Hongkong: Es war einmal ihre Stadt

China erhöht den Druck auf Hongkong. Eine Generation, die von Freiheit und Demokratie träumt, hält dagegen. Wer nicht im Gefängnis sitzt, macht im Exil weiter.

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Es war kurz nach dem chinesischen Neujahrsfest im Februar 2016, als sich Ray Wong an einem geheimen Ort verschanzte, um eine sechs Minuten lange Sprachnachricht aufzunehmen, sein digitales Testament. „Postet das im Internet, für den Fall, dass ich nicht mehr auftauche“, schreibt der damals 23-Jährige an seine Parteimitglieder.

Zu jenem Zeitpunkt sind viele seiner Freunde bereits festgenommen worden. Jetzt schwärmen Polizisten aus, um Ray Wong zu suchen. Sie klopfen an die Wohnungstür seiner Mutter: „Wenn Ihr Sohn weitermacht, dann verschwindet er.“

Verschwunden ist Ray Wong tatsächlich. Allerdings nicht im Gefängnis, sondern nach Übersee. Er sitzt heute in einer Stadt im deutschen Niedersachsen, die mit dem Ort, an dem er aufgewachsen ist, nichts gemeinsam hat. Hongkong, einst ein kleines Fischerdorf, ist heute eine Metropole, die fast so viele Einwohner zählt wie Österreich und mehr Wolkenkratzer als New York. Göttingen hat nicht mal einen eigenen Flughafen. Das höchste Gebäude ist das Rathaus.

Der Grund, warum Ray Wong im November 2017 nach Göttingen flüchtete und sechs Monate später politisches Asyl bekam, hat damit zu tun, dass Hongkong keine gewöhnliche asiatische Metropole ist. Es ist eine Stadt zwischen zwei Welten, die zum Schauplatz eines historischen Kräftemessens geworden ist. Auf der einen Seite Millionen Menschen, die seit 2014 für Freiheit und Demokratie auf die Straße gehen. Auf der anderen Seite China, ein autoritärer Staat und die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, die diese Bürgerrechte beschneidet. Der aus Hongkong stammende Schriftsteller Chip Tsao hat seine Stadt als den Schauplatz eines „Showdowns“ zwischen der westlichen Zivilisation und dem „letzten kommunistischen Imperium im Fernen Osten“ bezeichnet.

Das macht Ray Wong zu einem Politikum. Nach seiner Flucht warf Peking Deutschland vor, „Kriminellen“ Unterschlupf zu gewähren. Für die westliche Staatengemeinschaft hingegen ist Ray Wong der lebende Beweis dafür, dass Xi Jinping, seit 2013 Präsident Chinas, ein Versprechen gebrochen hat, das auf das Jahr 1997 zurückgeht. Damals gab Großbritannien seine Kronkolonie Hongkong an China zurück (siehe Zeitstrahl). Man einigte sich auf das Prinzip „ein Land, zwei Systeme“. Dieses sieht vor, dass Hongkong als Sonderverwaltungszone bis 2047 wirtschaftliche und politische Autonomie genießt. Darunter fällt auch die Presse- und Versammlungsfreiheit. „Damit ist es auf jeden Fall vorbei“, sagt Katja Drinhausen, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Mercator Institut für China-Studien (Merics).

Drinhausen hat zwölf Jahre in Peking gelebt und geforscht. Sie kennt die Rhetorik des Regimes, etwa die Warnung, Hongkong sei „ausländischen Kräften“ zum Opfer gefallen. „Für ein autoritäres Regime gibt es keine größere Herausforderung, als wenn Millionen Menschen auf die Straße gehen“, sagt Drinhausen, „und Peking hat gezeigt, dass es bereit ist, hart dagegen vorzugehen.“ Für Drinhausen war das ein absehbares Szenario, gleichzeitig findet sie es „erschreckend“, wie schnell in Hongkong „Fakten geschaffen“ wurden. Das jüngste Beispiel: eine am 11. März auf dem Weg gebrachte Wahlrechtsreform. „Peking will damit sicherstellen, dass Hongkong nur noch von sogenannten Patrioten regiert wird, also von Menschen, die das politische System der Volksrepublik unterstützen.“ Menschen wie Ray Wong, so Drinhausen, werden in Chinas Presse als „Unruhestifter“ und als „Gewalttäter“ dargestellt.

Ray Wong, der heute in Göttingen Politikwissenschaften studiert, schaut kein chinesisches Fernsehen. „Das ist Zeitverschwendung“, sagt er. Er nutze die Zeit lieber für sinnvolle Tätigkeiten, zum Beispiel seinen Intensivsprachkurs. Mittlerweile spricht er fließend Deutsch und hat in Göttingen gute Freunde gefunden. 

Hinter Wongs heiterer Fassade verbirgt sich ein schweres Los: „Ich stehe auf einer „Wanted List“ der Polizei in Hongkong“, erzählt er „und habe den Kontakt zu meiner Familie abgebrochen.“ Um seine Mutter zu schützen, hat er sich nie richtig von ihr verabschiedet.

Dieses Schicksal teilt Wong mit vielen Hongkong-Aktivisten im Exil, eine schnell wachsende und vernetzte Gruppe, unter der auch bekannte Gesichter der Demokratiebewegung zu finden sind. Ray Wong, der 2015 eine Partei namens „Hongkong Indigenous“ gegründet hat, ist einer von ihnen. Auch Nathan Law, 27, der jüngste Abgeordnete in der Geschichte Hongkongs, musste sich ins Ausland absetzen. Ebenso die Aktivistinnen Joey Siu, 22, und Glacier Kwong, 24, die heute in den USA und in Deutschland leben.

Der britische Journalist Ben Bland hat diesen Mittzwanzigern 2017 ein Buch namens „Generation Hongkong. Identitätssuche im Schatten Chinas“ gewidmet. Anders als ihre Eltern, so Bland, wuchsen sie als Kinder nicht in der britischen Kolonie auf. Gleichzeitig ist ihnen die Lebensweise in Festlandchina fremd. Mehr noch: Sie jagt ihnen Angst ein. Sie sind mit einem freien, unzensierten Internet groß geworden und haben von einem westlich-liberalen Erziehungssystem profitiert. Jetzt, wo diese Errungenschaften auf dem Spiel stehen, sind sie alarmiert. Ihre Forderungen sind simpel. „Ich möchte nicht, dass die nächste Generation in einem autoritären Staat aufwächst“, sagt Ray Wong. In einer Zeit, in der illiberale Tendenzen auf dem Vormarsch sind, überzeugt das Menschen auf der ganzen Welt, die in ihren Ländern dasselbe Gefühl umtreibt: in Myanmar, Belarus, Russland und, wenn auch in schwächerer Form, in Europa.

Die „Generation HK“ hat sich weltweit Gehör verschafft wie keine andere. Aus störrischen Teenagern, die den Campus ihrer Universitäten besetzten, wurden junge Erwachsene, denen Politiker auf der ganzen Welt zuhören.

Nathan Law war 2019 für den Friedensnobelpreis nominiert. Im März sagte er als Zeuge im US-Senat aus. Die Aktivistin Joey Siu ist in der Hongkong-Dokumentation „Do not split“ zu sehen, die für einen Oscar nominiert wurde. Vergangene Woche kündigte die Regierung in Peking an, die Verleihung deswegen nicht im Fernsehen zu übertragen. Ihre Mitstreiterin Glacier Kwong schreibt eine Kolumne in der deutschen Tageszeitung „Die Welt“. Ray Wong hat von Göttingen aus ein Magazin mitbegründet, das Exil-Aktivisten auf der ganzen Welt vernetzt.

profil hat mit diesen vier jungen Menschen Interviews geführt. Wie sieht ihr Leben im Exil aus und wie steht es um die Stadt, die sie zurücklassen mussten? 

Die Mittzwanziger leben in Washington, Hamburg, Göttingen und London, also auf drei Zeitzonen verteilt. Sie kennen einander, wenn nicht von der Straße in Hongkong, dann zumindest über Instagram. Nicht immer waren sie einer Meinung. Nathan Law gilt als Pragmatiker und Anhänger des friedlichen Widerstands. Glacier Kwong und Ray Wong hingegen finden es legitim, auch mit gewaltvollen Mitteln zu protestieren.

Was sie eint, ist ein gemeinsames Erweckungserlebnis: die Regenschirmrevolution von 2014, bei der über eine Millionen Menschen für freie Wahlen auf die Straße gingen und drei Monate lang Hongkongs Finanzbezirk besetzten. Der Name kommt daher, weil sich die Demonstrierenden mit Regenschirmen gegen das Pfefferspray der Polizei schützen. Mit dem Reizstoff, der wie Feuer in Augen und Rachen brennt, ist diese Generation erwachsen geworden.

Hamburg, 16:00 Uhr, Mitteleuropäische Zeit (MEZ)

„Du gewöhnst dich an den Geruch von Tränengas“, sagt Glacier Kwong, 24, und erinnert sich, wie er sie auch dann verfolgte, wenn sie den ganzen Tag eine Gasmaske trug. Legte sie zu Hause die Kleider ab, waren die Arme rot vom Reizstoff.

Früher wollte Glacier Kwong Theaterschauspielerin werden. Heute promoviert die 24-Jährige an der Universität Hamburg im Fach Jus und trifft sich mit Abgeordneten von den Christdemokraten bis zur Linken. „Was können wir tun?“, ist die Frage, die sie der jungen Frau am häufigsten stellen. „Macht euch dafür stark, dass eure Regierung Sanktionen und diplomatische Maßnahmen gegenüber China erlässt“, antwortet Kwong dann.

In Gastbeiträgen setzt sie sich für die Freilassung ihres Freundes Joshua Wong ein, der seit Dezember 2020 in einem Hochsicherheitsgefängnis auf einer von Hongkongs Inseln sitzt. Auch der US-Außenminister Antony Blinken fordert seine Freilassung.

Wong, 24, ein unscheinbarer, schmächtiger Junge mit Brille, galt als Poster Boy der Protestbewegung. Er war auf dem Cover des US-Magazins „Time“, und der Streaming-Anbieter Netflix widmete ihm einen Dokumentarfilm mit dem Titel „Teenager gegen Supermacht“. Ähnlich wie die schwedische Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg hat er gezeigt, was eine Jugendbewegung auf friedlichem Weg erreichen kann. Zu Beginn hat das Glacier Kwong nicht überzeugt: „Joshua war mir zu moderat“, gibt sie zu. Dann änderte sie ihre Meinung: „Es spielt keine Rolle, ob wir gemäßigt oder radikal sind, denn in den Augen der Stadtregierung sind wir am Ende alle Verräter.“ Als ihr Joshua 2018 eine Nachricht auf Instagram schreibt, antwortet sie ihm sofort. 2019 gehen sie gemeinsam auf Deutschland-Tour. Joshua Wong schüttelt dem deutschen Außenminister Heiko Maas die Hand, Kwong steht daneben. Bei einem öffentlichen Auftritt sagt Joshua später den Satz: „Hongkong ist das neue Berlin im Kalten Krieg.“ Pekings Botschafter in Berlin war darüber äußerst verärgert.

profil sandte der Chinesischen Botschaft in Wien vier Fragen. Eine davon lautet: Wie wird der mittlerweile inhaftierte Joshua Wong in Peking gesehen? Die Antwort lautet: „Joshua Wong ist kein Menschenrechtsaktivist, sondern Anführer der separatistischen Kräfte für die Unabhängigkeit von Hongkong. Er hat mit externen Kräften kollaboriert, zu Gewaltanwendung gehetzt, ungenehmigte Ver- sammlungen organisiert sowie Sicherheit, Stabilität und Ordnung von Hongkong schwer beschädigt.“

Glacier Kwong findet, dass sich China mit einer solchen Rhetorik am Ende selbst schade: „Joshua hat nie die Unabhängigkeit Hongkongs gefordert, sondern für fundamentale Bürgerrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit gekämpft.“ Um solche Sätze aussprechen zu können, hat Glacier Kwong den Kontakt mit ihrer Familie abgebrochen. Manchmal, erzählt sie, fühle sie sich schuldig: „Ich habe mir ausgesucht, Aktivistin zu sein, aber meine Eltern haben sich keine Tochter ausgesucht, die Aktivistin ist.“

London, 12:30 Uhr, Greenwich Mean Time (GMT)

„Können wir das Interview ohne Kamera machen?“, bittet Nathan Law. Ob aus Eigenschutz oder weil sein Tag mit Online-Calls vollgepackt ist, lässt er offen. „Ich habe 20 Minuten Zeit“, sagt er und kommt sofort zur Sache: „Die Festnahme von Joshua hat viele wütend gemacht, aber unsere Bewegung hat keinen Anführer und lässt sich nicht so einfach brechen.“ Law war in Hongkong erst auf der Straße, dann im Parlament und schließlich im Gefängnis. Im Juli 2020, als das nationale Sicherheitsgesetz verabschiedet wurde, stieg er in ein Flugzeug und kehrte der Stadt den Rücken. In London wechselt er aus Sicherheitsgründen regelmäßig seinen Wohnort. Ob er jemals nach Hongkong zurückkehren kann, weiß er nicht.

Nathan Law, ein 27 Jahre alter Abgänger der US-Universität Yale, hat mit Joshua Wong eine Partei namens „Demosisto“ gegründet. 2016 zog er als jüngster Abgeordneter in Hongkongs Parlament ein, verlor sein Amt aber bald wieder, weil er die Eidesformel, bei der China die Treue geschworen werden muss, infrage stellte.

Jetzt beobachtet er von London aus, wie Peking den Druck weiter erhöht, zuletzt mit der Wahlrechtsreform. Könnte jemand wie er heute noch kandidieren? „Das ist unmöglich“, sagt Law, „denn Peking hat ein Auswahlverfahren eingeführt, das Kandidaten aus dem Pro-Demokratie-Lager disqualifiziert.“ Auch die Expertin Katja Drinhausen vom Merics-Institut beobachtet die Reform mit Sorge: „Personen, die in der Vergangenheit wegen Protesten festgenommen wurden, kommen als Kandidaten nicht mehr infrage. Möglicherweise wird auch das Online-Verhalten eine Rolle spielen, also wer ein Like unter einen Social-Media-Post der Protestbewegung gesetzt hat.“

Washington, 13:30 Uhr, Eastern Standard Time (EST)

Joey Siu, 22, ist die jüngste Aktivistin, mit der profil gesprochen hat. Bei ihrem ersten Protest war sie 15 Jahre alt. Ihre Familie beschreibt sie als traditionell und „eher streng“. Als Kind durfte sie keine Zeichentrickserien sehen und als Jugendliche nicht an der Regenschirmrevolution teilnehmen. „Also habe ich mich nach dem Unterricht auf die Straße geschlichen, um wenigstens für ein paar Stunden dabei zu sein“, erinnert sich Siu. Zu Hause habe sie gelogen, dass sie für Prüfungen gelernt hätte. Siu ist eigentlich US-Amerikanerin. Sie wurde 1999 in North Carolina geboren, hat aber ihre gesamte Kindheit und Jugend in Hongkong verbracht. „Ich habe nie darüber nachgedacht, von dort wegzugehen“, sagt sie heute.

Dann kam der Morgen des 23. August 2020. Mitten im Meer, 70 Kilometer südöstlich von Hongkong, hatte die Küstenwache zwölf Aktivisten der Demokratiebewegung bei dem Versuch aufgegriffen, mit einem Schnellboot nach Taiwan zu fliehen. Der Jüngste von ihnen war 16 Jahre alt und wurde nach Hongkong zurückgebracht. Der Rest wurde in Festlandchina unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor Gericht gestellt und bekam Haftstrafen zwischen sieben Monaten und drei Jahren.

Zu diesem Zeitpunkt sieht Siu keinen Sinn mehr darin, in der Stadt zu bleiben. „Es konnten keine Proteste mehr stattfinden, und wenn wir in der Stadt Flugblätter verteilten, waren wir sofort von Polizisten umgeben, die uns Strafen nach dem Sicherheitsgesetz angedroht haben.“ Dass sie ins Exil geht, erzählt sie nur zwei Freunden. Für den Fall, dass sie am Flughafen festgenommen wird, aber auch, weil sie „niemanden traurig machen“ will. Gezweifelt habe sie nie, sagt Siu, und das gelte für viele junge Menschen ihrer Generation: „Wenn dir deine Heimat weggenommen wird, dann machst du dir keine Gedanken über deine Zukunft“. Ähnliche Sätze hört man im Gespräch mit Exil-Hongkongern oft. Sie verknüpfen ihr Schicksal mit dem ihrer Stadt, als handle es sich nicht um eine Ansammlung aus Stahl und Beton, sondern um einen lebenden Organismus, ohne den sie nicht atmen können.

An einen Sieg der Demokratie in Hongkong glaubt Siu heute nicht mehr. „Peking ist bereit, einen hohen Preis für Hongkong zu zahlen“, sagt sie. Für Sanktionen wirbt Siu dennoch. Der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sie einen Brief geschrieben. Der Hintergrund: Die EU ist gerade dabei, ein umfangreiches Investitionsabkommen mit China fertigzustellen.  Siu sieht darin einen Widerspruch. „Viele europäische Länder, insbesondere Frankreich und Deutschland, schreiben Menschenrechte groß auf ihre Fahnen, opfern diese Werte aber zugunsten ihrer Wirtschaftsinteressen.“ Schon jetzt lässt sich ihrer Meinung nach beobachten, wie die EU immer weiter in die Abhängigkeit Chinas gerate.

„Angesichts der Größe und des Potenzials der chinesischen Wirtschaft und eines Marktes mit 1,4 Milliarden Konsumenten besteht aus EU-Sicht großes Potenzial“, heißt es in einer Presseaussendung der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich. Siu findet den Zeitpunkt dafür fatal. Nach allem, was in ihrer Stadt passiert ist.

 

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.