Interview

"Ich glaube nicht, dass Xi so mächtig ist, wie man annimmt"

Xi Jinping wurde ein drittes Mal zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas gewählt. Die Sinologin Weigelin-Schwiedrzik erklärt, warum.

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Was hat Xi Jinping, das seine Vorgänger nicht hatten? Warum schafft es gerade er, über eine Dekade hinaus an der Macht zu bleiben?
Weigelin-Schwiedrzik 
Viele Menschen in China, insbesondere Intellektuelle, die von Xi nicht allzu viel halten, meinen, er sei nicht besonders schnell und präzise im Denken, allerdings habe er ein sehr, sehr ausgeprägtes Gefühl für Macht und für die Ausbalancierung unterschiedlicher Machtinteressen innerhalb der Führungsgremien seiner Partei. Das ist auch das Wesentliche, was die Partei an ihm schätzt. Es gibt gerade in letzter Zeit auch starke Kritik an den Entscheidungen der jüngsten Zeit, etwa an der Wirtschaftspolitik. Aber die Elite wählt ihn trotzdem, weil er ihrer Meinung nach über die Fähigkeit verfügt, diese Partei so zu leiten, dass es zu keinen größeren Problemen in China kommt.
Man muss in China nicht vom Volk geliebt werden, um an der Spitze des Staates zu stehen. Aber können Sie ungefähr abschätzen, wie das Volk über Xi denkt?
Weigelin-Schwiedrzik
Wie das Volk über die jeweilige politische Führung denkt, wage ich auch nach 40 Jahren Auseinandersetzung mit China nicht zu sagen. Keinen blassen Schimmer. Ich kann allerdings relativ ausführlich darüber berichten, welcher Meinung die Eliten sind, also die Leute, die sich aktiv an der politischen Auseinandersetzung beteiligen. Und diese politische Auseinandersetzung ist in den letzten zwölf Monaten sehr kontrovers gewesen.

Susanne Weigelin-Schwiedrzik, 67, ist Sinologin und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Gegen welche Strömung muss sich Xi durchsetzen?
Weigelin-Schwiedrzik
Es gibt eine Richtung innerhalb der Partei, die für eine liberalere Öffnungspolitik steht. Xi hingegen vertritt eine Politik, die davon ausgeht, dass sich das Land auf einen Krieg vorbereiten muss. Ich sage aber ausdrücklich, dass damit nicht gemeint ist, dass er vorhabe, einen Krieg zu beginnen, sondern dass er vielmehr der Meinung ist, dass mittelfristig eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen den USA und China drohe.
Im Moment spricht man von einem Wirtschaftskrieg. Die USA versuchen, China im High-Tech-Bereich abzukoppeln.
Weigelin-Schwiedrzik
Die wirtschaftliche Komponente dieser Auseinandersetzung ist sehr stark ausgeprägt. Früher hat man gesagt, dass China und die USA nicht gegeneinander Krieg führen könnten, weil sie auf wirtschaftlicher Ebene wie siamesische Zwillinge miteinander verbunden seien. Nun scheinen beide Seiten zu versuchen, diesen Prozess rückgängig zu machen, damit sie unter Umständen eben doch in der Lage sind, gegeneinander Krieg zu führen.
Unter Xi scheint eine Aussöhnung Chinas mit der liberalen Weltordnung nicht möglich.
Weigelin-Schwiedrzik
Also das sehe ich nicht ganz so! Zum einen gibt es in China immer noch starke Kräfte, die sagen: ‚Wenn wir nicht mit Amerika und Europa wirtschaftlich zusammenarbeiten, werden wir unser Ziel, reich und stark zu werden, nie erreichen.‘ Und diese Kräfte wollen die Politik gemäß der Parole „Reform und Öffnung“ weiterführen. Das ist die eine Gruppe. Und die andere Gruppe, die Xi als seine Unterstützergruppe betrachtet, ist der Meinung, dass man die beiden Wirtschaften USA und China entkoppeln müsse.
Wie repressiv wurde China unter Xi?
Weigelin-Schwiedrzik
Als ich im Jahr 2002 in Schanghai war, rief ich eine Freundin an und fragte: „Wo können wir uns treffen?“ Sie lud mich ein, zu ihr nach Hause zu kommen und auch gleich bei ihr zu übernachten. So könnten wir uns unterhalten, solange wir wollten. Das wäre jetzt absolut unmöglich. Eine Chinesin, die mich beherbergt, würde sofort befragt. Jeder in China, der abweichende Meinungen vertritt, die über den Rahmen des innerparteilichen Diskurses hinausgehen, wird genau überprüft. Der Sicherheitsdienst kommt „zum Tee trinken“ vorbei. Auch die Partei wurde unter dem Deckmantel der Korruptionsbekämpfung gesäubert.
Wie kann man sich das vorstellen?
Weigelin-Schwiedrzik
Wenn etwa jemand, der sehr weit oben in der Partei steht, unter „Korruptionsverdacht“ gerät, also von der Säuberung betroffen ist, so betrifft das sein gesamtes Netzwerk. Er selbst wird vor Gericht gestellt und zu einer Gefängnisstrafe, oder im schlimmsten Fall zum Tod verurteilt, und etwa 500 Leute, die zu seinem Netzwerk gehören, werden auch von ihren Posten entfernt. Es sind also Millionen von Menschen in China direkt oder indirekt von dieser Anti-Korruptions-Kampagne betroffen.
Xis Vater war in den 1970-er Jahren selbst von der Säuberung betroffen, und auch Xi selbst musste damals zur Umerziehung in ärmsten Verhältnissen am Land leben. Wie kann man psychologisch erklären, dass er selbst diese repressiven Mittel anwendet?
Weigelin-Schwiedrzik
Ich weiß nicht, ob man es psychologisch erklären kann, aber vielleicht kann ich es politisch erklären. Während der Kulturrevolution ging die Verfolgung der Menschen nicht vom Staat oder der Polizei aus, sondern von den Leuten, die sich als Rote Garden organisiert hatten. Die Menschen waren gegeneinander aufgehetzt. Jetzt hingegen ist es ein offizielles Kontrollgremium der Partei, das feststellt, der Genosse X sei korrupt. Dann wird von der Partei alles Material gegen ihn gesammelt und den Gerichten übergeben. Mit anderen Worten: Alles geht seinen sozialistischen Gang.
Wie lange wird Xi an der Macht bleiben?
Weigelin-Schwiedrzik
Viele Kollegen in den USA meinen, er sei jetzt sehr mächtig und werde noch härter durchgreifen. Und wenn er jetzt das dritte Mal gewählt wird, könne er auch ein viertes Mal gewählt werden. Ich bin da etwas zurückhaltender. Ich glaube nicht, dass Xi so mächtig ist, wie man annimmt. Er könnte auch bald mal aufs Altenteil abgeschoben werden.
Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur