Wieso die Kritik am Internationalen Strafgerichtshof falsch ist
Von Siobhán Geets
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Welche Beweise legt der Internationale Straf-gerichtshof (IStGH) gegen Netanjahu und Galant vor?
Israels Premier Benjamin Netanjahu und dem kürzlich entlassenen Verteidigungsminister Joav Galant werden mutmaßliche Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Um Informanten zu schützen, bleibt die genaue Beweisführung des IStGH unter Verschluss. Doch seine Ausführungen decken sich weitgehend mit Berichten internationaler Hilfsorganisationen sowie der Vereinten Nationen.
Wieso überlässt der IStGH die Ermittlungen nicht Israel?
Israels Generalstaatsanwältin Gali Baharav Miara wies nach dem Erlass der Haftbefehle einmal mehr darauf hin, dass „eine staatliche Untersuchungskommission das geeignete rechtliche Mittel“ sei, um Vorwürfe rund um den Krieg zu klären. Tatsächlich hätte eine unabhängige Untersuchung in Israel Ermittlungen des IStGH verhindern können: Der IStGH ist ein Gericht der letzten Instanz, er wird erst dann aktiv, wenn mutmaßliche Verbrechen in den betroffenen Staaten nicht untersucht werden. Doch Netanjahu hat sich bisher beharrlich gegen juristische Ermittlungen gewehrt – immerhin könnte so auch seine eigene Verantwortung für das Erstarken der Hamas vor dem 7. Oktober zutage treten.
Wie reagiert die Staatengemeinschaft auf den Schritt des IStGH?
Netanjahu nannte Chefankläger Karim Khan einen „großen Antisemiten der Moderne“, Galant sprach von einem „gefährlichen Präzedenzfall gegen das Recht auf Selbstverteidigung“, und auch US-Präsident Joe Biden verurteilte die Haftbefehle gegen die israelischen Spitzenpolitiker scharf.
Empörung gab es zwar auch in einigen Hauptstädten der EU, doch die meisten Staaten erkennen die Entscheidung des IStGH an. Das Außenministerium in Wien äußerte sich kritisch zu den Haftbefehlen gegen Netanjahu und Galant, verhaften würde Österreich Netanjahu aber sehr wohl.
Müssen die Vertragspartner des IStGH Netanjahu verhaften?
Die 124 Mitgliedstaaten des IStGH sind laut dessen Römer Statut verpflichtet, Netanjahu und Galant beim Betreten ihres Hoheitsgebiets zu verhaften. Diese müssten damit rechnen, nach Den Haag überstellt zu werden.
Etwas mitzureden haben dabei aber auch die jeweiligen Regierungen. In Berlin drückte man sich lange um eine Antwort auf die Frage, ob Netanjahu in Deutschland verhaftet würde. Und Ungarns Premier Viktor Orbán kündigte an, das keinesfalls zuzulassen – und lud Israels Premier kurzerhand nach Budapest ein.
Kommen die Mitgliedstaaten ihren Kooperationspflichten nicht nach, ist der IStGH machtlos.
Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Vertragspartner die Rechtsprechung des IStGH ignoriert. Einen aufrechten Haftbefehl gibt es auch gegen Russlands Präsident Wladimir Putin, doch er reiste zuletzt unbehelligt in die Mongolei. Das ostasiatische Land hat das Römer Statut zwar ratifiziert, sah jedoch von einer Verhaftung Putins ab.
„Der Internationale Strafgerichtshof ist ein Gigant ohne Arme und Beine“, zitiert Astrid Reisinger Coracini, Expertin für Völkerstrafrecht am Juridicum in Wien, den ersten Präsidenten des Jugoslawientribunals Antonio Cassese. „Kommen die Mitgliedstaaten ihren Kooperationspflichten nicht nach, ist der IStGH machtlos.“
Am Ende komme es auf die Behörden in den Mitgliedstaaten an.
Als Südafrika bei einem Besuch des sudanesischen Präsidenten Omar al-Baschir im Jahr 2015 von einer Verhaftung absah, obwohl ein Haftbefehl des IStGH vorlag, wandten sich NGOs an nationale Gerichte. Immerhin verletzte die Regierung nationales und internationales Recht.
„Das Gericht verfügte, dass al-Baschir sofort verhaftet und nach Den Haag überstellt werden muss“, sagt Reisinger Coracini. „Dem konnte sich al-Baschir nur durch eine überstürzte, wenig rühmliche Abreise entziehen.“
Setzt der IStGH mit den Haftbefehlen die israelische Regierung mit der Hamas gleich?
Ein Haftbefehl wurde auch gegen den – mittlerweile wohl getöteten – Hamas-Führer Mohammed Deif erlassen. Ihm wirft der IStGH Verbrechen gegen die Menschlichkeit beim Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 vor.
Kritiker deuteten das als unzulässige Gleichsetzung einer Terrororganisation mit Israels Regierung. „Was auch immer der Internationale Strafgerichtshof andeutet, Israel und die Hamas sind nicht gleichwertig“, sagte etwa US-Präsident Joe Biden. Das hatte allerdings auch niemand behauptet.
In Wien argumentierte Außenminister Alexander Schallenberg damit, dass es sich „bei dem Konflikt in Gaza um eine asymmetrische Auseinandersetzung handelt“: „Auf der einen Seite steht mit Israel die einzige Demokratie im Nahen Osten, auf der anderen eine Terrororganisation, deren erklärtes Ziel die Vernichtung des Staates Israel ist.“
Das stimmt, hat aber nichts mit den Haftbefehlen zu tun. Es geht dabei weder um die erklärten Ziele und Motive der Konfliktparteien noch um deren Staatsform, sondern um vermeintliche Kriegsverbrechen, für die es keine Rechtfertigung gibt. Kurz: Fraglich ist nicht, ob Israel Krieg gegen die Hamas führen darf, sondern darum, wie es das tut.
Wieso verhängt der IStGH keine Haftbefehle gegen Kriegstreiber wie den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan oder Syriens Diktator Baschar al-Assad?
Der IStGH agiere einseitig, hieß es zuletzt einmal mehr, weil er gegen die politische Führung Israels ermittelt, nicht aber gegen Erdoğan (wegen seines Vorgehens gegen die Kurden in Nordsyrien) oder Syriens Machthaber Baschar al-Assad. Nur: In diesen Fällen kann der IStGH nicht aktiv werden, weil ihm weder Syrien noch die Türkei beigetreten ist.
Zwar kann der IStGH im Auftrag des UN-Sicherheitsrats auch bei Verbrechen in Nichtmitgliedstaaten tätig werden. Geschehen ist das im Sudan und in Libyen. Doch bei Syrien legte Russland ein Veto ein.
Im aktuellen Fall darf das Gericht mutmaßliche Kriegsverbrechen auf dem Territorium Palästinas untersuchen, weil Palästina ein Vertragsstaat ist. Israel ist dem IStGH nicht beigetreten.
Wieso ermittelt der IStGH nicht gegen westliche Staaten?
Kritisch angemerkt wurde auch, dass der IStGH nicht gegen westliche Staaten ermittelt – etwa gegen Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs wegen Vorwürfen der Folter während des Irak-Krieges. Tatsache ist, dass das Gericht mutmaßliche Kriegsverbrechen der britischen Armee im Irak durchaus in Vorerhebungen untersuchte – diese allerdings angesichts nationaler Untersuchungen einstellte.
Stehen die Mitgliedstaaten jetzt nicht hinter dem IStGH, verliert er weiter an Glaubwürdigkeit.
Anders verhält es sich bei den Ermittlungen gegen US-Streitkräfte wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in Afghanistan. Hier wurde der IStGH aktiv, weil Afghanistan dem Römer Statut beigetreten ist. Doch die Untersuchungen wurden angesichts dringlicherer Ermittlungen gegen die Taliban und den IS in ihrer Wichtigkeit herabgestuft – und liegen seither in der Schublade.
Was bedeutet der Haftbefehl gegen Netanjahu für seine politische Zukunft?
Nicht nur schränkt der Haftbefehl Netanjahus Bewegungsfreiheit deutlich ein. Er bestätigt auch die Bedenken verbündeter Staaten, was die Waffenlieferungen nach Israel betrifft.
Dass sich Netanjahu je in Den Haag verantworten muss, ist unwahrscheinlich. Vor dem IStGH werden keine Prozesse in Abwesenheit geführt, möglich ist aber eine sogenannte Bestätigung der Anklage: eine Art Zwischenverfahren, das den Rahmen eines späteren Prozesses absteckt und in dem die Beweisführung im Vordergrund steht. Das wäre vor allem für die Opfer wichtig.
Was bedeuten die Haftbefehle für die Zukunft des IStGH?
„Hat der IStGH eben Selbstmord begangen?“, fragte die linksliberale israelische Tageszeitung „Haaretz“ nach der Ausstellung der Haftbefehle. Lange wurde dem Gericht vorgeworfen, ausschließlich gegen die Feinde des Westens vorzugehen. Das hat sich mit den Ermittlungen gegen die israelische Regierung geändert. Die Frage ist nun, ob die westliche Staatengemeinschaft trotzdem weiter hinter dem IStGH und seinen Entscheidungen steht. In Washington drohten die Republikaner des designierten Präsidenten Donald Trump mit Sanktionen gegen den IStGH sowie gegen Staaten, die seine Rechtsprechung anerkennen.
Die USA sind dem Weltstrafgericht zwar nicht beigetreten, könnten aber Druck auf seine Partner-länder ausüben und etwa verlangen, dem Gericht die finanziellen Mittel zu entziehen. Profitieren würden davon vor allem mutmaßliche Kriegsverbrecher. „Stehen die Mitgliedstaaten jetzt nicht hinter dem IStGH, verliert er weiter an Glaubwürdigkeit“, sagt Reisinger Coracini.
Behandelt der Westen Netanjahu anders als Angeklagte wie Putin und al-Baschir, würde das im Globalen Süden vor allem als eines interpretiert: Heuchelei.
Siobhán Geets
ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.