Helden von gestern: Warum wir Amerika brauchen
(Anmerkung: Dieser Text erschien am 7. November 2016, einen Tag vor der Präsidentschaftswahl, die Donald Trump gewinnen konnte.)
Hey, wisst ihr noch, wer ihr seid?! Ihr seid rund 44 Prozent des privaten Geldvermögens der Welt, ihr seid Exporteure von Waren im Wert von 1500 Milliarden US-Dollar pro Jahr, ihr seid Google und Facebook und Apple, ihr seid Batman vs. Spiderman vs. Star Wars vs. Kim Kardashian, ihr seid Jeff Koons, Beyoncé und Justin Bieber, ihr seid Bob Dylan und sechs weitere Nobelpreisträger allein im Jahr 2016! Ihr seid 8848 Panzer und 2308 Kampflugzeuge. Nein, ihr seid nicht irgendwer, ihr seid die Vereinigten Staaten von Amerika. Ihr seid – for the record – die Supermacht!
Nicht nur Europa muss sich darauf verlassen können, dass ihr nicht vergesst, was das bedeutet. Im Moment scheint es, dass ihr an der Rolle zweifelt, die ihr die ganze Zeit über innehattet, die ihr euch genommen hattet: die Anführer der freien Welt. Wollt ihr nicht mehr?
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Es gibt diesen Ton, an den sich die Welt gewöhnt hatte. Die Vereinigten Staaten von Amerika wussten, wie sie zu klingen hatten. Laut. Fest. Groß. So zum Beispiel: „Wenn wir in unserer Führungsrolle zaudern, gefährden wir den Frieden der Welt – und wir schaden mit Sicherheit der Wohlfahrt unserer eigenen Nation.“ (US-Präsident Harry S. Truman, 1947). Oder so: „Wir wissen, warum sich die Hoffnungen der Menschheit uns zuwenden: Wir sind Amerikaner; wir haben die einzigartige Verantwortung, die harte Arbeit für die Freiheit zu erledigen.“ (US-Präsident George Bush, 1991) Oder auch: „Wir stehen kurz vor einer globalen wirtschaftlichen Expansion, ausgelöst durch die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten in diesem entscheidenden Moment beschlossen haben, dass wir den Wettbewerb suchen, nicht den Rückzug.“ (US-Präsident Bill Clinton, 1993). Immer vorwärts, nie zurück.
Deshalb gibt es seit mehr als einem halben Jahrhundert keine demokratische Entscheidung, die wichtiger für das Schicksal der Welt ist als die Präsidentschaftswahl der USA,
So spricht eine Supermacht, die sich darüber im Klaren ist, dass ihre Kriege, ihre Allianzen, ihre Handelsverträge von weltpolitischer Bedeutung sind. Die Entscheidungen, die im Weißen Haus getroffen werden, mögen im Einzelfall desaströs, halbherzig oder brillant sein, sie können ganzen Erdteilen den Frieden bringen oder ganzen Städten die sichere Vernichtung; sie können Völkern das Überleben ermöglichen oder kleinere Volkswirtschaften in den Ruin treiben. Deshalb polarisieren die USA, deshalb hatten sie zeitweise die halbe Welt gegen sich. Und deshalb gibt es seit mehr als einem halben Jahrhundert keine demokratische Entscheidung, die wichtiger für das Schicksal der Welt ist als die Präsidentschaftswahl der USA. Am Dienstag dieser Woche entscheidet sich für die nächsten vier Jahre deshalb nicht nur die Agenda eines Landes.
Dort treten nun zwei Kandidaten an, die unbeliebt sind wie wenige vor ihnen: Hillary Clinton könnte zwar die erste Frau im Weißen Haus werden, verkörpert aber eine politische Klasse, die dynastisch denkt und der immer mehr Wähler misstrauen. Donald Trump wiederum ist ein brachial-populistisches Enfant terrible, ein Mann, der nicht nur seine politischen Gegner beschimpft, sondern gleich die demokratischen Institutionen selbst infrage stellt.
Hinter all dem Wahlgeschrei, den über das Gewohnte hinausgehenden Gehässigkeiten und Faktenverdrehereien ist im vergangenen Jahr etwas an die Oberfläche getreten, das die Welt noch beschäftigen wird, wenn die millionenschweren Kampagnen abgerechnet und alle Stimmen ausgezählt sind – eine Tendenz, die zusehends stärker wird: Amerika zieht sich zurück.
Das ist nicht nur ein Befund aus Wahltagen, in denen einer der Kandidaten das ökonomische Heil des Landes im Protektionismus sieht oder sich als Verfechter einer außenpolitischen Nichteinmischungsdoktrin erweist. Diese Politiker oder Präsidenten hat es immer gegeben, meist wurden ihre Versprechen, sich aus den Weltaffären heraushalten zu wollen, gebrochen: im Ersten Weltkrieg, im Zweiten Weltkrieg oder im Krieg gegen die „Achse des Bösen“.
Nein, die USA erleben einen Megatrend – und die Welt wird ihn zu spüren bekommen. Denn die amerikanische Bevölkerung ist mittlerweile mehrheitlich der Meinung, dass es eine „schlechte Sache“ sei, sich an der globalen Wirtschaft zu beteiligen. Das geht aus einer Umfrage des US-Institutes Pew Research Center hervor (49 Prozent gaben an, die Globalisierung sei schlecht, 44 Prozent der Befragten hielten sie für gut). In anderen Worten: Viele US-Bürger haben die Globalisierung satt. Nur eine Minderheit glaubt, dass Freihandelsverträge den USA Wirtschaftswachstum bringe. Was früher en vogue war, ist heute Gift. Nach China oder Indien zu expandieren, gilt vielen nun als Jobkiller.
Es mutet seltsam an, wenn ein US-Präsident betonen muss, dass er den internationalen Kapitalismus gutheißt.
Dieser Stimmung kann sich kein wahlkämpfender Politiker entziehen. Also inszenierte sich der Multimillionär und global tätige Konzernchef Donald Trump als Champion im Kampf gegen wirtschaftliche Verflechtungen jenseits der Staatsgrenzen. Er verspricht, sowohl bestehende Freihandelsverträge wie Nafta (USA, Kanada, Mexiko) als auch noch nicht ratifizierte wie das Transpazifische Partnerabkommen TPP (USA und weitere elf Anrainerstaaten des Pazifik) de facto zu beerdigen. Seine Begründung: „Wir werden beraubt.“
Die Trump’sche Ansage war wohlkalkuliert (auch wenn er die berüchtigten „Make America Great Again“-Kappen billig in China produzieren ließ). Raus aus der Welt – damit kann man in den USA heute punkten wie selten zuvor. Auch der demokratische Herausforderer von Hillary Clinton, Bernie Sanders, wollte alle internationalen Handelsverträge seit Nafta rückgängig machen. Damit brachte er die einstige Freihandelsbefürworterin dazu, ihre Linie nachzujustieren. Clinton schwor, gegen TPP zu kämpfen: „Jetzt und als Präsidentin.“
Ganz neu sind solche Töne nicht. Schon zur Jahrtausendwende waren die Institutionen der Globalisierung – allen voran die im Jahr 1995 gegründete Welthandelsorganisation WTO – in den USA höchst umstritten. Doch in den nächsten Jahren könnte die Ablehnung noch heftiger werden. Zumindest scheint das auch US-Präsident Barack Obama zu fürchten: In den letzten Wochen seiner Amtszeit versucht er, TPP durch den Kongress zu bringen, ehe seine Nachfolgerin oder sein Nachfolger das Vorhaben zu Grabe tragen können. Doch der Noch-Führer der mächtigsten Nation der Welt versucht nicht nur, bereits ausverhandelte Verträge zu retten. Im Gastbeitrag „Der Weg vorwärts“ für den britischen „Economist“ nennt er den globalen Kapitalismus den „größten Antrieb für Wohlstand und Chancen, den die Welt je gekannt hat“. In den vergangenen 25 Jahren sei der Prozentsatz der Weltbevölkerung, der in extremer Armut lebt, von 40 auf unter zehn Prozent gesunken.
Es mutet seltsam an, wenn ein US-Präsident betonen muss, dass er den internationalen Kapitalismus gutheißt. Die Währung der Globalisierung ist der Dollar, ihre Ikonen sind amerikanische Konzerne wie McDonald’s, Coca-Cola oder heute Google und Apple. Ihre Ideologie ist auch die Überzeugung, dass wirtschaftliche Beziehungen den „American Way of Life“ in die Welt tragen und den Wunsch nach Demokratie, Rechtsstaat und Freiheit nähren.
Nun scheint es, als wollten Millionen von Amerikanern aus einem Spiel ausscheiden, dessen Regeln maßgeblich von ihrer Politik, ihren Unternehmen und ihrer Kultur geprägt wurden. Der sprichwörtliche amerikanische Superheld ist drauf und dran, sein Cape an den Nagel zu hängen. Nur: Das Spiel wird deshalb nicht enden. Die Inder, Chinesen oder Brasilianer wollen weitermachen. Kein Wunder: Aus ihren Reihen stammen Hunderte Millionen, die gewonnen haben. Wenn ihnen niemand mehr Regeln vorsetzt, werden sie ihre eigenen finden.
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Die Zahlen zeigen Macht. Seit Langem geben die USA mehr Geld für ihre Armee aus als jedes andere Land der Welt: 596 Milliarden US-Dollar waren es im vergangenen Jahr, das sind 36 Prozent aller globalen Rüstungsausgaben. Das zweitplatzierte China schaffte nicht einmal die Hälfte – obwohl Washington beharrlich kürzt und Peking massiv investiert.
Erst der Kalte Krieg mit der Sowjetunion schwor sie darauf ein, sich als Verteidiger der freien Welt zu begreifen.
Ein US-Präsident steht an der Spitze einer Kommandokette, die eine riesige Maschinerie befehligt, die von Nordamerika aus in alle Kontinente reicht: Basen in Südkorea, Taiwan oder Deutschland, Drohnen über Pakistan, Patrouillenschiffe im südchinesischen Meer. Die US-Armee ist ihren Konkurrenten so überlegen, dass niemand – außer vielleicht Nordkorea – sie leichtfertig reizen würde. Trotzdem wirkte die Supermacht in den vergangenen Jahren eher konfliktscheu. Denn zu Hause ist die Stimmung gekippt, etliche US-Wähler sind kriegsmüde.
Auch wenn die militärische Intervention zum politischen Repertoire von US-Präsidenten zu gehören scheint: Die Bevölkerung selbst ist nicht immer begeistert, ihre Söhne und Töchter in ferne Länder zu schicken, deren Namen sie oft nicht einmal aussprechen können. Selbst in die beiden Weltkriege waren die USA nur widerwillig eingetreten. Erst der Kalte Krieg mit der Sowjetunion schwor sie darauf ein, sich als Verteidiger der freien Welt zu begreifen. Kaum zehn Jahre am Stück vergingen ohne gröbere Missionen – von Kuba über Kuwait bis in den Kosovo. Gingen sie schief, wurde die Bevölkerung missmutig. In den letzten Jahren des Vietnamkrieges wollten sich laut einer Pew-Umfrage rund 42 Prozent der US-Amerikaner lieber aus allen Weltangelegenheiten zurückziehen, damals ein absoluter Rekordwert.
Vor Kurzem wurde er mit 52 Prozent noch übertroffen. Nach den jüngsten verfügbaren Daten aus dem Jahr 2013 wollte erstmals mehr als die Hälfte aller US-Bürger, dass sich ihr Land ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Seit mehr als zehn Jahren hängen US-Soldaten schon in zwei kostspieligen Kriegen in Irak und Afghanistan fest. Noch mehr Truppen im Mittleren Osten für Syrien oder Libyen konnte schon Barack Obama nicht rechtfertigen.
Der Moment, der diese neue amerikanische Zurückhaltung am besten belegt, war wohl im Spätsommer 2013. Damals stand Barack Obama kurz davor, massiv in den syrischen Bürgerkrieg einzugreifen. Er hatte schon länger verkündet, dass er eine „rote Linie“ überschritten sehen würde, sobald das syrische Regime chemische Kampfstoffe gegen die eigene Bevölkerung einsetze. Die Warnung verhallte ungehört: Am 21. August verbreiteten Soldaten von Baschar Al-Assad laut UN-Berichten das Nervengas Sarin in der Stadt Ghuta. Die US-Generäle schickten sich an, der Drohung ihres „Commander in Chief“ auch die entsprechenden Taten folgen zu lassen. Doch Obama zögerte. Würden die Amerikaner verstehen, warum sie für die Syrer kämpfen sollten? Er wollte erst den US-Kongress fragen. Unterdessen handelten russische Diplomaten einen Deal mit Assad aus. Er händigte die Chemiewaffen ohne Kampf aus: ein Erfolg für alle. Doch der mächtigste Mann der Welt hatte eine Drohung ausgesprochen. Sie wirkte nun wie ein Bluff – so als wären die USA nicht bereit zu kämpfen. Und das stimmte auch.
Amerika selbst hat den Optimismus der „Greatest Nation in the World“ gegen den Selbstzweifel eingetauscht, im Wettbewerb den Kürzeren zu ziehen.
Obama blickte „in den Abgrund des Mittleren Osten und beschloss, von dieser verschlingenden Leere zurückzutreten“, schrieb das US-Magazin „The Atlantic“ über die außenpolitischen Strategie des 44. US-Präsidenten, die es „Obama-Doktrin“ taufte. Anstatt Macht auszuüben, zog er zurück, überließ Halbstarken mehr Platz. Er habe genug von „Trittbrettfahrern“, die verlangten, dass er alle geopolitischen Probleme löse, sagte Obama dem „Atlantic“. Die Kosten für eine Supermacht seien hoch, er wolle sie nicht alleine zahlen. Die außenpolitische Elite mochte die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, die US-Bürger sahen die Sache ähnlich wie ihr Präsident: Weit mehr als die Hälfte war damals laut Umfragen gegen US-Soldaten in Syrien. Donald Trump hat diese Stimmung im Wahlkampf ins Extreme weiterentwickelt. Er sagte, selbst NATO-Verbündete dürften nicht erwarten, dass die USA ihnen helfe, wenn sie angegriffen würden. Im Gegensatz dazu gilt Hillary Clinton als Interventionistin, die ihre Aufmerksamkeit wohl wieder stärker auf den Mittleren Osten richten würde. Doch Zigtausende US-Soldaten nach Syrien oder Libyen zu entsenden, müsste sie sich zweimal überlegen. Gegen den Wählerwillen wird auch sie wohl kaum handeln.
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Der Niedergang der Supermacht USA ist zum Subgenre unter den Politik-Sachbüchern avanciert. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion orakeln Experten, wann und zu wessen Gunsten Washington seine dominante Stellung in der Welt einbüßen wird. Die Titel verraten es: „Der Aufstieg der Anderen – Das postamerikanische Zeitalter“ von Fareed Zakaria; „Weltmacht USA – Ein Nachruf“ von Emmanuel Todd; „Die Rückkehr Asiens – Das Ende der westlichen Dominanz“ von Kishore Mahbubani. Sie alle gehen davon aus, dass andere Mächte – vor allem China und Indien – in den nächsten Jahren die US-Hegemonie brechen.
Doch was derzeit stattfindet, ist keine erzwungene Ablöse. Amerika selbst hat den Optimismus der „Greatest Nation in the World“ gegen den Selbstzweifel eingetauscht, im Wettbewerb den Kürzeren zu ziehen. Dieser Kleinmut ist unamerikanisch, und er ist schlecht für den Rest der Welt. Die Globalisierung kann niemand rückgängig machen, auch nicht die USA. Doch selbst eine Verlangsamung des Prozesses und ein Einflussverlust des Westens würden wesentliche Rückschritte bedeuten – zumal auch Bewegungen in Europa gerade davon träumen, sich aus dem internationalen Kapitalismus auszuklinken.
Wie sieht die Globalisierung aus, wenn die USA nur noch missmutig daran teilnehmen und auf der Bremse stehen, anstatt sie zu lenken? Man kann es nur negativ formulieren: Was dann fehlen wird, ist wohl das, was man die „westlichen“ Werte nennt. Es ist nicht auszudenken.
Hey, USA! Wir hätten es nicht für möglich gehalten, dass wir euch eines Tages dazu überreden müssen, die Führungsmacht der freien Welt bleiben zu wollen.
Präsident Obama macht noch einmal, vielleicht ein letztes Mal, Werbung für den offenen, kapitalistischen Weltmarkt: „Wir haben die Wahl. Ziehen wir uns zurück in die alten, abgeschotteten Wirtschaftsräume, oder gehen wir vorwärts und geben wir zu, dass Ungleichheit eine Folge der Globalisierung sein kann und verpflichten wir uns, dafür zu sorgen, dass die globale Wirtschaft für alle Menschen besser funktioniert, nicht nur für die an der Spitze.“ Kann er sein Volk von diesem Plan überzeugen?
Die Wahl am Dienstag wird mit Donald Trump entweder einen Präsidenten hervorbringen, der die neue amerikanische Angst vor der Welt verstärkt, oder eine Präsidentin, die sich hinreißen ließ, den Forderungen ihrer Gegner nachzugeben, um ebenfalls zu punkten. Geht es nach ihren bisherigen politischen Überzeugungen und Taten, wird sie aber wohl an der Idee der Globalisierung festhalten – wenn es die Stimmung im Volk dann noch zulässt.
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Hey, USA! Wir hätten es nicht für möglich gehalten, dass wir euch eines Tages dazu überreden müssen, die Führungsmacht der freien Welt bleiben zu wollen, den internationalen Kapitalismus voranzutreiben und den Job der Supermacht auszuüben. Eben noch waren eure Neocons – George W. Bush, Donald Rumsfeld, Dick Cheney – im Begriff, den Mittleren Osten mittels Waffengewalt zu demokratisieren. Das war eine megalomane Fehleinschätzung. Jetzt, wenige Jahre später, wollt ihr die Außenwelt lieber meiden und euch einigeln wie eine verzagte Regionalmacht. Das ist nicht die Bestimmung der Vereinigten Staaten von Amerika.
Ihr könnt es besser!