Gastkommentar

Hanno Loewy zu Israel: Vorwärts in die Sackgasse

Die Illusion der Zweistaatenlösung ist geplatzt. Mit der neuen israelischen Regierung drohen zwei Alternativen: Annexion oder Vertreibung.

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Gastkommentar von Hanno Loewy

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In den 1990er-Jahren hatten wir alle Illusionen. Der Händedruck zwischen Rabin und Arafat 1993 stand für den Traum einer Zweistaatenlösung. Und damit für die Vorstellung, der Gordische Knoten des Konflikts um Israel und Palästina ließe sich mit einem Schwertstreich durchtrennen. Nun sind wir mit einer neuen israelischen Regierung konfrontiert – und man streitet sich darüber, ob diese tatsächlich so radikal anders ist als die vorhergehenden oder nicht.

Auf den Händedruck 1993 folgte schon im Jahr 1994 ein Desaster nach dem anderen, Selbstmordattentate von Palästinensern mit 35 Toten und das Attentat Baruch Goldsteins in Hebron mit 29 Toten. Die israelische Siedlungstätigkeit in den besetzten Gebieten nahm zu und nicht ab, und auch die Zahl der Selbstmordattentate auf Israelis nahm weiter zu. Grenzmauern und Zäune wurden errichtet, nicht nur entlang der Grenze von 1967, sondern auch mitten durch die Westbank, die zu einem Flickenteppich von abgeriegelten palästinensischen „Autonomiegebieten“ wurde, und die sich niemand mehr als „Staat“ vorstellen kann. Jedenfalls dann, wenn man noch halbwegs ehrlich über „the situation“ spricht, wie der sich mal mehr, mal weniger schleichend radikalisierende Status quo auch gerne genannt wird. Dass die Zahl der Selbstmordattentate irgendwann wieder eingedämmt werden konnte, verdankt sich freilich weniger der Sperrmauer als der Zusammenarbeit der israelischen Sicherheitsdienste mit einer korrupten palästinensischen „Autonomiebehörde“, die nur aus diesem Grund von den wechselnden israelischen Regierungen am Leben gelassen wird, auch wenn darüber kaum einer reden mag.

Zu dieser Politik der schleichenden Annexion gehörte auch die Verwandlung des Gazastreifens in ein großes „selbst verwaltetes“ Gefängnis durch den propagandistisch gefeierten „Abzug“ Israels im Jahr 2005, von dem schon damals jeder wusste, dass er nur der Hamas in die Hände spielen würde. Und es gab zu dieser Politik der schleichenden Annexion tatsächlich niemals eine mehrheitsfähige Alternative in der israelischen Gesellschaft. Denn sie basiert im Grunde auf der gleichen Logik, wie sie auch die Zweistaatenlösung prägt. Der Logik einer ethnisch-nationalen Politik auf beiden Seiten – der jüdisch-israelischen wie auch der palästinensischen. Denn auch die von manchen romantisierte, von anderen dämonisierte antiisraelische Boykottbewegung BDS spricht nicht nur von gleichen Rechten, sondern auch von der Befreiung „arabischen Bodens“, was auch immer das sein mag.

Während in Israel nun eine Regierungskoalition von Rechtspopulisten (Netanjahu), Faschisten (Gvir) und Theokraten (Smotrich) die Hosen fallen lässt und offen ausspricht, was die Konsequenz dieser Entwicklung ist, nämlich die Zerstörung der Demokratie, mal in Zeitlupe und mal in etwas größeren Schritten, gibt es nun doch eine wachsende Zahl von Menschen, die es wagen, die Alternative zu dieser fatalen Spirale auszusprechen – in Israel noch zögerlich, doch in der Diaspora, vor allem in den USA, schon lauter und lauter. Wenn Israel (und Palästina) eine Zukunft haben sollen, dann paradoxerweise nur eine gemeinsame, ob als föderaler Bundesstaat oder in einer anderen Form geteilter Souveränität vermag noch niemand zu sagen.

Aber jeder weiß, dass der Status quo nicht auf eine Zweistaatenutopie hinausläuft, sondern auf zwei andere Alternativen, über die in Europa und den USA keiner offen reden möchte. Ein Krieg, der die Möglichkeit der Vertreibung bieten würde (wovon so manche träumen) oder die Annexion der Westbank und ihre Aufteilung in israelisches Staatsgebiet und palästinensische Bantustans, so wie es schon Donald Trumps „Friedensplan“ vorsah. Es wäre der nur noch kleine ausstehende Schritt, Israel explizit zu einem Staat zu machen, auf dessen Territorium zwei verschiedene „einheimische“ Bevölkerungsgruppen in zwei hierarchisch getrennten Rechtssystemen leben, die eine Gruppe offen diskriminiert. Noch wird die palästinensische Bevölkerung in der Westbank und im Gazastreifen mit der Illusion abgespeist, ihr Zustand sei ein vorläufiger. Aber genau daran glauben die meisten Palästinenser schon lange nicht mehr. Insgeheim wollen viele von ihnen längst israelische Staatsbürger werden. Annektiert uns doch endlich!, denken sie.

Bleibt im Moment nur die Frage, ob die israelische Regierung mit ihrem Programm wirklich auf die Überholspur gehen wird oder wieder in Zeitlupe zurückfällt – weiter hinein in eine Sackgasse, an deren Ende von einer „jüdischen Demokratie“ nichts übrig sein wird.

Hanno Loewy

ist ein deutscher Literatur-und Medienwissenschafter und seit 2004 Direktor des Jüdischen Museums Hohenems. Von 2011 bis 2017 war er Präsident der Vereinigung Europäischer Jüdischer Museen.