigen, nur noch vor Gott.
Unglaubliche Pannen
Als die Vorwürfe gegen Ait Idir nach etlichen Jahren endlich vor einem ordentlichen US-Gericht geprüft werden konnten, stellte sich heraus, dass die US-Militärs nichts vorzulegen hatten, das ihre Thesen untermauerte. Zwar standen einige der arabischen NGOs tatsächlich im Verdacht, die bosnischen Mudschahedin mitfinanziert zu haben, doch daraus ließ sich kein Vorwurf an Ait Idir ableiten, der dort die Computer betreut hatte. Dazu kamen unglaubliche Pannen: Einem der Algerier warfen die US-Amerikaner vor, im Winter 2001 in den Dschi-had nach Afghanistan gereist zu sein - dabei befand er sich zu diesem Zeitpunkt in einem bosnischen Gefängnis. Das vermutete Komplott der "Algerian Six“ gegen die US-Botschaft dürfte es in Wirklichkeit nie gegeben haben, zumindest gab es keine Beweise dafür.
Spätestens jetzt hätte die US-Regierung einlenken müssen, ihren Fehler korrigieren. Doch bis heute weigert sie sich pauschal, auch freigelassenen Guantanamo-Insassen für die ihnen gestohlenen Jahre und Misshandlungen eine Entschädigung zu zahlen. Gerade einmal 600 Euro bekam Ait Idir vom bosnischen Staat, der ihn damals an die US-Behörden ausgeliefert hatte, obwohl ein bosnisches Gericht bereits zuvor in einem Verfahren festgestellt hatte, dass die Vorwürfe gegen ihn nicht haltbar waren. Ein einziges Mal sei er nach seiner Rückkehr auf Staatskosten von einem Arzt untersucht worden, mehr nicht. Psychologische Betreuung bekam er keine. "Glaub mir, ich bin psychisch sehr stark“, sagt Ait Idir. Als er begann, in Sarajevo seine Geschichte zu erzählen, hätten ihm Freunde geraten, er solle dabei weniger lachen. Wer würde einem lachendem Mann glauben, was er in Guantanamo erdulden musste?
"Der Mustafa, der nach Guantanamo gebracht wurde, ist derselbe Mustafa, der danach wieder herauskam“, sagt Ait Idir, wenn man ihn danach fragt, was sieben Jahre in der Hölle mit einem machen können. Und dieser Mustafa ist ein tief religiöser Muslim, stolzer Algerier und Bosnier, vierfacher Familienvater, der in einem kleinen Haus in einem kleinen Dorf wohnt, in dem jeder jeden kennt; ein Optimist, der sich beharrlich weigert, sein Leben als Opfer zu verbringen, und der im Lager die Soldaten getröstet habe, die in der Nacht vor Heimweh geweint hatten.
"Ich bin nicht wütend“
Er lässt sich nicht anmerken, ob die Amerikaner mehr in ihm gebrochen haben als seine Knochen. "Ich bin nicht wütend“, sagt er: "Ich bin kein Mensch, dem die Hitze das Herz verbrennen kann.“
Als Ait Idir im Jahr 2009 nach Sarajevo zurückkam, musste er vom Geld seiner Frau leben, die als Lehrerin arbeitete. Niemand wollte das Risiko eingehen, einen anzustellen, den die Amerikaner für einen gefährlichen Terroristen hielten, sagt er. Seine jüngsten Söhne hatten Angst vor dem fremden Mann, der auf einmal in ihrem Wohnzimmer stand. Die bosnische Polizei führt ihn auf einer Liste. Wenn er das Land mit dem Flugzeug verlassen will, befragen sie ihn bis heute jedes Mal eine halbe Stunde lang. "Sie sagen mir dann: Mustafa, wir wissen, dass du unschuldig bist, aber Regeln sind Regeln“, sagt er. Erst im Jahr 2012 begann er richtig zu arbeiten, er eröffnete einen kleinen Kopiershop. Das Geld dafür sammelten der österreichische Diplomat Wolfgang Petritsch und der Völkerrechtler Manfred Nowak, die um die Jahrtausendwende in Bosnien gearbeitet und seinen Fall von Anfang an begleitet hatten. Noch heute betreibt er den kleinen Laden, auch wenn er kaum Geld abwerfe, sagt Ait Idir.
Er will sich auf das Geschäft mit den Touristen aus dem Nahen Osten konzentrieren. Im Sommer wuseln sie verschleiert durch Idliža, fahren mit klapprigen Pferdekutschen und spazieren über grüne Wiesen an Hotels aus der Zeit der Habsburger-Monarchie vorbei. Ganze Straßen sind bereits mit arabischen Schildern zugepflastert. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass nun ausgerechnet die oft schlecht beleumundeten arabischen Eliten einem ehemaligen Guantanamo-Häftling das finanzielle Fortkommen sichern, nachdem die sich selbst moralisch überlegen gebende US-Regierung ihm leichtfertig sieben Jahre seines Lebens gestohlen hat.
Die Befürchtung, dass mit den arabischen Gästen und ihren Milliarden auch ein fundamentalistischer Islam ins traditionell eher liberale Bosnien komme, ringt Mustafa Ait Idir nur ein Lächeln ab. "Was die im Fernsehen zeigen und was wir hier in Sarajevo sehen, sind komplett verschiedene Dinge“, sagt er. Ob er das sagt, um seine reichen Kunden nicht zu verärgern, oder ob er das wirklich glaubt, weiß nur er selbst. Es lässt sich ihm jedenfalls nur schwer verdenken, wenn er nach all den Jahren der Entbehrung bei den Financiers seines neuen Lebens mal ein Auge zudrückt.