In der Grauzone
Wenn es doch endlich still sein könnte. Auch an diesem Nachmittag hört Ludmilla Butskaja wieder Gefechtslärm. Nur eineinhalb Kilometer von dem Plattenbau in einem Außenbezirk des Städtchens Mariinka, in dem die alte Frau wohnt, verläuft die Frontlinie zwischen der ukrainischen Armee und prorussischen Einheiten - und das bedeutet ein Leben in Reichweite schwerer Waffen.
Erst vor ein paar Tagen wurde der Wohnblock von einem Geschoss getroffen. Aber das hindert Ludmilla nicht an einem kurzen Schwatz im Hinterhof. Sie setzt sich hin, eine Freundin kommt hinzu, Enkel Denis ist auf Kurzbesuch. Die meisten Nachbarn sind bereits ausgezogen, nur in vier der insgesamt 25 Wohnungen im Gebäude brennt noch Licht. "Krieg ist schlecht“, sagt Ludmilla lapidar.
Mittlerweile zweieinhalb Jahre dauert der Krieg im Osten der Ukraine nun schon. Mit Stand Mitte September beziffern die Vereinten Nationen die Anzahl der Opfer in einem Zwischenbericht mit 9640 Toten und 22.431 Verletzten auf beiden Seiten. Die Zahl der Kriegsvertriebenen innerhalb des Landes wird auf rund 1,7 Millionen Personen geschätzt.
Das Minsk-II-Abkommen - eine 2015 unter Vermittlung von Deutschland, Frankreich, der OSZE und anderen ausgehandelter Friedensvereinbarung - hat den Konflikt zwar eingedämmt, der Zivilbevölkerung aber keine Sicherheit gebracht. Offiziell verbietet es in einer 50-Kilometer-Zone entlang der Front den Einsatz von Artillerie mit Kaliber 100 Millimeter oder mehr. Tatsächlich hält sich keine der Konfliktparteien daran.
Und überhaupt: "Was soll das für ein Waffenstillstand sein, bei dem man mit den Waffen eines Kalibers noch schießen darf, mit den anderen nicht?“, spottet Ludmillas Enkel Denis: "Wenn man getötet wird, kommt es nicht auf die Größe des Kalibers an.“
Das ist der Ukraine-Konflikt heute: Es werden zwar keine großen Schlachten geschlagen wie noch vor zwei Jahren, von Frieden kann aber auch keine Rede sein. Fast täglich kommt es zu Gefechten, fast täglich werden Tote und Verletzte gemeldet. Allein am 3. November registrierte die Beobachtungsmission der OSZE im Raum Donezk über 400 Detonationen. Prorussische und ukrainische Kräfte liefern sich eine Art Stellungskrieg an einer erstarrten Front, die fast 500 Kilometer lang ist.
Das Gebiet in Schussweite der Kampfverbände heißt im gängigen Sprachgebrauch "graue Zone“. Dort befinden sich mehrere Dutzend Dörfer und Städte wie Mariinka. Gebäude und Infrastruktur sind schwer beschädigt, die meisten Bewohner geflüchtet.
Auch um Ludmilla ist es einsam geworden. Nicht nur ihr Wohnblock steht halb leer, auch ihre Heimatstadt ist nahezu entvölkert. Von den rund 10.000 Einwohnern, die Mariinka vor dem Krieg hatte, sind inzwischen rund 8000 geflüchtet. Viele Geschäfte im Stadtzentrum sind geschlossen. Das Polizeigebäude ist stark beschädigt, die Fenster und Türen mit Brettern zugenagelt. Als Bürgermeister amtiert, wie in allen größeren Kommunen in der grauen Zone, seit Monaten ein Militärkommandant.
Menschen, die schon seit zwei Jahren nahe an der Frontlinie wohnen, fühlen sich zusehends an der Grenze der Widerstandsfähigkeit. (Alain Aeschlimann, Leiter der IKRK-Mission)
Die Infrastruktur des Städtchens funktioniert nur noch teilweise. Gas gibt es in der Wohnung von Ludmilla längst nicht mehr, der Strom kostet sie monatlich 2000 Griwna (umgerechnet fast 75 Euro), und damit 500 Griwna mehr, als ihre Pension ausmacht. Nur dank der finanziellen Unterstützung ihrer Tochter kommt die alte Frau mehr schlecht als recht durch.
Aber auch den wenigen Jungen, die noch in der grauen Zone leben, geht es nicht viel besser. Die lokale Industrie und Wirtschaft sind fast vollständig zum Erliegen gekommen; ohne die Hilfsorganisationen, die Lebensmittelmarken verteilen, würde hier Hunger herrschen.
Auch die medizinische Grundversorgung ist weitgehend zusammengebrochen. Das Internationale Rote Kreuz (IKRK) versucht, die geflüchteten Mediziner so gut wie möglich zu ersetzen. Und Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen (MSF) springen in die Bresche.
Im Gespräch mit den Menschen in der grauen Zone fällt auch immer wieder der Name der Rinat-Akhmetov-Stiftung. Seit 2014 unterhält diese eine Hilfsorganisation. Rinat Akhmetov ist ein schwerreicher Unternehmer, geboren in Donezk. Nach eigenen Angaben hat die Stiftung über zehn Millionen Lebensmittelpakete im Konfliktgebiet verteilt.
Unterstützt wird die Not leidende Bevölkerung aber auch mit medizinischer Hilfe und Holzkohle. Letztere ist besonders wichtig, denn die Temperaturen sinken. Eine Frau in Krasnogorovka, einer Kleinstadt einige Kilometer von Netaylove und Mariinka entfernt und ebenfalls nahe der Frontlinie, erzählt, dass die Temperatur in ihrer Küche im Vorjahr um den Nullpunkt lag. "Der Kommandant hier unternimmt nichts. Es ist Winter, und wir wissen nicht, was tun.“
Während Akhmetovs Stiftung und auch das IKRK auf beiden Seiten der Front willkommen sind, wurden MSF und andere NGOs bereits vergangenes Jahr aus den selbst ernannten prorussischen "Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk verbannt.
Dort, wo die ukrainische Regierung das Sagen hat, kann MSF aber weitermachen. In Netaylove, einem Dorf knapp außerhalb der grauen Zone, steht an diesem Tag ein Fahrzeug der Hilfsorganisation - es gehört zu einer mobilen Klinik, die alle zwei Wochen hier Station macht.
Das Team, das heute Netaylove besucht, besteht aus einem Arzt, einer Krankenschwester und einer Psychologin. Durchschnittlich sind 60 Prozent der Patientinnen und Patienten Binnenvertriebene, also Menschen, die aus ihren Dörfern geflohen sind und in Netaylove oder der Umgebung Zuflucht gefunden haben. 38 Kranke, in erster Linie ältere Frauen, werden die MSF-Mediziner heute betreuen. Die meisten werden von chronischen Krankheiten wie Diabetes und erhöhtem Blutdruck geplagt.
"Aufgrund des Krieges gibt es aber auch vielfältige psychische Probleme. Die Menschen schlafen wenig, haben Angst. Auch für die Kinder ist es schwierig, weil sie die Schule wechseln müssen“, erklärt die Psychologin Viktoria Brus.
Psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist vor allem für ältere Menschen zudem nicht einfach - nicht nur, weil sie es gewohnt sind, keine Schwäche zu zeigen, sondern auch, weil Psychologen und Psychiater in UdSSR-Zeiten eine unrühmliche Rolle als Teil des repressiven Sowjetsystems spielten und daher kein Vertrauen in der Bevölkerung genießen.
Die psychologischen Probleme der vom Krieg betroffenen Zivilbevölkerung nehmen stetig zu, sagt auch der Schweizer Alain Aeschlimann, Leiter der IKRK-Mission in der ukrainischen Hauptstadt Kiew: "Menschen, die schon seit zwei Jahren nahe an der Frontlinie wohnen, fühlen sich zusehends an der Grenze der Widerstandsfähigkeit. Auch die Frauen beginnen schon zu trinken.“