Nahost

„Ich will als Märtyrer sterben“

profil verfolgte 2006 einen öffentlichen Auftritt von Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah. Am Freitag wurde der Terror-Chef bei einem gezielten israelischen Angriff getötet.

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Als ich als Reporter des profil im September 2006 nach Beirut reiste, wusste ich nicht, dass ich einen der raren Auftritte von Hassan Nasrallah miterleben würde. Es hieß, das Risiko, dass der Anführer der Hisbollah durch eine militärischen Operation Israels getötet werde, sei zu groß. Er werde sich wohl nicht zeigen.

Etwas mehr als ein Monat Krieg lag damals hinter der Region. Die libanesische Hisbollah hatte zwei israelische Soldaten entführt, Israel antwortete mit Raketen- und Artillerie-Angriffen. Im schiitischen Stadtteil Dahija lagen Wohnhäuser in Trümmern, mehr als tausend Libanesen, darunter hunderte Hisbollah-Kämpfer waren tot. Doch die Hisbollah hatte eine „Siegesfeier“ angekündigt. Unweit der Zerstörung in Dahija strömten an jenem Freitag, den 22. September 2006, Menschenmassen auf einen riesigen Platz. Viele kamen zu Fuß aus den schiitischen Bezirken Beiruts, andere mit Autos und Bussen aus dem Süden des Landes. Hisbollah-Fahnen – gelb mit grünen Symbolen, darunter ein Sturmgewehr – wurden geschwenkt, Mütter trugen Fotos ihrer getöteten Söhne. Ganz vorne am Platz war eine überdachte Bühne aufgebaut. Ein Rednerpult, eine Tonanlage.

Plötzlich war er da.

„Ein Jubelschrei aus hunderttausend Kehlen schallt über den Platz, als der Mann seine Stimme erhebt, dessen bloße Anwesenheit Siegesstimmung verbreitet.“, hieß es in der profil-Reportage. Nasrallah war damals 46 Jahre alt, sein Barthaar noch von kräftigem Schwarz, sein Charisma enorm, wenn auch für Außenstehende schwer nachvollziehbar. Er trug ausnahmslos traditionelle Kleidung eines Klerikers, der er nach einem Studium islamischer Theologie im Irak und Iran auch war.

„Mein Herz, mein Gewissen und meine Seele haben es mir nicht gestattet, zu euch aus der Ferne zu sprechen!“, rief er ins Mikrofon, und die gnadenlos übersteuernde Tonanlage dröhnte seine Worte über den Platz. Seine Rede verwandelte einen sinnlosen Krieg mit vielen Opfern, der dank einer UN-Resolution geendet hatte, in eine mythisch verklärte Geschichte heldenhafter Verteidigung gegen einen Feind, der das libanesische Volk unterwerfen wolle. Der Jubel war frenetisch.

Nasrallah, 1960 in Beirut als Sohn eines Lebensmittelhändlers geboren, war seit 1992 der Führer der Hisbollah. Damals war Nasrallahs Vorgänger Said Abbas al-Musawi zusammen mit seiner Frau und einem Sohn durch eine Militär-Operation eines israelischen Kommandos ums Leben gekommen. Die Ziele der Hisbollah blieben dieselben: die Vertreibung westlicher Mächte, die Zerstörung des Staates Israel und die Errichtung einer islamistischen Theokratie nach dem Vorbild des großen Bruders – und Geld- und Waffenlieferanten – Iran.

Nasrallah schwadronierte eine Stunde lang von einem „großartigen göttlichen, historischen und strategischen Sieg“ und begeisterte die Menge mit dem Versprechen, über „20.000 Raketen“ zu verfügen.

Es war damals bereits völlig klar, dass die Hisbollah die UN-Resolution ignorieren würde, die eine Entwaffnung der paramilitärischen Terrororganisation vorsah. Zuständig dafür wäre die UNIFIL (United Nations Interim Force in Lebanon), die dafür jedoch den Auftrag der libanesischen Regierung benötigt. Diese wiederum ist der Hisbollah militärisch unterlegen, zudem agiert die islamistische Organisation auch als einflussreiche politische Partei, die Minister und Abgeordnete stellt.

Diese Situation nutzte Nasrallah geschickt aus, um ein permanentes Bedrohungsszenario für Israel aufrechtzuerhalten. Die eigene Macht und der Iran im Rücken schienen eine Art Lebensversicherung für die „Partei Gottes“ (so der Name der Hisbollah). Auf und abschwellende Raketenangriffe auf den Norden Israels waren die Folge.

Doch mit dem Krieg in Gaza begannen strategische Gewissheiten zu bröckeln. Bisherige israelische Regierungen schreckten davor zurück, entgegen dem Willen des Weißen Hauses Eskalationen zu riskieren. Die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu tut genau das. Sie widersetzt sich der Forderung nach einem Waffenstillstandsabkommen mit der Hamas und auch der nach einer Feuerpause im Libanon. Stattdessen zielte sie am Freitag auf Hassan Nasrallah, der sich in einem Hisbollah-Hauptquartier in Dahija aufhielt. US-Präsident Joe Biden war darüber nicht informiert. Am Samstag twitterte ein Sprecher der israelischen Streitkräfte, dass Nasrallah bei den Luftschlägen „eliminiert“ worden sei.

„Ich will als Märtyrer sterben, nicht als Verräter!“, hatte Nasrallah bei seiner Rede 2006 ausgerufen. Am Samstagnachmittag bestätigte die Hisbollah Nasrallahs Tod.

 

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur