Helmut Schmidt 1918-2015: Ein Nachruf
Dass einmal die ganze deutsche Nation anlässlich des Todes von Helmut Schmidt in tiefe Trauer verfallen und eine Flut von Nachrufen den ehemaligen Bundeskanzler als "letzten großen Deutscher“ charakterisieren würde, das hätte 1982 niemand gedacht - damals, als Schmidt gestürzt wurde und endgültig von der politischen Bühne abtrat.
Geachtet war er damals vielleicht. Geliebt aber, vor allem auch in seiner eigenen Partei, der SPD, nicht. Der Widerstand gegen die von ihm forcierte Stationierung von Atomraketen in Deutschland, gegen den sogenannten NATO-Doppelbeschluss, war groß. Und als Schmidt in diesem Zusammenhang "Bündnistreue“ mit den USA forderte, konterte der damals dem linken SPD-Flügel angehörende Oskar Lafontaine mit einem legendär gewordenen Satz: "Helmut Schmidt spricht weiter von Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit und Standhaftigkeit. Das sind Sekundärtugenden. Damit kann man auch ein KZ betreiben.“
Dazu kam: Schmidts Kanzlerschaft war relativ kurz, verglichen mit der von Konrad Adenauer (14 Jahre), von Helmut Kohl (16 Jahre) und von Angela Merkel (inzwischen bereits zehn Jahre). In die acht Jahre Schmidts als deutscher Regierungschef (von 1974 bis 1982) fielen nicht so spektakuläre Errungenschaften wie sie sowohl sein Vorgänger im Amte, Willy Brandt, mit seiner Ostpolitik und sein Nachfolger Kohl mit der Wiedervereinigung vorzuweisen hatten.
Der "alte Weise" der deutschen Republik
Was also hat Helmut Schmidt in den vergangenen drei Jahrzehnten zu jenem allseits bewunderten "alten Weisen“ der deutschen Republik werden lassen, dessen Tod nun allgemein - vor allem auch von den Jungen - als großer Verlust empfunden wird?
Wahrscheinlich hat Giovanni di Lorenzo, der Chefredakteur der Wochenzeitung "Die Zeit“ - als dessen Co-Herausgeber Schmidt seit seinem Ausscheiden aus der Politik fungierte - recht, wenn er meint, dass für viele der nun im Alter von 96 Jahren Verstorbene in den vergangenen Jahren "zum Fixpunkt in einer Welt wurde, die aus den Fugen geraten ist. Während in Politik, Wirtschaft, Kirchen oder im Sport die Vorbilder eines nach dem anderen fielen - ein Deutscher blieb auf seinem Posten: Helmut Schmidt.“
Wohlgemerkt auf seinem Posten als Deuter des Weltgeschehens. Schmidt hat ja einen Rollenwechsel vollzogen. Der einstige Macher war zum Interpreten mutiert, der entscheidungsstarke Pragmatiker zum weitblickenden Analytiker der politischen Ereignisse.
Ob die Zeitläufte nun nach rechts schwenkten oder er nach links rückte - seine Sprache klang zuletzt ganz anders als noch zu seiner Zeit als aktiver Politiker. Der einstige rechte Sozialdemokrat geißelte in den vergangenen Jahren etwa die Auswüchse des Finanzkapitals so vehement, als ob er Mitglied von Attac wäre: "Einige Zigtausende Finanzhändler in USA und in Europa haben die politisch verantwortlichen Regierungen in der EU in Geiselhaft genommen“, sagte er in einer Rede vor dem SPD-Parteitag im Dezember 2011.
Und in einem großen profil-Interview im Jahr 2005 sprach er von der "Seuche derivativer Finanzmärkte“, die umso gefährlicher werde, als "die Regierungen und die Chefs der großen Banken die Risken nicht mehr überblicken“. Schon damals - also noch vor der großen Krise - propagierte er mit aller Dringlichkeit eine globalisierte Finanzmarktaufsicht: "Im 19. Jahrhundert sind nach und nach Regeln für den internationalen Seeverkehr entstanden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat man Regeln für den internationalen Luftverkehr entwickelt. Nun geht es um ein Regelwerk für den internationalen Kapitalverkehr.“
Kritik an deutscher Europapolitik
Nicht minder beeindruckend war Schmidts Haltung in der europäischen Staatsschuldenkrise: In einer einstündigen Parteitagsrede vor vier Jahren kritisierte der damals 92-Jährige scharf die deutsche Europapolitik, die in "schädlicher Kraftmeierei“ glaube, die Transferunion verhüten zu müssen, und die enormen deutschen Überschüsse in der Handels- und Zahlungsbilanz: "Das ist eine schwerwiegende Fehlentwicklung.“ Er wetterte gegen deutschen Nationalegoismus und leitete aus der Historie die Verpflichtung ab, hilfsbereit und solidarisch zu sein - letztlich auch im eigenen Interesse. Und er forderte das, was Berlin bis heute strikt ablehnt: die Etablierung eines gemeinsamen europäischen Schuldenregimes, sprich Eurobonds.
Da mögen jene Aspekte seiner Konzeption von Außenpolitik irritiert haben, in denen die Menschenrechte eine untergeordnete Rolle spielten. Schmidt war zuletzt "Putin-Versteher“, zur Pekinger Führung hatte er eine durchwegs apologetische Einstellung. Überaus glaubwürdig wurde er aber gerade durch das Spannungsverhältnis zwischen kühlem Pragmatismus, intellektueller Stringenz, Entscheidungsfähigkeit und Prinzipientreue - eine "Sekundärtugend“ Schmidts, die vor allem in der Europapolitik zutage trat.
Auch mag zu seiner Glaubwürdigkeit beigetragen haben, dass er nicht wie so manch anderer gleich nach seiner Amtszeit für viel Geld die Seiten gewechselt hat, sondern für ein vergleichsweise bescheidenes Gehalt in eine Redaktion einzog.
Kein Zweifel: Mit Helmut Schmidt ist ein Großer gegangen. Die Klage aber, dass die deutsche Historie Staatsmänner von seinem Schlag nicht mehr hervorbringt, dürfte übertrieben pessimistisch sein. Angela Merkel blickt zwar auf eine andere politische Bildungsgeschichte zurück als er, aber hat sie deswegen weniger staatsmännisches Format? Und die Kapitel, die auch Politikern wie Gerd Schröder und Joschka Fischer dereinst in den deutschen Geschichtsbüchern gewidmet werden, dürften kaum kürzer ausfallen als jene über den vergangene Woche Verstorbenen.