Historiker Ian Kershaw über Brexit: „Es war idiotisch“
Interview: Michael Hesse
profil: Hat es Sie überrascht, wie chaotisch die Gespräche über den Brexit verlaufen sind? Kershaw: Mich hat die Hartnäckigkeit von Premierministerin Theresa May und die unsägliche Politik ihrer Regierung überrascht. Das gilt auch für einige Hardliner der Konservativen, die einen No-Deal-Brexit favorisieren. Dass es zum Brexit gekommen ist, hat mich ebenfalls überrascht: Ich glaubte bis zum Schluss der Kampagne 2016, dass die Verbleib-Seite gewinnen würde. Die Emotionalität der Debatte habe ich wie viele andere auch unterschätzt. profil: Theresa May wird vorgeworfen, dass sie den Brexit zum Desaster werden lässt. Kershaw: Als sie im Jänner 2017 klipp und klar in einer Rede sagte, dass wir aus der Zollunion und dem Binnenmarkt austreten werden, war das für mich ein Schock. Ich dachte, jetzt stellt sie sich eindeutig auf die Seite der Leute, die einen harten Brexit wollen. Wenn ein Land total gespalten ist wie Großbritannien, würde man meinen, dass der Kompromiss die am meisten Erfolg versprechende politische Strategie wäre. May hat das Gegenteil getan und sich völlig auf die Seite der Brexit-Befürworter gestellt. Die 48 Prozent, die für den Verbleib in der EU gestimmt haben, wurden völlig außer Acht gelassen. Jetzt sehen wir die Konsequenzen dieser roten Linien, die sehr früh gezogen wurden – und an die sich May trotz aller Rückschläge immer gehalten hat.
Es hat in England und Großbritannien immer schon gewisse Aversionen gegenüber der Europäischen Union gegeben.
profil: Ist der Brexit eine logische Folge der Europa-Skepsis der Briten? Kershaw: Nein, das wäre irreführend: Der Weg zum Brexit war keine Einbahnstraße. Es hat in England und Großbritannien immer schon gewisse Aversionen gegenüber der Europäischen Union gegeben. profil: Zwei Jahre nach dem Beitritt zur EG im Jahr 1973 fand sogar ein Referendum über den Wiederaustritt statt. Kershaw: Aber damals waren die Umstände ganz anders. In den 1970er-Jahren war die Labour-Party gespalten und eher gegen Europa eingestellt. Der Beitritt war ein Ja für die Zugehörigkeit zum gemeinsamen Markt. Großbritannien schwächelte in den 1970er-Jahren wirtschaftlich. Der gemeinsame Markt funktionierte, das ließ sich dem britischen Publikum verkaufen. Das war 2013, als David Cameron das Referendum in Aussicht stellte, komplett anders. Wir hatten die Finanzkrise hinter uns, es ging in der Euro-Zone ein paar Jahre lang saumäßig schlecht, und es kamen mehr Leute aus Osteuropa, als man erwartet hatte. Dadurch wurde das Thema der Zuwanderung aktuell. Durch die Flüchtlingskrise wurde es sogar Thema Nummer eins in der Öffentlichkeit. profil: Von dieser Krise war Großbritannien doch gar nicht betroffen. Kershaw: Nein, aber Großbritannien blickte trotzdem über den Ärmelkanal und war froh, noch Grenzen zu haben. Psychologisch haben die Finanz- und die Flüchtlingskrise zur Bereitschaft beigetragen, den Brexit als Option zu wählen. Der Zeitpunkt, den Cameron für das Referendum gewählt hat, war sehr ungünstig. Es war idiotisch. Wenn Sie mich fragen, wer der schlechteste Premier aller Zeiten von Großbritannien ist, dann stehen David Cameron und Theresa May zur Wahl. profil: Und wer von beiden gewinnt? Kershaw: Ich würde sagen: Theresa May.
Die Menschen sehen die damalige Zeit nicht richtig
profil: Sie beschreiben in Ihrem neuen Buch, wie schmerzhaft für Großbritannien der Verlust der Kolonien gewesen ist: Welche Rolle spielt der Phantomschmerz über den Verlust des alten Großmachtstatus für die Brexit-Thematik? Kershaw: Vordergründig keine, hintergründig jedoch schon. Wir haben den Niedergang der Großmacht vor Augen, die wir einst waren – und manche machen dafür die Tatsache verantwortlich, dass wir zur EU gehören und dadurch Teil eines größeren Gefüges sind. Ich gehöre gewiss nicht zu jenen, die so argumentieren. Aber man muss sich schon bewusst sein, dass Großbritannien eine andere Geschichte als Europa hat – und dazu gehört auch das Empire. profil: Romantisieren die Briten dieses Empire? Kershaw: Sie haben ein idealistisch gefärbtes Bild. Ich sehe heute Leserbriefe in den Zeitungen, in denen es heißt, dass die 1970er-Jahre doch eine gute Zeit ohne die EU gewesen seien. In Wahrheit ging es dem Land damals ziemlich dreckig. Die Menschen sehen die damalige Zeit nicht richtig.
Es kann sich zum Positiven wenden, aber es kann genauso gut schiefgehen.
profil: Sie beschreiben in Ihrem neuen Buch, wie Europa auf der Asche des Zweiten Weltkrieges zusammengewachsen ist. Besteht die Gefahr, dass dieses über Jahrzehnte zusammengewachsene Europa nun auseinanderfliegen könnte? Kershaw: Die Gefahr besteht. Das darf man nicht ignorieren. Die EU muss Wege finden, sich zu reformieren. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat einige Vorschläge in diese Richtung gemacht. Aber er erhält keine positiven Reaktionen aus den anderen Ländern. Wohin die Reise geht, bleibt ungewiss. Es kann sich zum Positiven wenden, aber es kann genauso gut schiefgehen. Es gibt die Gefahr, dass es zu einer Zersplitterung kommt und die EU zusammenbricht. Es ist nicht ausgemacht, dass sie das Recht auf ewiges Bestehen hätte. profil: Sie sind mit Ihrer monumentalen Biografie über Adolf Hitler bekannt geworden. War es danach eine schöne intellektuelle Tätigkeit, über das Nachkriegseuropa zu schreiben, dessen Blüte sich entfaltete? Kershaw: Das war erlösend. Endlich weg von Hitler! Andererseits war es keine leichte Aufgabe. Es war verdammt schwer, das Buch zu schreiben. Ich kann aber sagen, dass ich viel dabei gelernt habe. Dass ich Hitler hinter mir gelassen habe, war eine Erleichterung. Allerdings bin ich nun von Hitler zum Brexit gekommen. Jetzt muss ich nur noch den Brexit hinter mir lassen.
Zur Person
Ian Kershaw, 76, wurde als Historiker mit einer monumentalen Biografie über Adolf Hitler und umfangreichen Studien zum Nationalsozialismus bekannt. Zuletzt veröffentlichte er eine zweiteilige Geschichte Europas seit Beginn des Ersten Weltkrieges: „Höllensturz“ beschäftigt sich mit den Jahren von 1914 bis 1949, der jüngst erschienene Nachfolgeband „Achterbahn“ mit der Zeit von 1950 bis zur Gegenwart.