Historikerin und NATO Expertin: „Putin ist von Geschichte besessen“
Hat der Westen Russland versprochen, die NATO nicht weiter nach Osten auszudehnen? Putin sagt Ja und legitimiert damit den Krieg in der Ukraine. Alles ein Missverständnis, so die US-Historikerin Mary Elise Sarotte.
Das Buch ist auf Deutsch bei C.H. Beck erschienen
Das Buch
Die US-Historikerin Mary Elise Sarotte ist Professorin für Zeitgeschichte an der Johns Hopkins University School of Advanced International Studies. Sarotte hat sich wie niemand sonst in ihrem Fach mit der Geschichte der NATO-Osterweiterung beschäftigt. Für ihr Buch "Nicht einen Schritt weiter" (Deutsche Fassung 2023, C.H Beck) hat sie zwei Jahrzehnte lang um die Freigabe von Dokumenten gekämpft.
Vor zwei Jahren hat Russland die Ukraine überfallen. Sie haben kurz davor, im Herbst 2021, vor einem solchen Szenario gewarnt und einen Kommentar an Redaktionen geschickt. Niemand hatte Interesse, ihn zu veröffentlichen. Wie kann das sein?
Sarotte
Ich will nicht so tun, als wäre ich eine Hellseherin. Ich bin promovierte Historikerin. Mit dem Thema der NATO-Osterweiterung und dem Kalten Krieg befasse ich mich seit Jahrzehnten. Genauer gesagt, seitdem ich 1989 als Austauschstudentin nach West-Berlin gekommen bin.
Deswegen können Sie auch so gut Deutsch.
Sarotte
Von daher rührt mein Interesse an deutscher Geschichte. Ich habe ein Buch über den Mauerfall geschrieben und über die deutsche Wiedervereinigung. Als ich diese Bücher recherchierte, bin ich über Quellen zur NATO-Osterweiterung gestolpert. Damals war die gängige Meinung
Sie haben jahrelang darum gekämpft, Dokumente über die Verhandlungen nach 1989 zu bekommen. Wie genau?
Sarotte
Dafür musste ich die Quellen deklassifizieren lassen. Mir war klar, das würde lange dauern, aber das machte mir nichts aus. Ich bin ja Professorin und habe noch andere Projekte. 2005 begann ich, Anträge auf Freigabe von Quellen zu stellen, und zwar in mehreren Ländern. 2018 gelang es mir, alle Quellen von den Gipfeln zwischen Bill Clinton (Anm. US-Präsident 1993–2001) und Boris Jelzin (Anm. Präsident Russlands 1991–1999) einzusehen. Damals hat sich sogar der Kreml beschwert, weil die Quellen Informationen über amtierende Politiker enthalten.
Gemeint war der Russlands Präsident Wladimir Putin, richtig?
Sarotte
Genau. Ich dachte mir: Oh mein Gott, wenn sich der Kreml beschwert, dann müssen die Quellen gut sein. Und das waren sie auch.
Hat Ihnen der Kreml ein E-Mail geschrieben, oder wie beschwert sich das offizielle Russland über eine Historikerin in Washington?
Sarotte
Putins Sprecher Dmitri Peskow hat eine Pressemitteilung aufgesetzt und eine Beschwerde an die Präsidentschaftsbibliothek von Bill Clinton geschrieben. Zurück zur eigentlichen Frage: Bei der Bearbeitung dieser Quellen sind mir zwei Dinge aufgefallen. Erstens: Putin ist von der Geschichte besessen. Zweitens: Er zelebriert gerne gewisse historische Daten mit Gewalt.
Können Sie ein paar Beispiele nennen?
Sarotte
Da ist zum Beispiel Anna Politkowskaja. Sie war eine mutige russische Journalistin, die als Korrespondentin aus Tschetschenien berichtete. Eines Tages, im Jahr 2006, ging sie am Abend nach Hause und wurde in Moskau aus kurzer Entfernung niedergeschossen. Das Datum war der 7. Oktober, Putins Geburtstag. Noch ein Beispiel sind die von Russland gehackten E-Mails von Hillary Clinton, die 2016 während des US-Präsidentschaftswahlkampfes veröffentlicht wurden, ebenfalls an Putins Geburtstag. Ich könnte noch viele weitere Beispiele nennen. Als ich nach einem passenden Veröffentlichungstermin für mein Buch suchte und in den Kalender blickte, fiel mir auf, dass sich im Dezember 2021 die Unabhängigkeit der Ukraine zum 30 Mal jährt. Ich war mir sicher, dass Putin dieses Datum nicht ignorieren würde. Das ganze Jahr 2021 hindurch hat Putin Truppen an der Grenze der Ukraine zusammengezogen. Ich dachte mir: Oh mein Gott, jetzt passiert es. Mein Buch war gerade in Druck, also beschloss ich, einen Kommentar zum Thema zu schreiben.
Ich glaube nicht, dass wir Historiker die Zukunft voraussehen können. Aber ich glaube, wir können uns auf die Zukunft vorbereiten, indem wir Muster aus der Vergangenheit richtig erkennen.
Mary Elise Sarotte
Darin heißt es: „Putin handelt wie ein Mann, der drei Jahrzehnte nach einer bitteren Trennung noch nicht losgelassen hat und sich zurückholen will, was er für sein rechtmäßiges Eigentum hält.“
Sarotte
Ich glaube nicht, dass wir Historiker die Zukunft voraussehen können. Aber ich glaube, wir können uns auf die Zukunft vorbereiten, indem wir Muster aus der Vergangenheit richtig erkennen. Das habe ich getan. Ich wusste natürlich nicht, was Putin machen würde. Aber ich war mir sicher, er würde etwas machen. Die russischen Truppen waren bereits Monate zuvor, zum Jahrestag des Zerfalls der Sowjetunion, startbereit. Das ist jetzt reine Spekulation, aber ich glaube, der Grund, warum es bis Februar dauerte, hat mit China zu tun.
Warum denn das?
Sarotte
Im Februar 2022 fanden in China die Olympischen Winterspiele statt. Dazu muss man wissen: Im Jahr 2008 waren es die Olympischen Sommerspiele gewesen. Damals hat Putin Georgien angegriffen. Das hat den Chinesen die Show gestohlen. Nicht das Sportereignis, sondern der Angriff dominierte die Schlagzeilen. Die Chinesen haben Putin anscheinend klargemacht: Greif nicht noch einmal ein Land kurz vor unserer Olympiade an! Putin braucht die Chinesen. Ich weiß noch, wie ich im Februar 2022 die Winterspiele verfolgte und ein schlechtes Gefühl hatte, als ob es jeden Tag so weit sein könnte.
Die Winterspiele endeten am 20. Februar. Vier Tage später griff Russland die Ukraine an, und der Krieg begann.
Sarotte
Am 24. Februar 2022 meldeten sich alle Zeitungen, die meinen Kommentar abgelehnt hatten, bei mir. Plötzlich wollten alle Analysen von mir. Bis heute bekomme ich sehr viele Anfragen. Für mich zeigt das, welchen Wert Geschichtsschreibung hat. Ich fühle mich als Analytikerin bestätigt, aber als denkender Mensch bin ich auch betroffen. Ich hatte mir nicht gedacht, dass es in der Ukraine so schlimm werden würde.
Ich fühle mich als Analytikerin bestätigt, aber als denkender Mensch bin ich auch betroffen.
Kurz vor Kriegsbeginn hielt Putin eine lange Rede. Der Westen habe sein Versprechen, die NATO nicht auf die Länder Osteuropas auszudehnen, gebrochen. Was ging Ihnen durch den Kopf? Sie wissen ja, was wirklich in den Dokumenten steht.
Sarotte
Bevor ich darauf antworte: Es ist nicht das erste Mal, dass Putin so etwas gesagt hat. Noch einmal: Er ist von der Geschichte besessen. Bereits am 23. Dezember 2021, kurz vor Weihnachten, gab er eine Pressekonferenz, in der er die Redewendung „Nicht einen Schritt weiter nach Osten“ benutzte.
Das ist der Titel Ihres Buches.
Sarotte
Mein Buch war da eben erschienen, und ich bekam wahnsinnig viele Anfragen per E-Mail und auf Twitter. Die Menschen haben das Zitat gegoogelt und sind auf mein Buch gestoßen. Es war Heiliger Abend. Ich musste noch Geschenke kaufen und einpacken. Also beschloss ich, einen Twitter-Thread zu veröffentlichen, anstatt allen einzeln zu antworten. Ich stellte die wichtigsten Quellen zusammen. Das hat vier Stunden gedauert. Dann schaltete ich alle Geräte ab. Als ich am Abend des 24. Dezember wieder online ging, war aus meinem Thread ein „New York Times“-Artikel geworden, so groß war das Interesse.
Sie sagen: Putin setzt Geschichte als Waffe ein. Man muss ihn entwaffnen. Wie?
Sarotte
Ich habe Putin nie persönlich getroffen. Ich bin Wissenschafterin. Alles, was ich in meinem Buch sage, ist mit einer Quelle belegt. Wer meine Quellen überprüfen will, kann das machen. Bevor das Buch in Bearbeitung ging, habe ich noch einmal alle Zitate in den Originalquellen überprüft. Das allein hat sechs Wochen gedauert. Wenn mir Leser schreiben, dass dies oder das nicht stimmt, kann ich mit Sicherheit sagen: Doch, tut es.
Zurück zu Putins zentralem Vorwurf. Hat der Westen Moskau versprochen, sich nicht weiter nach Osten auszudehnen?
Sarotte
Man muss sich zuerst die Frage stellen: Was ist ein Versprechen? Das ist eher eine psychologische als eine historische Frage. Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was in den Verhandlungen diskutiert und dem, was tatsächlich im Vertrag fixiert wurde. Und das ist der Kern dieser Kontroverse. Während der Verhandlungen wurde hypothetisch über die Idee gesprochen, dass sich die NATO nicht erweitern könnte. Warum? Deutschland war damals noch geteilt. Im geteilten Berlin gab es noch die vier Siegermächte, weil Nazi-Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg bedingungslos kapituliert hatte.
Der Westen und insbesondere Berlin brauchten die Sowjetunion, um die deutsche Wiedervereinigung überhaupt möglich zu machen?
Sarotte
Damit es zu einer Wiedervereinigung kommen konnte, mussten die vier Siegermächte ihre juristischen Rechte aufgeben. Sonst wäre das vereinte Deutschland nicht souverän gewesen. Das war das Problem Nummer eins. Das zweite Problem: Die Sowjetunion hatte fast 400.000 Soldaten auf dem Territorium der DDR. Der sowjetische Staatschef Michael Gorbatschow war stark angeschlagen und schwach. Sein Land ging durch Turbulenzen, und heute wissen wir: Es stand kurz vor dem Zerfall. Trotzdem hatte Gorbatschow starke Karten in der Hand, nämlich die unbestreitbaren juristischen Rechte der Sowjetunion aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges und die sowjetischen Truppen. Die Frage war: Was will er im Austausch, um diese Karten aus der Hand zu geben? Es gab mehrere Gespräche darüber, und dabei wurde auch hypothetisch über die Frage gesprochen: Was, wenn sich die NATO nicht mehr erweitert?
In Ihrem Buch beschreiben Sie ein Schlüsselereignis. Am 9. Februar 1990 traf sich der US-Außenminister James Baker mit dem sowjetischen Staatschef Gorbatschow. Baker stellte eine Frage in den Raum, die Putin bis heute für sich nutzt. Was wäre, wenn sich die NATO nicht nach Osten erweitern würde?
Sarotte
James Baker war der Erste, der über diese hypothetische Frage sprach. Aber Präsident George H. W. Bush hat ihn zurückgepfiffen. Bush stellte damals gewissermaßen klar: Ich bin Präsident der USA, nicht du. Er betonte, dass die NATO bleiben müsse und der Westen nicht mit der Sowjetunion über ihre Zukunft verhandeln könne. Baker sagte: Okay, du bist der Chef. Er schrieb eine Note an das Auswärtige Amt in Bonn, dass Diplomaten das Versprechen eines Erweiterungsverbots nicht mehr wiederholen sollten.
Aber gewissermaßen war der Geist aus der Flasche und wirkt bis heute als Moskaus Mythos nach. Zum Nachteil der Ukraine.
Sarotte
Ja, denn nicht nur Baker, sondern auch der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl sprach von diesem hypothetischen Erweiterungsverbot. Präsident Bush konnte Kohl nicht zurückpfeifen wie seinen Außenminister James Baker. Also lud er den deutschen Kanzler in sein Wochenendhaus nach Camp David ein. Das war eine besondere Ehre. Am Wochenende sprachen sie vor dem Kamin miteinander. Bush stellte klar: Wir haben den Kalten Krieg gewonnen, nicht die Sowjetunion. Die Idee, mit Moskau über die Zukunft der NATO zu verhandeln, schloss er aus. Kohl sagte: Dann müssen wir Gorbatschow etwas anbieten.
Und das waren keine Sicherheitsgarantien, wie Ihr Buch zeigt, sondern Geld.
Sarotte
Richtig. Das Zugeständnis war keine Frage der NATO, sondern eine Geldsache. Davon rührt auch der Satz Bushs zu Kohl, dass dieser „tiefe Taschen“ habe. In dem Moment entwickelte sich die Strategie, die Sowjetunion hinauszukaufen. Jetzt kommen wir zur Frage, was vertraglich schlussendlich fixiert wurde.
Bush betonte, dass die NATO bleiben müsse und der Westen nicht mit der Sowjetunion über ihre Zukunft verhandeln könne
Sie sprechen vom sogenannten Zwei-Plus-Vier-Vertrag. Was besagt dieser?
Sarotte
Im Zwei-Plus-Vier-Vertrag steht klar festgeschrieben: Die NATO darf sich erweitern, auch jenseits der Linie vom Kalten Krieg. Moskau hat diesen Vertrag ratifiziert und dafür Geld kassiert. Da waren Profis am Werk. Es ging um die Wiedervereinigung Deutschlands und das Ende des Zweiten Weltkrieges. Es ist also nicht so, als hätte man vergessen, irgendwas aufzuschreiben. Bei einer Sache muss man aber ehrlich sein. Es gibt Menschen, die behaupten, das Thema eines Erweiterungsstopps der NATO kam nie auf. Das stimmt nicht. Als Historikerin halte ich aber nur das, was am Ende vertraglich ratifiziert worden ist, für wichtig. Das ist bis heute geltendes Recht.
Was sagen Sie zu dem Vorwurf, dass sich die NATO zu schnell ausgebreitet hat?
Sarotte
Die Kritik, die ich kenne, ist eher gegen die Erweiterung insgesamt. Wie ich im Buch beschreibe, bin ich eine Unterstützerin der Erweiterung, finde aber, die Methode war problematisch.
Können Sie das ausführen?
Sarotte
Die Art der Erweiterung hat die Ukraine außen vor gelassen. Die Quellen zeigen: Schon damals erkannten Politiker, dass die Ukraine eines Tages Probleme mit Russland haben könnte. Aber es ist trotzdem passiert, mit den Folgen, die wir heute erkennen.
Was würde eine Rückkehr Donald Trumps für die Sicherheit Europas bedeuten?
Sarotte
Statt von „der Sicherheit“ allgemein zu sprechen, würde ich eher von „der NATO“ reden. Trumps Rückkehr könnte die Mitgliedschaft der USA in der NATO infrage stellen. Ich bin keine Unterstützerin von Donald Trump und will, dass die USA in der NATO bleibt. Man muss über dieses Problem schon jetzt nachdenken.