"Ich bin gerettet, aber meine Seele findet keinen Frieden"
Am 15. August 2021 sperrte Abdul Ghafoor in Kabul sein Büro auf. Wie jeden Tag. Die Taliban hatten eine Provinz nach der anderen unterworfen. Eine enorme Anspannung lag in der Luft. In der Nacht war kaum noch an Schlaf zu denken. Der Gründer einer Hilfsorganisation für Afghanen, die aus Europa abgeschoben worden waren, schickte einen Mitarbeiter los, um Geld abzuheben. Eine Kollegin gab einem britischen Journalisten gerade ein Live-Interview, als gegen elf Uhr ein Freund anrief: "Bist du im Büro? Die Taliban sind in der Stadt." Dann brach Panik aus. Ghafoor alarmierte Freunde, Bekannte, Mitarbeiter und simste seinen Freunden in Deutschland: "Jetzt sind sie da!"
Bist du im Büro? Die Taliban sind in der Stadt."
Ein Jahr später sitzt er im Hof eines Wiener Hotels, äußerlich gefasst, innerlich immer noch seltsam fassungslos, wie er sagt, dass er jetzt in Deutschland lebt, bloß weil er es am entscheidenden Tag zum internationalen Flughafen in Kabul und in eine Militärmaschine geschafft habe. Es sei "wie im Film gewesen", sagt er. Alles hetzte und keuchte durch die Straßen, hupte, schrie, winkte nach Taxis. An diesem 15. August hielt kaum eines an.
Der damals 35-jährige Afghane hatte wenige Tage zuvor alle Papiere und Computerdokumente vernichtet, die keinesfalls in die Hände der Taliban fallen durften. Heimreisezertifikate von abgeschobenen Landsleuten, die in Europa vergeblich um Asyl angesucht hatten, vertrauliche Informationen über ihre Familienverhältnisse, Krankheiten und Fluchtgründe. Nun steckte er den Laptop in den Rucksack, packte einen Koffer, den er später zurückließ, weil er in den Menschenmassen damit nicht vorwärtskam, und las die Nachrichten aus Deutschland.
In ihm habe sich damals einiges dagegen gesträubt, gerettet zu werden. Ein Funken Hoffnung, die Taliban würden vor Kabul Halt machen, sei dabei gewesen. Eine große Portion Verleugnung. Auch Abstumpfung. Ghafoor sagt, er habe sich im Lauf der Jahre an das "Baff!", "Baff!" der Selbstmordattentate und Bombenanschläge gewöhnt. Sein Büro lag im sechsten Stock. Manchmal habe er von oben ein paar Fotos gemacht und weitergearbeitet. Und: Ghafoor wollte Afghanistan nicht mehr verlassen. Nicht noch einmal.
2010 war er aufgebrochen, hatte die unsäglichen Schrecken einer Flucht durchlitten, bevor er in Norwegen einen Asylantrag stellte. Er wurde abgelehnt. Drei Jahre später saß er im Abschiebeflieger zurück nach Kabul. Er habe hier niemanden gekannt, erzählt er im profil-Gespräch. Seine Familie, die zur unterdrückten Minderheit der Hazara zählte, war vor langer Zeit nach Pakistan geflohen. Inzwischen sind seine Eltern gestorben, seine Geschwister leben in Australien und Kanada.
Ghafoor war nicht der Einzige, der in diesen Jahren in Kabul landete, ohne jeden Plan, wie es weitergehen könnte. In Pakistan hatte er einen Blog gegründet. Nun wollte er wieder schreiben. Er setzte sich in ein Café, notierte, was er bei seiner eigenen Abschiebung erlebt hatte, und fing alsbald an, auch die Erlebnisse anderer Afghanen zu protokollieren. Kaum jemand habe sich dafür interessiert, wie es mit seinen aus Europa abgeschobenen Landsleuten weiterging, sagt er.
Auf seinem Blog machte er ihre Geschichten öffentlich. Ghafoor schrieb über einen 17-Jährigen, der sich vom Iran anheuern ließ und in den Krieg nach Syrien geschickt wurde; über eine Familie mit einem kleinen Buben, der eine Woche durchweinte, weil er nicht mehr Fußball spielen konnte. Zu viele, die in Kabul aus dem Abschiebeflieger stiegen, seien tätowiert, zum Christentum konvertiert, homosexuell oder zu "verwestlicht" gewesen, Freiwild in den Augen der Taliban, Opfer von IS-Rekrutierern und kriminellen Banden. Oft verstießen sie ihre eigenen Familien.
2014 gründete Ghafoor die "Afghanistan Migrants Advice &Support Organisation" und sperrte eine Notunterkunft auf. Hier konnten Rückkehrer zur Ruhe kommen, sie erhielten zu essen und Informationen, die ihnen helfen sollten, die folgenden Wochen zu überstehen. Oft habe er Journalisten eingeladen, sich vor Ort ein Bild zu machen. Nur sehr wenige seien interessiert gewesen. Menschenrechtsaktivistinnen, NGOs und Afghanistan-Experten wie die Gutachterin Friederike Stahlmann wurden auf ihn aufmerksam. In Afghanistan geriet er ins Visier der Taliban. Ghafoor lernte, mit Hass-Mails und telefonischen Morddrohungen zu leben.
Bis zu besagtem 15. August 2021. Nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul brachen die Internetdienste zusammen. Für eine Online-Verbindung habe man oft weit gehen müssen. Deshalb habe er die Nachricht der deutschen Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann nicht gleich gesehen. Sie schrieb, Deutschland schicke zwei Flugzeuge, er stehe auf einer Liste. Am nächsten Morgen wälzt er sich mit Abertausenden Richtung Airport Kabul, trifft dort eine Ex-Politikerin und einen "Spiegel"-Journalisten. Das Trio beschließt, zusammenzubleiben. Menschen springen gegen Eingangstore. Hubschrauber versuchen, die Landebahn freizumachen. Zwei Taliban schießen in die Luft und werden von Scharfschützen getötet. Und dann sitzt Ghafoor in einer deutschen Militärmaschine, die um 2.45 Uhr morgens mit sieben Passagieren an Bord abhebt.
An Bord sei er "komplett zusammengebrochen", sagt Ghafoor. Er habe unbeschreibliche Szenen gesehen. In seinem Kopf kreisten Gedanken und Fragen, auf die es keine Antwort gab. "Warum ich?" Er habe sich schuldig gefühlt. Das Flugzeug landete in Taschkent, Usbekistan, nahm tags darauf weitere 200 Passagiere auf und flog weiter nach Deutschland. Heute lebt Abdul Ghafoor in Kassel.
Das vergangene Jahr habe ihm wenig Zeit zum Nachdenken gelassen. Zu viele, die ebenfalls auf Rettung gehofft hatten, waren zurückgeblieben. Ghafoor ließ seine Verbindungen spielen, gab Interviews und verfasste Blogbeiträge. Die Lage in Afghanistan sei "schrecklicher, furchteinflößender und gefährlicher" denn je, sagt er. Menschen würden an Checkpoints erschossen, wenn sie ein falsches Wort sagen. Jeder könne jeden diffamieren und in Lebensgefahr bringen. Frauen würden verschleppt und gefoltert. Es gäbe Entführungen. Quer durch das Land würden Erhängte auf Plätzen zur Schau gestellt und angebliche Straftäter durch Dörfer getrieben. Grässliche Videos machen auf Social Media die Runde. Innerhalb der Taliban brechen Gräben auf. Terrormilizen wie IS und Al Kaida gewinnen an Terrain. Tausende Afghanen versuchen, sich über den Iran oder über Pakistan in Sicherheit zu bringen, Tausende sitzen in der Türkei oder in Griechenland fest, Tausende sind auf dem Weg.
Viele meiner Freunde sind bekannte Journalistinnen und Aktivisten, die sich mindestens so sehr für Menschenrechte und Freiheit eingesetzt haben wie ich. Und sie sind immer noch in Afghanistan."
In Kabul halten zwei Mitstreiter im Untergrund die Stellung, als letzte Zuflucht für abgeschobene Afghanen. Das Büro aufzusperren, wäre lebensgefährlich. Ghafoor ist weit weg-in Sicherheit. Er war in den vergangenen Jahren oft nach Europa gereist, zu Symposien und Vorträgen. Jedes Mal kehrte er zurück, denn er fühlte sich in Kabul gebraucht. Seine Arbeit hatte existenzielles Gewicht. Seine Evakuierung war ein unwahrscheinliches Glück, die Fragen in seinem Kopf rotieren weiter: "Viele meiner Freunde sind bekannte Journalistinnen und Aktivisten, die sich mindestens so sehr für Menschenrechte und Freiheit eingesetzt haben wie ich. Und sie sind immer noch in Afghanistan." Er lerne Deutsch, versuche sich an sein neues Leben zu gewöhnen, doch er komme bis heute damit nicht klar. "Ich bin gerettet, aber meine Seele findet keinen Frieden."
Abdul Ghafoor
Lebt als NGO-Gründer und Blogger im Exil in Deutschland.
2021 entkam er Kabul an Bord einer deutschen Militärmaschine.
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Der eine schaffte es raus, der andere nicht
Zwei Schicksale nach der Machtergreifung der Taliban in Afghanistan vor einem Jahr: ein ehemaliger Soldat, der sich seither versteckt hält, und ein NGO-Gründer, der ausgeflogen wurde.
Lesen Sie hier die Geschichte von Rafeh Safi*, der noch immer in Afghanistan lebt und vor der Machtübernahme gegen die Taliban kämpfte: