Interview

Heidi Tagliavini: „Weit entfernt von einem Ende des Krieges“

Heidi Tagliavini hat jahrelange Erfahrung in Verhandlungen bei Konflikten – auch mit Russland. Die Schweizer Diplomatin erklärt, was für Friedensgespräche zwischen Kiew und Moskau notwendig wäre.

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profil: Russland führt seit einem halben Jahr einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Wie kann dieser enden?
Tagliavini: Ich kann mir drei Situationen vorstellen, in denen ein Krieg enden kann: die Kapitulation einer Seite, wie wir das in den beiden Weltkriegen erlebt haben; die Einsicht der Parteien, dass Verhandlungen etwas bringen – das ist meiner Ansicht nach gegenwärtig nicht gegeben. Die dritte Möglichkeit wäre politischer Druck, auch der ist momentan nicht gegeben. Wir sind noch in der akuten Phase des Krieges, in der beide Parteien das Maximum herauszuholen versuchen, also sind wir weit von einem Ende dieses Krieges entfernt.

profil: Es liegt zwar nicht am Westen, der Ukraine Verhandlungspositionen zu diktieren. Doch Kiew ist abhängig von Waffenlieferungen. Wird der Westen Druck machen, damit die Ukraine sich an den Verhandlungstisch setzt?
Tagliavini: Wir haben nicht das Recht, Kiew unsere Sicht der Dinge aufzuzwingen. Hier geht es um das Recht eines jeden Staates, sein politisches Überleben zu verteidigen. Die  Länder, die Waffen liefern, legen ohnehin große Vorsicht an den Tag. Vor jeder Lieferung wurden die Waffengattungen auf die Frage hin überprüft, ob sie noch als Verteidigungswaffen gelten oder der anderen Partei einen Vorwand zum größeren Eingreifen geben könnten. Leichtfertig wird man diese Unterstützung auch künftig nicht geben. Man ist sich mittlerweile im Klaren darüber, dass dieser Krieg viel länger dauern wird als erwartet. Jeder Krieg hat eine Dynamik, von der wir nicht wissen, wie sie sich entwickelt.

„Wir haben nicht das Recht, Kiew unsere Sicht aufzuzwingen.“

profil: Sie glauben nicht an baldige Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine. Was muss geschehen, damit es überhaupt zu Verhandlungen kommen kann?
Tagliavini: Echte Friedensgespräche wird es nicht so schnell geben, aber es gibt durchaus Gespräche und Verhandlungen über Teilaspekte. Über einen humanitären Korridor aus Mariupol hat man auf höchster Ebene verhandelt, es gab Teilerfolge. Bei den Getreidelieferungen über das Schwarze Meer haben sich die Vereinten Nationen eingeschaltet, Generalsekretär António Guterres reiste persönlich an. Über solche Etappensiege könnte man im Gespräch bleiben. Es ist im Interesse beider Parteien, in Kontakt zu bleiben, allein um zu sehen, welche Signale des Entgegenkommens es gibt.

profil: Sie haben viele Jahre Erfahrung in der Vermittlung zwischen Kriegsparteien, auch mit Russland. Was braucht es für die jeweiligen Seiten, damit sie zustimmen könnten?
Tagliavini: Das Vordringlichste wäre die Einsicht, dass die Kriegshandlungen beendet werden müssen. Gewöhnlich ist die erste Etappe ein Waffenstillstand mit allen Maßnahmen, die dazugehören. Es geht aber auch um die Lösung politischer, humanitärer und wirtschaftlicher Fragen. Davon sind wir weit entfernt. Allerdings habe ich auch schon Verhandlungen mit Parteien geführt, die völlig widersprüchliche Forderungen hatten, doch kam das nach einem Waffenstillstand.

profil: Was waren die Ergebnisse?
Tagliavini: Oft ging es um die Forderung von Unabhängigkeit gegen die Wahrung territorialer Integrität. Zwei unvereinbare Forderungen. Wie findet man einen Ausweg aus so einer Situation? Beispielsweise, indem man die wichtigsten anderen Probleme angeht. Im Konflikt zwischen Georgien und Abchasien war das etwa die Sicherheit vor Überfällen und kriegerischen Handlungen. Es ging auch immer um Humanitäres: Flüchtlinge müssen versorgt werden und im Idealfall zurückkehren können. Außerdem braucht es den Wiederaufbau der Wirtschaft und Infrastruktur. Auch das sind Verhandlungsgegenstände.

profil: Es gibt Verhandlungen über eine Expertenmission zum AKW Saporischschja und inzwischen Getreideausfuhren aus Odessa. Können diese Verhandlungen eine Grundlage für weitere Gespräche bieten?
Tagliavini: Das sind Bemühungen von außen, eine Plattform zu bieten, auf der man sich bisher vor allem über praktische Fragen einig werden kann. Das ist aber noch kein Weg zum Frieden. Heute hat es bestimmt Priorität, die Lage um Saporischschja zu deeskalieren und möglichst unter Kontrolle zu kriegen. Hier gibt es erste Anzeichen, dass endlich die dafür zuständige Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) in Wien zum Zug kommt. Entsprechende Aussagen von Guterres und dem Direktor der IAEO Rafael Mariano Grossi sind ein Hoffnungsschimmer.

profil: Worauf müsste man bei Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew achten, damit der Frieden von Dauer ist?
Tagliavini: Machen Sie sich keine Hoffnungen, dass so ein Frieden in kurzer Zeit möglich ist. Zuerst geht es um die grundsätzlichen Fragen, aber der Teufel sitzt im Detail. Worauf man achten muss, ist, dass der Frieden fair ist, dass beide Parteien damit leben können. Es dürfen keine Samen für künftige Konflikte gesät werden, einer Rache- oder Vergeltungslust. Unbefriedigende Lösungen können den Vorwand für neue Kriege liefern.

profil: Österreichs Politik beginnt die Sanktionen gegen Russland zu hinterfragen. Ist das verständlich oder gefährlich?
Tagliavini: Sanktionen sind das einzige demokratische Mittel, mit dem sich die freiheitsliebende Welt gegen solche Übergriffe wehren kann. Daran sollte man festhalten. Wir verurteilen heute die Appeasement-Politik Großbritanniens unter Premier Chamberlain gegenüber Hitler-Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg. England wollte damals nicht in einen Krieg hineingezogen werden, doch das hat nicht funktioniert. Wir dürfen nicht das russische Kalkül aufgehen lassen, dass der Westen einknickt, sobald der Gashahn zu ist und es kalt wird. Aber natürlich müssen wir auch darauf achten, dass wir wirtschaftlich nicht zugrunde gehen. Das ist eine politische Gratwanderung. Wir müssen uns energiepolitisch re-orientieren, sollten aber moralisch nicht ebenso leichtgläubig handeln wie damals Chamberlain. Wir dürfen nicht nur auf unseren Wohlstand oder unsere Luxusbedürfnisse bedacht sein. Dieser Krieg ist indirekt auch ein Angriff auf uns, auf die westliche Ordnung, auf Demokratien und darauf, was wir seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verteidigt haben. Ich bin keine Politikerin und auch keine Prophetin, sondern Diplomatin, aber: Die moralische Frage stellt sich schon.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.

Tessa   Szyszkowitz

Tessa Szyszkowitz