Irland: Brexit könnte den Frieden auf der Insel gefährden
Damian McGenity springt von seinem Traktor und hält sich nicht lange mit Formalitäten auf. "Wenn wir nicht in der Zollunion bleiben, wird es hier wieder eine harte Grenze geben", sagt der Bauer. Er zeigt über die grünen Hügel seiner Heimat. McGenity ist Katholik, Nordire und deklarierter Brexit-Gegner. Ein paar Meter südlich seines Kuhstalls verläuft die Grenze zur Republik Irland: "Ich kann mich noch gut an die ständigen Anschläge an den Grenzübergängen erinnern. Ich will nicht, dass meine Kinder so aufwachsen müssen." Es gibt 275 Straßen zwischen Irland und Nordirland. Das sind 275 Verbindungen oder aber 275 Schlagbäume an der Außengrenze der EU. Es wird auf das Ergebnis der Brexit-Verhandlungen ankommen, ob die grüne Grenze die Iren zusammenbringt oder trennt. Entscheidend ist, was in diesen Tagen von nordirischen Politikern in Belfast, der britischen Regierung in London, der irischen Regierung in Dublin und den EU-Staatschefs in Brüssel beschlossen wird. Nordirland ist plötzlich zum Brennpunkt des Brexit-Projekts geworden. Denn hier an der Grenze wird offensichtlich, was die EU ausmacht: Sie ist Wirtschaftsunion und Friedensprojekt zugleich. Beim Europäischen Gipfel am 15. Dezember in Brüssel soll Phase eins der Brexit-Verhandlungen abgeschlossen werden, damit Großbritannien ab Jänner mit der EU in Phase zwei über die künftigen Handelsbeziehungen reden kann. Die Zeit drängt, denn das Vereinigte Königreich will im März 2019 die Europäische Union verlassen. Das betrifft auch Nordirland, denn der nördliche Teil der irischen Insel gehört zum Vereinigten Königreich. Von den drei Themen, die nach Wunsch der EU Phase eins ausmachen, sind zwei fast geklärt: wie viel Geld Großbritannien zur Abgeltung für EU-Verpflichtungen zahlen muss und welche Rechte den drei Millionen EU-Bürgern in Großbritannien nach dem Brexit garantiert werden. Beim dritten Punkt aber spießt es sich: Wie soll Nordirlands Grenze zu Irland nach dem Brexit aussehen?
Waffenstillstand seit 1998
Irland und Großbritannien wollen auch in Zukunft eine offene Grenze. Das ist angesichts der von Gewalt geprägten Geschichte der Region verständlich. Nur nach zähen Verhandlungen konnte der Bürgerkrieg zwischen den gegenüber Großbritannien loyalen Protestanten (Unionisten) und den katholischen Iren (Republikaner) vor 20 Jahren beigelegt werden. Seit der Unabhängigkeit Irlands 1922 hatte der Konflikt geschwelt. Zwischen 1969 und 1998 war er durch die Anschläge paramilitärischer Organisationen (der katholischen IRA und der protestantischen UVF) zu einem blutigen Machtkampf eskaliert. 1998 legten alle Beteiligten die Waffen nieder. Unter dem britischen Premierminister Tony Blair schlossen sie das Belfaster Karfreitagsabkommen. Nur eine nordirische Partei verweigerte die Unterschrift: die Democratic Unionist Party (DUP), eine radikal loyalistische, erzkonservative Bewegung, die vom legendären protestantischen Pastor Ian Paisley gegründet worden war. Den Unionisten war es zuwider, dass Nordirland einen Sonderstatus bekam. Genau das aber wurde im Karfreitagsabkommen geregelt. "Es ist das Geburtsrecht aller Nordiren, sich als Iren oder Briten oder beides zu identifizieren (...) und demnach beide Pässe zu beanspruchen", heißt es darin. Der Friede wurde möglich, weil alle Mitglied in der EU waren. Die Grenzposten wurden abgeschafft, die Wachtürme umgelegt. Es gab für die Irish Republican Army (IRA) keinen Grund mehr, Bomben unter die Bahnbrücken zu legen. Die Grenze zwischen Norden und Süden wurde unsichtbar.
Das könnte sich durch den Brexit ändern. "Die britische Politklasse benimmt sich völlig rücksichtslos", sagt der irische Publizist Fintan O'Toole in Dublin. Leichtfertig setzten die Briten mit ihrem EUAustritt den fragilen Frieden in Nordirland aufs Spiel: "Das Belfaster Abkommen ist die größte diplomatische Errungenschaft seit dem Zweiten Weltkrieg. Gerade das englische Establishment war ein ganz wichtiger und zentraler Teil des Friedensprozesses. Jetzt wirkt es so, als hätten sie einfach vergessen, welche Anstrengungen es gekostet hat, diesen gewalttätigen Konflikt beizulegen." Für die Iren ist der Brexit der Briten ein Alptraum. Die irische Insel liegt westlich des Vereinigten Königreichs jetzt schon recht isoliert vom europäischen Kontinent . Wenn Britannien aus der EU austritt, muss der nördliche Teil der Insel mitziehen -obwohl eine Mehrheit der Nordiren für den Verbleib in der EU stimmte. Irland fürchtet durch den Verlust des immens wichtigen Handelspartners Großbritannien großen wirtschaftlichen Schaden. Schlimm genug, wenn die Außengrenze im irischen Meer zwischen Irland und Großbritannien verlaufen sollte. Politisch desaströs wäre es, sollte der nördliche Inselteil abgetrennt werden. Der irische Premierminister Leo Varadkar hat die EU von Anfang an darauf eingeschworen, die Nordirland-Frage gleich zu Beginn der Brexit-Verhandlungen zu klären. Im Zentrum steht dabei der Wunsch Dublins, den speziellen Status Nordirlands zu erhalten.
Grenzposten könnte neue Gewalt provozieren
De facto heißt das: Nordirland soll in der EU-Zollunion und im EU-Binnenmarkt bleiben, damit es keine Zollbeamten an der Grenze geben muss. Denn ein Grenzposten könnte neue Gewalt provozieren. Ein einziger Anschlag, und Soldaten müssten zur Sicherheit der Beamten stationiert werden. Heute grasen entlang der grünen Grenze irische Kühe. Der einzige erkennbare Unterschied auf der Autobahn zwischen Süden und Norden besteht darin, dass die Iren die Geschwindigkeitsbegrenzung in Kilometern und die Nordiren in Meilen angeben. Kaum vorzustellen, dass hier wieder Gewalt wüten könnte.
Ein Besuch in Belfast reicht, um die fragile Lage zu begreifen. Im protestantischen Bezirk Shankill leuchten frisch gemalte Wandfresken in ehrenvoller Erinnerung an die loyalistischen Kämpfer, die nebenan in der katholischen Falls Road schlicht als Mörder gelten. Umgekehrt haben die britannientreuen Protestanten die unzähligen Attentate der IRA nicht vergessen. Viele Taxifahrer weigern sich bis heute, in den gegnerischen Stadtteil zu fahren, obwohl die Tore in der sogenannten Friedensmauer heute offen bleiben. Zu Zeiten der "Troubles" von 1969 bis 1998 wurden die Durchfahrtstraßen von Freitagabend bis Sonntag einfach geschlossen, damit die vom Feierabend-Bier aufgeputschten Horden nicht aufeinander losgehen konnten.
Auch die politische Klasse steht längst noch nicht über dem Konflikt. Seit einem Jahr gibt es keine Regierung in Stormont, dem Sitz des nordirischen Regionalparlaments. Die Konsensregierung zwischen der katholischen Sinn Féin und der protestantischen DUP brach im Januar zusammen, die Fronten sind verhärtet. DUP-Vorsitzende Arlene Foster, bis dahin First Minister, also Regierungschefin, hat bisher keine neue Regierung zustandegebracht.
DUP als Zünglein an der Waage
Dafür spielt sie neuerdings im britischen Parlament in Westminster eine wichtige Rolle. Seit Theresa May bei vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni 2017 die absolute Mehrheit der Tory-Partei verspielt hat, sind Fosters zehn erzreaktionäre DUP-Abgeordnete in Westminster das Zünglein an der Waage geworden. Ohne die Unterstützung der DUP kann Theresa May politisch nicht überleben.
Die schwache britische Regierungschefin versucht nun, einen Kompromiss mit der widerspenstigen Nordirin zu finden. Die DUP ist dagegen, dass Nordirland einen Sonderstatus bekommt und sich, wie britische und EU-Verhandler geplant hatten, "weiterhin an die EU-Regeln anpasst". Die einzige Chance, die Grenze offenzuhalten, läge darin, dass Nordirland zwar nicht de jure, aber de facto Teil der Zollunion bliebe. Brexit-Minister David Davis deutete am Dienstag der Vorwoche die Möglichkeit an, die fortgesetzte Anpassung an das EU-Regelwerk auf das gesamte Vereinigte Königreich auszuweiten. Die Nordirland-Krise könnte das ganze Land noch Richtung "sanften" Brexit treiben.
Darauf hofft Seán McAuley. "Wir können uns nicht in die dunklen Zeiten der Troubles zurückbewegen", sagt der katholische Bauer, der seinen Hof in vierter Generation betreibt. Neben ihm in der Bar des Dunsilly Hotel, eine halbe Autostunde nördlich von Belfast, sitzt William Taylor und nickt zustimmend. Er ist Protestant. Die beiden haben sich in der Aktivistengruppe Farmers for Action angefreundet. "Der Brexit ist eine Katastrophe für uns alle", sagt Taylor. Zehntausende Arbeitsplätze stünden auf dem Spiel, vor allem in der Landwirtschaft, die enorm von der EU-Agrarpolitik profitiert habe. "Wenn wir den Brexit schon nicht verhindern können, müssen wir uns zumindest für eine möglichst enge Beziehung zur EU einsetzen. Sonst steht der Friede in Nordirland auf dem Spiel."