"Ich habe mich mit österreichischen Bundeskanzlern manchmal in Massenschlägereien verwickelt"
Interview: Siobhán Geets
Abstand halten, das fällt Jean-Claude Juncker schwer. Als Präsident der Europäischen Kommission herzte er Regierungschefs, küsste Glatzen und begrüßte den ein oder anderen mit einem Klaps auf den Hinterkopf. Im vergangenen November endete seine Amtszeit, doch Juncker sitzt auch an diesem grauen Mittwochnachmittag im Berlaymont in Brüssel. Der Luxemburger empfängt Journalisten in seinem Büro im achten Stock des Hauptquartiers der EU-Kommission.
profil: Herr Juncker, in Ihrer Amtszeit als Präsident der EU-Kommission fielen Sie unter anderem durch Ihre herzlichen Begrüßungsgesten auf. Wann haben Sie, abgesehen von Ihrer Familie, das letzte Mal jemanden umarmt oder geküsst?
Juncker: Unabhängig davon, dass Teile dieser Auskunft unter der Rubrik Amtsgeheimnis einzuordnen sind: schon lange nicht mehr. Ich vermisse das sehr. Ich mag Menschen. Sie zu berühren, zu herzen – die, die ich mag, manchmal auch andere – das ist für mich der direkte Weg zu ihnen. Ich habe heute Mittag mit einigen Kommissaren gegessen und musste sie begrüßen, wie man das in Asien macht.
profil: Es geht auch mit dem Ellenbogen.
Juncker: Wenn mir jemand seinen Ellenbogen unter die Nase reibt, dann wehre ich den ab! Diese Zeit ist nicht meine Zeit, weil die Körpersprache wegfällt. Wer nicht mit dem Körper redet, der redet nur halb. Ich bin froh, wenn das alles vorbei ist. Ob es jemals vorbei sein wird, weiß man noch nicht. In den 75 Tagen, in denen wir in Luxemburg eingesperrt waren – ich war in 45 Jahren noch nie so viel mit meiner Frau zusammen, es ging trotzdem gut – kam ich mir vor wie jemand, der nicht zeigen konnte, was er zeigen wollte. Ich habe das Haus kaum verlassen, denn die Luxemburger erkennen mich trotz Maske. Zuerst dachte ich: Eine schöne Zeit, kein Schwein kennt mich, aber doch: Sie stürzten auf mich zu. Aber ich wusste: Genau das darfst du jetzt nicht. Du darfst Menschen, die dich liebevoll begrüßen, aber nicht zurückweisen.
profil: Was haben Sie stattdessen getan?
Juncker: Ich habe gesagt: Stopp. Ich war ein überzeugter Maskenträger. Ich habe mich an die Empfehlung der Regierung gehalten und bin nicht ohne Maske aus dem Haus gegangen, weil ich zeigen wollte, dass die Regel für alle gilt.
profil: Kaum war Ihre Amtszeit zu Ende, wurde die EU von einer der größten Krisen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs überrollt. Mit Krisen kennen Sie sich aus. Haben wir dieses Mal alles richtiggemacht?
Juncker: Wenn man sich mit einer größeren Krise auseinandersetzen muss, kann man nicht alles richtig machen. Keine Regierung hat alles richtig gemacht, aber viele Regierungen haben das Notwendige nicht falsch gemacht. Tatsache ist, dass die Europäische Kommission in Fragen der öffentlichen Gesundheit keine Kompetenzen hat.
profil: Warum eigentlich nicht?
Juncker: Es ist nicht so, dass kein Versuch unternommen wurde, ihr diese zu geben: Bei den Vorbereitungen zum Verfassungsvertrag 2003/2004 hat die luxemburgische Regierung eine Kompetenzerweiterung der Europäischen Union in Richtung öffentlicher Gesundheit vorgeschlagen. Das wurde von drei Viertel der Regierungen abgeblockt, vornehmlich von jenen, die jetzt lauthals nach mehr europäischem Zusammenhalt schreien. Deshalb war der Handlungsbezugsrahmen ein nationaler Rahmen, denn es gab ja keinen europäischen. Jeder hat sein eigenes Corona-Süppchen gekocht. Das hat zu Verwerfungen geführt: Es gab zum Teil überflüssige Grenzschließungen und erstaunliche, strikt nationale Reflexe, wenn es um den Export von medizinischem Material ging. Ich habe in vielen Gesprächen festgestellt – man telefoniert ja jetzt viel und küsst sich nur noch am Telefon –, dass viele Menschen erkannt haben, dass der Hinweis auf die Wichtigkeit offener Verkehrswege in der EU kein Märchen war. Viele, vor allem in den Grenzregionen, haben gemerkt, dass es an Europa gemangelt hat. Es gab auch Solidaritätsbekundungen. Patienten aus Ostfrankreich wurden in deutschen Spitälern behandelt. Viele Menschen merken: Ohne Europa geht es nicht. Der Nationalstaat gerät außer Atem, wenn das Tempo schneller wird. Daher denke ich, dass wir in dieser Krise bessere Europäer geworden sind.
profil: Die Corona-Krise hat aber zuerst einmal die Schwächen der EU offengelegt: Von bewaffneten Polizisten bewachte Grenzen, das Zurückhalten von medizinischen Produkten…
Juncker: Das ist nicht die EU. Das sind die Mitgliedstaaten.
profil: Aber die EU, das sind ja die Mitgliedstaaten.
Juncker: Ja ja. Wann immer man sagt: Die EU hat versagt, höre ich schon im Hinterkopf: Die Kommission hat versagt.
profil: Ich spreche von der Union als Ganzes. Deren Schwächen sind zutrage getreten, etwa die Abhängigkeit von China …
Juncker: Abhängigkeiten sind keine Schwächen. Sie sind gewollt oder geduldet. Abhängigkeiten gegenüber China waren nicht gewollt, wurden aber massiv, sehr oft aus egoistischen, nationalökonomischen Gründen, betrieben. Das Resultat haben wir in dieser Krise gesehen. Ich war über viele Jahre ein ausgesprochener China-Freund. Ich habe hier in Brüssel viele Gipfel mit dem chinesischen Präsidenten geführt. Einmal sagte ich zu dessen Ärger: Wir sind Partner, aber wir sind auch Rivalen. Dann haben wir unter meiner Schirmherrschaft Mechanismen zur Investitionsüberprüfung ausgearbeitet, die vor allem auf China abzielten. Viele Mitgliedstaaten versuchten, bilaterale Vereinbarungen mit China unterhalb der Linie, die die EU festgelegt hat, abzuschließen. Viele dachten: Wenn ich mit den Chinesen ein Geschäft hinkriege, ist mir Europa egal. Die sitzen jetzt im Sud, den sie sich zusammengebraut haben.
profil: Wie kann dieses Auseinanderdriften der Mitgliedstaaten bekämpft werden?
Juncker: Die EU muss ihre Fähigkeit, Weltpolitik zu betreiben, verbreitern und vergrößern. Es ist öfter passiert, dass wir nicht imstande waren, die Menschenrechtslage in China zu verurteilen. Wieso nicht? Weil die Chinesen dabei waren, mit einzelnen Mitgliedstaaten Sondergeschäfte abzuschließen. Die Chinesen haben in den Hafen von Piräus investiert – das hätten die Europäer auch tun können. Es braucht auch in Fällen der europäischen Außenpolitik ein Mehr an Entscheidungen, die mit qualifizierter Mehrheit gefällt werden können. Regierungen reagieren darauf sehr allergisch, weil es eingebildete Souveränitätsreste gibt, die man nicht so einfach aufgeben will. Es mangelt Europa an Selbstvertrauen und an deutlichem Verlautbarungswillen nach Außen, weil wir nicht weltpolitikfähig sind – noch nicht.
profil: Ist das der nächste große Integrationsschritt: Eine gemeinsame Außenpolitik, die diesen Namen verdient?
Juncker: Angesichts der internationalen Herausforderungen, angesichts der Tatsache, dass frühere Verbündete wie die USA zwar noch Verbündete sind, sich aber Europa gegenüber mit einer Geste der kalten Schulter nähern, ist es dringend geboten, dass wir in der Außenpolitik zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen kommen.
profil: Kommen wir zu Österreich…
Juncker: Da fahre ich im August hin, nämlich zum Stanglwirt nach Gols.
profil: Wie jedes Jahr.
Juncker: Ich bin wie alle Rentner ferienmäßig unverrückbar verortbar. Ich hoffe, dass ich hinfahren kann, denn wenn die Regierung die Pandemie in Luxemburg nicht in den Griff kriegt, dann werden die Luxemburger ihre Ferien wohl zuhause verbringen. Die Regierung hat bislang alles gut gemacht, aber jetzt geht es nicht in die richtige Richtung. Aber das ist Provinzkram.
profil: Apropos Provinz: Ischgl gilt ja als Wuhan Europas. Hat Tirol durch das Missmanagement in Ischgl für Sie an Charme verloren?
Juncker: Nein. Es gibt immer wieder Brennpunkte in Europa, das zieht sich durch alle Länder, wo die Infektionen nach oben gehen. Das hat aber mein Bild von Tirol oder von Österreich keinen Millimeter verändert.
profil: Österreich hat bei den „sparsamen Vier“ eine neue Rolle gefunden. Steht sie unserem Bundeskanzler Sebastian Kurz?
Juncker: Ich kommentiere vorgetragene Überzeugungen oder Attitüden nie ad personam. Österreich war in den letzten Jahren, nicht erst seit Kurz, ein Europa zugewandtes, positiv gesinntes Mitgliedsland. Aber während der Flüchtlingskrise hat ein Reflex um sich gegriffen, der erkennen ließ, dass man sich der eigenen Verantwortung gerne dadurch entledigt, indem man europäische Verantwortung in den Mittelpunkt aller Überlegungen stellt. Ich habe mich diesbezüglich mit den österreichischen Bundeskanzlern manchmal in Massenschlägereien verwickelt.
profil: Wie das?
Juncker: Weil ich die Schließung der Balkanroute, die es ja nie gab, als Antwort auf die Flüchtlingskrise als einen nicht-europäischen und vornehmlich anti-deutschen Reflex bewertet habe. Es ist nicht wahr, was in Österreich dauernd erzählt wurde: dass Merkel die Grenzen geöffnet hat – nein, sie hat die Grenzen nicht geschlossen. Das ist ein Riesenunterschied. Wenn sie das nicht getan hätte, dann wären Ungarn und Österreich mit Problemen konfrontiert gewesen. Merkel hat das verhindert. Die dumpfe Art und Weise, wie die deutsche Bundeskanzlerin in Österreich von fast allen politischen Lagern kritisiert wurde hat mich massiv gestört. So geht es nicht! Man darf nicht den kritisieren, der einem bei der Problembehebung hilft. Und ihn verantwortlich machen für das Problem, mit dem er ursächlich nichts zu tun hat.
profil: Noch einmal zurück zu den sparsamen Vier – oder wie Sie sagen, den geizigen Vier…
Juncker: Habe ich das gesagt? Es war wahrscheinlich richtig.
profil: Sind die Österreicher zu spießigen Kleinkrämern geworden oder ist Sebastian Kurz in die Fußstapfen von Wolfgang Schüssel getreten, den Sie ja gut kennen?
Juncker: Ich glaube nicht, dass Schüssel so war wie Kurz jetzt ist, aber das ist eine Überlegung außerhalb des Mitzuteilenden. Ich habe Verständnis dafür, dass man in Österreich, wie auch in anderen Ländern, den Bestimmungsort der europäischen Solidaritätsgelder gerne millimetergenau kennen würde. Das halte ich nicht für ein unverschämtes Ansinnen, sondern für die Haltung, die jene einnehmen müssen, die den Gebrauch und Verbrauch von Steuergeldern zu verantworten haben. Ich habe es nie gemocht, das weiß mein Freund Sebastian Kurz auch, dass Österreich sagt: Der europäische Haushalt darf nicht mit zusätzlichen Geldüberweisungen nach Brüssel verbunden sein. Alles Geld, das nach Brüssel fließt, kommt ja nicht Brüssel zugute, sondern fließt in die Mitgliedsländer. Die Idee, dass es einen zentralen, überbürokratisierten, dinosaurier-artigen Vielfraß gibt, der uns die Butter vom Brot nimmt, stimmt nicht. Ich halte es für gut, dass man darauf achtet, dass das Geld richtig zur Anwendung kommt. Dass man, angesichts der Krisenhaftigkeit der internationalen Politik und auch der innereuropäischen Irrungen und Wirrungen denkt, Europa bräuchte nicht mehr Geld, ist ein grober Fehler – denn wir brauchen mehr Geld für die Erasmus-Programme, für Forschung, für Verteidigung, Umwelt, Klimaschutz. Zu sagen: Aber wir in Wien sind der Meinung, mit einem Prozent ist der Sache genüge getan, mag in Österreich für Beifall sorgen. Ich halte es aber für einen groben Fehler, wenn es um europäische Zukunftsgestaltung geht. Die „vier Sparsamen“ - was für ein prätentiöser Ausdruck, als ob die anderen Geldverschwender wären! Ich bin wenig beeindruckt von der Sparsamkeit der Betroffenen.
profil: Zurück zur Flüchtlingsproblematik. profil hat vor kurzem getitelt: "Europas Schande" …
Juncker: Die Schande der Mitgliedstaaten der Europäischen Union!
profil: Nun, der Titel war: "Europas Schande" …
Juncker: Alle Schlagzeilen sind falsch!
profil: Es ging um die Lage an den Außengrenzen Europas und den Umgang mit Asylsuchenden. Teilen Sie diese Einschätzung?
Juncker: Ich teile diese Einschätzung überhaupt nicht. Es ist journalistisches Machwerk, zu sagen, die Europäische Union hätte versagt. Ich habe vorletztes Jahr vorgeschlagen, dass wir den Schutz der Außengrenzen ernst nehmen und die Zahl der Grenzschützer massiv in Richtung 10.000 erhöhen. Die einzigen, die uns dabei unterstützt haben, waren die Österreicher und Kanzler Kurz. Alle schreien nach einer stärkeren Überwachung der EU-Außengrenzen. Aus gutem Grund, manchmal auch aus weniger gutem Grund, weil sie Europa zu einer Festung machen wollen, was nicht meiner Sicht der Dinge entspricht. Die Kommission hat im Frühjahr 2015 ein komplettes Asylpaket vorgelegt, das wurde bis heute nicht verabschiedet. Nein, nicht die EU hat versagt und nicht Europa, denn Europa hat hunderttausenden Menschen Asyl gewährt, sondern die Mitgliedstaaten haben versagt.
profil: Sie haben sich immer gegen die Rechten eingesetzt, auch aus persönlichen Gründen. Ihr Vater wurde im Zweiten Weltkrieg für die Wehrmacht zwangsrekrutiert und an der Ostfront schwer verwundet. Warum gewinnen die Rechten Europas in den letzten Jahren dermaßen dazu?
Juncker: Die EU findet in allen Umfragen – seit dem Brexit noch mehr – große Zustimmung, weil die Menschen spüren, dass die Nationalstaaten alleine nicht in der Lage sind, die Probleme zu bewältigen. Fragt man die Menschen: Sind Sie dafür, dass Europa größere Verantwortung übernehmen sollte, dann ist der spontane Reflex, vor allem in kleineren Mitgliedstaaten: Ja, Europa soll sich kümmern. Wenn man das national subdividiert, sieht das Bild manchmal anders aus, weil man die Fragen nicht kennt, die dort gestellt werden. Die Wahlergebnisse tendieren manchmal in Richtung Populisten und Vereinfachern. Auch in Österreich war das so. Die FPÖ hatte zu ihren Hochzeiten beeindruckende Wahlergebnisse. War das nur wegen Europa oder war das auch wegen ungelösten Problemen in Österreich selbst? Ist ein Votum für die AfD in Deutschland eines exklusiv gegen die EU oder hat das auch mit Problemen in Deutschland zu tun? Marine Le Pen wird in Frankreich gewählt – aber nicht, weil alle ihre Wähler Faschisten wären oder Anti-Europäer.
profil: Warum dann?
Juncker: Weil es in Frankreich eine Debatte zwischen der Elite und "La France d’en bas" gibt, also den unteren Schichten. Populisten und Europa-Gegner sind, von ihren Wahlergebnissen her, nicht nur so zu analysieren, als ob das nur Europagegner wären. Dies ist die Zeit der stupiden plumpen Vereinfachungen. Deswegen lese ich Soziale Medien nicht. Mir wurde berichtet, was da tendenziell los war, aber jeden Tag zu erfahren, dass ich korrupt bin, dass ich ein Säufer bin und ein Hurenbock, finde ich nicht notwendig – und es stimmt ja nicht alles davon.
profil: Machen es sich Politiker zu leicht, indem sie den Leuten nach dem Mund reden und sie nicht mit vielleicht bitteren Wahrheiten konfrontieren?
Juncker: Von mir gibt es einen Satz, den man nicht oft genug wiederholen kann: dass man sich den Wählern manchmal in den Weg stellen muss. Denn wer den Wählern nachläuft, der sieht sie immer nur von hinten, und daraus ergibt sich kein Gespräch. Zur Politik und zum Führenwollen gehört, dass man dem Volk wohl aufs Maul schauen muss, aber nicht nach dem Maul reden darf. Wenn man denkt, das Volk hat Recht – das Volk gibt es in dem Sinne ja überhaupt nicht -, dann darf man durchaus wiederholen, was da Mehrheitsmeinung ist. Wenn man der Meinung ist, dass die Mehrheit sich irrt, dann muss man ihr entgegentreten – sonst braucht man keine Politik zu machen, dann kann man das anderen überlassen.
profil: Wenn man als europäischer Politiker durch die Welt zieht, hat man in seiner Waagschale einen Binnenmarkt mit 440 Millionen Menschen – und unsere Werte. Die Regierungen in Ländern wie Ungarn und Polen sägen aber daran. Schwächt das die europäische Verhandlungsposition in der Welt?
Juncker: Nein. Die EU genießt Anerkennung in der Welt, weil sie auf einem strikten Wertekanon fußt, der nicht aufgekündigt wurde, obwohl sich Ungarn und Polen und manchmal auch andere alle möglichen Freiheiten herausnehmen. Trotzdem sorgt mich dieses Abdriften vom europäischen Wertekanon sehr, weil es zu der bestimmten Idee, die ich von Europa habe gehört, dass wir intern und nach außen für diese Werte eintreten. Ich habe es nie gemocht, dass man Europa nur als Wirtschaftsraum begriff. Europa ist eine Verpflichtung, die der Kontinent sich selbst auferlegt hat aufgrund schlimmer historischer Vorgänge, die noch nicht lange her sind. Ich verzweifele manchmal daran, wenn ich mit Menschen über den Balkan rede. Man hat vergessen, dass das vor 20 Jahren war – Vergewaltigung, Massenmord, Vertreibung. Auch der Zweite Weltkrieg ist nicht so lange her. Es gibt von Bertolt Brecht den schönen Satz: "Fruchtbar ist der Schoß noch". Man muss Geschichte und ihre Wiederholbarkeit sehr ernst nehmen. Auch in Afrika und Asien wird Europa bewundert aufgrund unserer zäsurhaften Gesamtleistung: Nie mehr Krieg! – dieser Satz ist aufgegangen.
profil: Sie sprechen von europäischen Werten, aber in der Flüchtlingspolitik findet man die nicht. Die EU ist zur Festung geworden, Menschen werden illegal in nicht-EU-Gewässer zurückgedrängt. Diese "Push-backs" verletzen das Völkerrecht, weil die Menschen keinen Asylantrag stellen können.
Juncker: Es ist ja nicht so, dass alle Mitgliedstaaten das gemacht hätten. Es gab einige, die verhindert haben, dass es einvernehmliche Lösungsansätze in der EU gibt. Man kann nicht die EU als solche haftbar machen für derartige Verirrungen. Was soll denn das? Dass man sagt: die EU! Man kann sagen, die EU und Österreich.
profil: Österreich hat in der Flüchtlingskrise 2015 sehr viele Menschen aufgenommen …
Juncker: Ich bin ausgesprochener Österreich-Freund. Die Menschen in Tirol, auch die Kurz- und die FPÖ-Wähler, äußern sich nicht deckungsgleich mit dem extrem rechten Rand der österreichischen Gesellschaft. Man braucht eine nuancierte Betrachtung. Als gestandener Christdemokrat bin ich der einzige, der noch Lenin zitieren darf, und Lenin hat gesagt, man muss die Dinge hinter den Dingen sehen.
profil: Ist das der Grund, warum die EVP jene Parteien, die nach rechts abdriften, im Club hält?
Juncker: Die Kritik mag die EVP treffen, aber mich nicht. Seit drei Jahren plädiere ich intensiv dafür, dass man die ungarische Fidesz aus der Europäischen Volkspartei ausgliedert, weil ich zwischen Viktor Orbán und mir keine großen Schnittmengen sehe. Das gilt auch für die Forza Italia. Aber die möchte ich nicht ausschließen, sondern reformieren. Ich habe gelesen, Cohn-Bendit habe erklärt, Juncker ist der sozialdemokratischste aller Christdemokraten – so ist das wohl.
profil: In Großbritannien hat das Narrativ des gescheiterten Europas schwere Folgen. Die Briten haben für den Brexit gestimmt …
Juncker: Sie nehmen das Wort Europa mit einer Leichtigkeit in den Mund!
profil: Nicht ich, sondern die konservativen Tories, die gesagt haben: Die EU ist an allem Schuld.
Juncker: Aja. Sie reden doch nicht so wie die Tories!
profil: Nein, das ist mir nicht vorzuwerfen. Aber es ist viel auf Europa geschoben worden. Kann die deutsche Ratspräsidentschaft, von der viel erwartet wird, noch etwas unternehmen, um den harten Brexit Ende des Jahres abzuwenden?
Juncker: Mein Freund Michel Barnier, den ich zum Chefunterhändler gemacht hatte, gibt mir den Eindruck, dass sich die britische Regierung sehr zielstrebig in Richtung No-Deal bewegt. Das ist letztendlich eine Entscheidung der Briten. Mich hat Ergebnis des Referendums nicht überrascht. Ich habe hier im Haus Wetten abgeschlossen, etwa mit meinem britischen Kommissionskollegen. Alle waren überzeugt, auch der britische Premier Cameron, mit dem ich damals viel verhandelt habe, dass wir dieses Referendum gewinnen. Ich habe immer gesagt: Das gewinnen das nie. Wenn man mehr als 40 Jahre nur schlecht über Europa redet, dann darf man sich nicht wundern, dass es so kommt. Die Briten, querfeldein durch alle Parteien, Major, Blair, ich habe viele erlebt, für die war Wirtschaft immer das Wichtige. Über den Rest wurde in Großbritannien nur negativ berichtet. Die Briten waren nur für den Binnenmarkt. Sie waren begeisterte Anhänger der Erweiterung nach Ost- und Mitteleuropa – aus Marktgründen.
profil: Ob als Finanzminister und Premier Luxemburgs, als Chef der Eurogruppe oder EU-Kommissionschef: Sie haben die europäische Integration stets vorangetrieben. Was würden Sie heute anders machen?
Juncker: Ich habe es unterlassen, andere darauf aufmerksam zu machen, sich etwas genauer mit den sehr unterschiedlichen Befindlichkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten zu beschäftigen. Wir wissen nicht genug übereinander – das ist eine Gefahr, der man in der Kommission immer wieder entgegentreten müsste. Wir tun in Brüssel so, als ob wir alles wüssten. Was wissen denn die Europäer übereinander? Was wissen die Nordlappen über Südsizilianer? Was wussten die Schotten über die Flamen, die Niederländer über die Slowenen? Nichts! Wir versuchen, gemeinsame Regeln festzulegen, ohne die Befindlichkeit vor Ort genau unter die Lupe zu nehmen. Ich hatte mich über Jahre drei, vier Stunden am Tag nur mit der innenpolitischen und der gesellschaftlichen Lage in den verschiedenen Mitgliedstaaten beschäftigt – sehr zur Verzweiflung meiner Kabinettsmitglieder, die dauernd über Sofortiges und Gestern-schon-zu-Erledigendes sprechen wollten. Wenn ich dann gesagt habe, nein, nicht jetzt, ich lese jetzt hier, was in Lettland los ist, haben die das akzeptiert, aber eigentlich haben sie nie begriffen, dass man sich genau informieren muss.
profil: Worüber haben Sie sich informiert – und wie?
Juncker: Während der Griechenland-Krise habe ich mir in Telefonaten mit Griechen vor Ort erzählen lassen, wie es in den Straßen von Athen oder Thessaloniki aussieht. Sind die Apotheken korrekt vom europäischen Medikamentenexporteuren beliefert worden und kriegen die Leute die Medikamente, die ihnen verschrieben wurden? Man muss, aber das geht nicht richtig, Europa "so regieren", wie man ein kleines Land regiert: Man muss alles wissen. In einem kleinen Land ist das möglich. Österreich ist dafür schon viel zu groß.